Antisemitismus in der deutschen Presse

Nagel, Michael; Zimmermann, Moshe (Hrsg.): Judenfeindschaft und Antisemitismus in der deutschen Presse über fünf Jahrhunderte. Erscheinungsformen, Rezeption, Debatte und Gegenwehr. Band 1. Bremen 2013 : Edition Lumière, ISBN 978-3-943245-10-3 LIV, 452 S. € 44,80

Nagel, Michael; Zimmermann, Moshe (Hrsg.): Judenfeindschaft und Antisemitismus in der deutschen Presse über fünf Jahrhunderte. Erscheinungsformen, Rezeption, Debatte und Gegenwehr. Band 2. Bremen 2013 : Edition Lumière, ISBN 978-3-943245-11-0 XII, 646 S. € 44,80

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anna Ullrich, Institut für Zeitgeschichte München / Ludwig-Maximilians-Universität München

Welche Bedeutung kommt periodisch erscheinenden Medien bei der Verbreitung und Etablierung antisemitischer Einstellungen und Stereotype zu? Ausgehend von dieser Frage veranstaltete das Institut für Deutsche Presseforschung der Universität Bremen zusammen mit dem Richard Koebner Minerva Center for German History der Hebräischen Universität Jerusalem im Mai 2010 eine Konferenz, auf der an konkreten Beispielen Form, Inhalt und Umfang antisemitischer Berichterstattung in der deutschen Presse erörtert wurde. Die Mehrzahl der Konferenzbeiträge findet sich nun in den beiden von Michael Nagel und Moshe Zimmermann herausgegeben Sammelbänden „Judenfeindschaft und Antisemitismus in der deutschen Presse über fünf Jahrhunderte“ wieder. Der Titel der beiden Bände wirkt dabei derart gewaltig, dass sein Untertitel „Erscheinungsformen, Rezeption, Debatte und Gegenwehr“ dahinter zu verschwinden droht. Ein erster Blick auf die immerhin 55 deutsch- und englischsprachigen Aufsätze genügt aber, um sich nicht nur der inhaltlichen Vielfalt der untersuchten Presseorgane – die von radikal-antisemitischen Blättern über die liberale Tagespresse bis zu jüdischen Publikationen reicht – bewusst zu werden. Auch die unterschiedlichen methodischen und analytischen Vorgehensweisen der Autoren erzeugen zunächst ein sehr uneinheitliches Bild der antijüdischen Berichterstattung und Tendenz in den untersuchten Publikationen. In der Zusammenschau der Aufsätze wird allerdings die Einsatzfähigkeit und Fortdauer antisemitischer Stereotype und Einstellungen immer deutlicher: Formal passen sie sich zwar den jeweiligen politischen, sozialen, kulturellen und religiösen Gegebenheiten an, im Kern jedoch bleiben sie persistent. Dieses Zusammenwirken von Kontinuität und Wandel betont auch Moshe Zimmermann in seinen Überlegungen zu „Judenfeindschaft, Antisemitismus, Neuer Antisemitismus“, die den chronologisch angeordneten Aufsätzen voranstehen.

In ihrer Einleitung plädieren die Herausgeber für die synonyme Verwendung von Antisemitismus und Judenfeindschaft sowie für die Anwendung einer „vorsichtige[n] Definition“, nach der es sich um Antisemitismus handelt, wenn „aufgrund eines Vorurteils ‚die‘ Juden […] pauschal negativ bewertet“ werden (S. XIV). Der sich hieran anschließende Inhaltsüberblick über die einzelnen Beiträge, die chronologisch sechs historischen Perioden zugeordnet sind, ist vor allem auf Grund ihrer Anzahl und thematischen Diversität begrüßenswert.

