R. Gruhlich: Geschichtspolitik im Zeichen des Zusammenbruchs

Cover
Titel
Geschichtspolitik im Zeichen des Zusammenbruchs. Die Deutsche Nationalversammlung 1919/20: Revolution – Reich – Nation


Autor(en)
Gruhlich, Rainer
Reihe
Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 160 = Parlament und Öffentlichkeit 3
Erschienen
Düsseldorf 2012: Droste Verlag
Anzahl Seiten
475 S.
Preis
€ 62,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Westermann, Universität Heidelberg

„Die moderne deutsche Geschichte ist eine Zusammenbruchsgeschichte.“ (S. 1) Ausgehend von dieser Prämisse widmet sich Rainer Gruhlich in seiner Tübinger Dissertation der Weimarer Nationalversammlung. Wie wurden dort die bestehenden Geschichtsbilder zu Zwecken der gegenwärtigen Sinnstiftung und Zukunftsorientierung (um)gedeutet? Welche neuen Topoi wurden entworfen? Gruhlich greift dabei hauptsächlich auf die stenographischen Berichte der Nationalversammlung und des Reichstages zurück, ergänzt diese durch ein breites Spektrum weiterer zeitgenössischer Quellen von den Ebenen der Länderparlamente, Parteien, Verbände und Einzelpersonen.

Gruhlich sieht zwar in den Parlamenten zentrale geschichtspolitische „Diskursstätten“ (S. 16), aber er weiß – anknüpfend an das von Edgar Wolfrum entwickelte Konzept der ‚Geschichtspolitik‘ – , dass sich Interessen nicht nur in der politischen Arena manifestieren. Hier liegt eine große Stärke der Arbeit: Das Geflecht aus individueller Meinung wird in Bezug zum politischen Gesamtsystem gesetzt. Die Nationalversammlung erscheint so als Spitze des Eisbergs, unter dessen Oberfläche um Stellungnahmen und Anträge gerungen wurde. Die Debatten dort erscheinen so nicht als Folge abgeschotteter, oktroyierter politischer Verhandlungen. Vielmehr wird deutlich, dass dort die Ergebnisse der komplexen Aushandlungsprozesse der verschiedenen Ebenen vorgetragen wurden und die Nationalversammlung so zum „kommunikativ verdichtete[n] Raum“ (S. 16), wegen ihrer Bedeutung zur geschichtspolitischen „Hauptarena“ (S. 421) wurde. Konkret untersucht Gruhlich die Wortfelder „Revolution“, „Reich“ und „Nation“ und deren Präsentation durch die Redner der Nationalversammlung. Mit diesem Vorgehen betritt Gruhlich Neuland: Zwar wurden bisher schon ähnliche Fragestellungen und die genannten Quellen behandelt; dies geschah aber jeweils auf andere Zuschnitte, auf Querschnittsthemen und Einzelaspekte, etwa Länder-, Parteien- und Personengeschichte, bezogen oder auf Grundlage einer anderen Quellenbasis.1

Die drei einzelnen Wortfelder stellt Gruhlich anhand der dominanten Topoi dar, mit denen der Oberbegriff jeweils gefüllt wird. Zwei Exkurse zur Reichsflagge und zum Begriffspaar Potsdam/Weimar durchbrechen diese Systematik. Dieses Vorgehen ist schlüssig und nachvollziehbar, die Analyse insgesamt mit thematischen Rück- und Ausblicken ausgezeichnet kontextualisiert. Vielleicht wäre es für den Leser von Vorteil gewesen, die Topoi nochmals nach Parteien oder anderen Charakteristika aufzuteilen, um die vielen Redundanzen zu vermeiden und die Erkenntnisse zu pointieren. Dies fällt beim behandelten Gegenstand allerdings schwer: Durch die verschiedenen Argumentationsnuancen der Weimarer Redner lassen sich klar getrennte Topoi nur entlang großer Leitlinien aufstellen; da es viele Schnittpunkte zwischen den einzelnen Mustern gibt, verwischen diese Grenzen in Detailfragen erheblich.

Im Wortfeld der „Revolution“ zeichnet Gruhlich den Kampf der politischen Linken – stark vertreten etwa durch das USPD-Mitglied Oskar Cohn – nach, die die Erfolge der Umbruchzeit 1918/1919 verteidigen wollten. „Nicht geschichtspolitische Anknüpfung an welche Vergangenheit auch immer, sondern zukunftspolitische Sinnstiftung durch den entschiedenen Bruch mit allen Vergangenheiten stand daher im Mittelpunkt der Bemühungen der Linken.“ (S. 146) Konservative Deutungen wie die von Wilhelm Kahl (DVP) setzten dem die Aura von Putsch und Geschichtsbruch entgegen. Die Anknüpfungspunkte blieben das Kaiserreich von 1871 beziehungsweise das Preußen der Reformzeit. Gruhlich schildert hier detailliert die Bandbreite an „Herzensmonarchisten“ vom Schlage eines Arthur Graf von Posadowsky-Wehner (DNVP) bis hin zu „legitimistischen Republikanern“, die mit ihrer Erfahrung aus den Ländern die für das Reich neue Staatsform nicht als befremdlich empfanden. Hier wird direkt im ersten Wortfeld deutlich, wie wichtig die jeweiligen Pluralformen von Topos, Deutung und Geschichtsbild sind.