Wie problematisch die Frage ist, ab welchem Punkt sowohl zeitlich als auch inhaltlich von Judenfeindschaft in der deutschen Presse gesprochen werden kann, wird vor allem in den ersten zwei Sektionen deutlich. Unter „Judendarstellungen vor der periodischen Publizistik, in der Frühen Presse und im Zeitalter der Aufklärung (1100 – 1800)“ und „Pressestimmen zu Juden im Vormärz“ finden sich weder Beispiele für Zeitungen oder Zeitschriften, in denen die Beschäftigung mit Juden und dem Judentum mehr als eine Marginalie darstellte, noch eindeutig antisemitische Programmatiken. Vielmehr waren vor allem Flugblätter und nichtperiodische Traktate für die Popularisierung antijüdischer Stereotype verantwortlich. Allerdings verdeutlicht Lucinda Martin am Beispiel einer zu Beginn des 18. Jahrhunderts in protestantischen Zeitschriften geführten Auseinandersetzung zwischen orthodoxen Lutheranern und Pietisten, wie bereits hier der Gegner durch den Vorwurf der Anbiederung an das Judentum und die Projektion vermeintlich jüdischer Eigenschaften diskreditiert wurde – 150 Jahre später eine gängige politische Praxis. Zusätzlich hebt Michael Nagel in seiner Untersuchung von Zeitschriften der frühen Aufklärung hervor, dass die Einstellung gegenüber Juden und Judentum durchaus ambivalent ausfiel und vom jeweiligen Herausgeber und Leserkreis abhängig war. So konnte zwar eine auf religiösen Motiven beruhende Judenfeindlichkeit als rückständig kritisiert, gleichzeitig der vermeintlich „jüdische Wucher“ moralisch verurteilt werden.

Diese ambivalente Haltung, die immer abhängig von den jeweiligen politischen und sozialen Umständen war, zeichnete sich auch in der liberalen Presse ab, die in den Beiträgen zu „Pressestimmen zum Judentum im Vormärz“ untersucht werden. Während sowohl Stephanie Schlesier als auch Johannes Valentin Schwarz in ihren Beiträgen zeigen, dass liberale Tageszeitungen in ihren Berichten über die Hepp-Hepp-Verfolgungen 1819 die Auswirkungen auf die jüdische Bevölkerung herunterspielten und dieser eine Mitschuld an der Verfolgung gaben, verurteilte die liberale Presse die antijüdischen Gewaltakte im Umfeld der 48er-Revolution dagegen deutlich – wohl auch aus Sorge, dass sie die revolutionären Ideale in Verruf bringen könnten. An diesem Punkt der Lektüre ist der Leser durchaus geneigt, den Schlussfolgerungen von Henry Wassermann zu folgen, der sich gegen die implizierte Annahme des Sammelbandes wendet, dass Antisemitismus ein genereller Bestandteil der deutschen Presse war – und ist. Vielmehr sei „[p]ure, unmistakable, anti-Semitism […] the exception rather than the rule in most of the German-language publications appearing during the latter half of the five centuries under discussion – except for the ‚Zwölfjähriges Reich‘“ (S. 181). Bei der Untersuchung der Berichterstattung der Leipziger Allgemeinen Zeitung anlässlich der Damaskusaffäre 1840 erkennt Wassermann weder eine dezidiert pro- noch antisemitischen Berichterstattung – lediglich das Ziel des Blattes, dem Informations- und Sensationsbedürfnis seiner Leser gerecht zu werden.

Allerdings stellt schon die dritte Sektion „Judenfeindliche und antisemitische Publizistik von der Jahrhundertwende bis ins Kaiserreich“ die Einschätzung Wassermanns in Frage. So konstatiert Henning Albrecht für die sozialkonservative Presse bereits seit den 1850er-Jahren eine Verwendung moderner antisemitischer Stereotype. Dass damit weniger die deutschen Juden als generell die Vertreter des Liberalismus getroffen werden sollten, hatte dabei wenig Einfluss auf die Wirkmacht dieser Vorurteile. So zeigt Rebecca Ayako Bennette, dass sich katholische Blätter während des Kulturkampfes vorübergehend um eine Annäherung an die konservativen Protestanten bemühten, indem sie deren antisemitische Einstellungen kolportierten. Einen Schwerpunkt der Sektion bildet die Analyse von dezidiert antisemitischen Zeitungen und Zeitschriften – wie Staatsbürger-Zeitung, Linzer Fliegenden Blättern, Freiheit oder Hammer. Die hervorstehende Gemeinsamkeit dieser Publikationen ist die Leichtfertigkeit, mit der hier die unterschiedlichsten religiösen, kulturellen, wirtschaftlichen, rassistischen und weltverschwörerischen Stereotype gegenüber deutschen und osteuropäischen Juden miteinander kombiniert wurden – und mit welcher Energie die Herausgeber ihre Positionen über Jahrzehnte hinweg, rechtlich weitestgehend ungehindert, in die Öffentlichkeit trugen.