Dieser Bedarf wird auch im Wortfeld „Reich“ ersichtlich, denn „das mit dem Begriff des ‚Reiches‘ verbundene geschichtspolitische Deutungsspektrum hatte sich durch den Untergang des kleindeutsch-borussischen Machtstaates geweitet“ (S. 288). Gruhlich zeigt dieses Spektrum auf, das sich in seinen Ausprägungen unter anderem in den Aspekten des Föderalismus und Unitarismus, der Rolle Preußens oder der Dichotomie großdeutsch – kleindeutsch unterschied. Gerade der neue Begriff der „Republik“ führte zu vertieften Diskussionen, inwieweit das „alte Reich“ untergegangen sei. Hugo Preuß (DDP) beispielsweise betonte das Traditionsargument des Begriffs „Reich“, den man nicht hätte aufgeben können. Doch statt ihn mit dem Mittelalter zu verbinden, mythisch aufzuladen und national zu verklären, hätte man einen neuen Reichsbegriff entwickeln und etwa an die Revolution von 1848 anbinden können.

Dem gegenüber standen die Entwürfe der Mehrheitssozialdemokraten. Nach Simon Katzenstein oder Max Quark hätte man beispielsweise den Reichsbegriff komplett durch den der „Republik“ ersetzen sollen. Nur so wäre es möglich gewesen, den Obrigkeitsstaat des Kaiserreiches zu überwinden und eine Hinwendung zum „freien Volksstaat“ (S. 161) zu vollziehen. Zentrumsmitglieder betonten dagegen die aus der christlichen Soziallehre abgeleitete Einheit des Staates, die auch Österreich mit einschloss. Der Schwächung Preußens standen die konservativen Redner wie Albrecht Philipp (DNVP) skeptisch gegenüber. Angesichts der notwendigen Verfassungskompromisse versuchte dieser Teil der Nationalversammlung – etwa durch die Installierung eines starken Reichspräsidenten – Strukturen zu schaffen, die eine spätere restaurative Umformung des neuen Staates möglich machte. So erklärt sich das Zustandekommen des Artikels 1 der Weimarer Reichsverfassung, zu dem alternative Formulierungen wie „Volksstaat“, „Deutsche Republik“, „Republik des Deutschen Reichs“, „Vereinigte Staaten von Deutschland“ oder sogar die Wiederbelebung des Begriffs „Deutscher Bund“ diskutiert wurden.

Im dritten und letzten Wortfeld „Nation“ schildert Gruhlich, welche Kraft dieser Begriff auf Geschichtsbilder und Zukunftslegitimationen nach dem Ersten Weltkrieg noch besaß. Entlang der Diskussionslinien des Einbezugs von Minderheiten, Aspekten der Sprach- und Kulturnation sowie des Föderalismus analysiert er die vielen verschiedenen entworfenen Bilder von „Nation“. Für die politische Linke war diese kein Leitmotiv mehr, sie konzentrierte sich auf die friedliche Zusammenführung der Völker im Zeichen des Sozialismus. Staatenübergreifend interpretierten sie auch die Vertreter des Zentrums: „Da die Liebe Gottes allen Nationen gleichermaßen galt, ließ sich dieser ‚Menschheitszweck‘ allerdings nur im friedlichen Zusammenwirken und bei freier Entfaltung aller Nationen“ (S. 333) verwirklichen. Den Konservativen wiederum galt der starke und handlungsfähige Einheitsstaat als Ideal. Überlagert wurden diese Debatten von der außenpolitischen Diskussion um den Versailler Vertrag, der die Deutschen zu einer „Konfliktgemeinschaft“ (S. 326), zu einer geeinten Nation im Verteidigungszustand machte. Die Diskussion um die „Nation“ zeigt sich somit sehr zersplittert: pazifistisch-supranational, aber auch ausschließend-nationalistisch; unitaristisch und föderal.

So konstatiert Gruhlich zusammenfassend, dass sich in der Nationalversammlung 1919/1920 ein geschichtspolitischer Machtkampf um Deutungshegemonie abspielte, der dazu diente, „sich in der Gegenwart politisch durchzusetzen und Zukunft zu gestalten“ (S. 421). Geschichte sei nun wieder offen gewesen, weshalb es zu „einer gesteigerten Produktion von Zukunftsentwürfen und -utopien“ sowie zur „Produktion von Geschichtsbildern“ (ebd.) gekommen sei. Das Ergebnis dieser Produktion stellt Gruhlich in seiner ganzen Bandbreite dar und betritt somit erfrischende Pfade einer offenen, nicht vom Ende gedachten Sicht auf Weimar.

Anmerkung:
1 Siehe beispielhaft Rüdiger Graf, Die Zukunft der Weimarer Republik. Krisen und Zukunftsaneignungen in Deutschland 1918–1933, München 2008; vom diskursanalytischen Ansatz gesehen ähnlich arbeitet er stark auf der Grundlage von publizistischen Quellen (Zeitungen und andere) und betrachtet den gesamten Weimarer Zeitraum von 1918 bis 1933. Ähnlich Rudolf Speth, Nation und Revolution. Politische Mythen im 19. Jahrhundert, Opladen 2000: Er greift die gleichen Wortfelder wie Gruhlich auf, nimmt aber eine andere Zeit in den Blick und baut auf anderen Quellenarten auf.

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