Die besonders breit gefächerten Aufsätze zu „Antisemitismus und Presse im Ersten Weltkrieg und in der Weimarer Republik“ verdeutlichen einen Aspekt, der im Titel der beiden Sammelbände unterzugehen droht: Die Verharmlosung und Gleichgültigkeit, mit der die Mehrheitspresse Antisemitismus zu begegnen pflegte. Zweifellos hatten antisemitische Blätter maßgeblichen Anteil an der Verbreitung und (Weiter-)Entwicklung jüdischer Weltverschwörungsmythen und nutzten die Skandalisierung Einzelner – wie der Unternehmer Julius Barmat und Ludwig Katzenellenbogen und des Publizisten Georg Bernhard –, um das gesamte Judentum zu verleumden und zu demütigen. Allerdings wird in zahlreichen Beiträgen überzeugend dargelegt, dass die übrige deutsche Presselandschaft, der schwerlich eine antisemitische Programmatik unterstellt werden kann, auf den immer virulenter auftretenden Antisemitismus mit einer verheerenden Mischung aus Relativierung, Indifferenz und gelegentlicher Empfänglichkeit gegenüber antijüdischen Stereotypen reagierte. Symptomatisch liest sich hier Irmtraud Ubbens Analyse der Berichterstattung über die Angriffe auf Synagogenbesucher am jüdischen Neujahrstag 1931 auf dem Kurfürstendamm. Der antisemitische Charakter der Attacken wurde dabei sowohl in der liberalen Tagespresse, die sich um „peinlichste Neutralität in jüdischen Fragen“ bemühte (S. 650), als auch in der Roten Fahne heruntergespielt oder komplett verschwiegen. Dass dies durchaus zur Programmatik der kommunistischen Tageszeitung passte, legt der Beitrag von Olaf Kistenmacher nahe, der der Roten Fahne einen mit antiimperialistischen sowie antisemitischen Merkmalen versehenen Antizionismus nachweist. Hieran konnte sich der vermeintlich neue Antisemitismus von links nach 1945 problemlos anschließen. Die Aufsätze von Martin Liepach und Daniel Fraenkel verdeutlichen ferner die eingeschränkten Möglichkeiten der jüdischen Seite, auf die teils indifferente, teils bejahende Einstellung der deutschen Mehrheitspresse und -gesellschaft gegenüber dem Antisemitismus zu reagieren. Während die liberale CV-Zeitung, von der Entwicklung in Deutschland verunsichert, nach neuen nichtjüdischen Verbündeten und Abwehrstrategien suchte, forderten die zunehmend resignativen Artikel der zionistischen Jüdischen Rundschau ihre Leser zu innerer Einkehr und einem Abfinden mit den deutschen Zuständen auf.

Die Beiträge der Sektion „Antisemitismus und Presse im Nationalsozialismus“ unterstreichen den Mehrwert, den eine Analyse unterschiedlicher publizistischer Gattungen zeitigt. Die Untersuchungen so verschiedenartiger Publikationen wie der Branchenpresse der Textil- und Modewirtschaft, Verbandszeitschriften von Sportvereinen und die Berichterstattung über Suizide deutscher Juden in der liberalen Presse heben die Mechanismen hervor, mit denen deutsche Juden bereits in den ersten Monaten und Jahren nationalsozialistischer Herrschaft aus dem öffentlichen Leben und der deutschen Gesellschaft verdrängt wurden. Sie verdeutlichen aber auch die Bedeutung der Presse, die diesen Prozess beförderte – egal ob lautstark verlangend oder stillschweigend hinnehmend. Wie selbst das Leid der in Gettos und Konzentrationslagern inhaftierten Juden für antisemitische Bildpropaganda genutzt wurde, legen die Beiträge von Harriet Scharnberg und Daniel Uziel dar. Dabei wurde immer wieder auf altbekannte, anschlussfähige Stereotype, wie das des „arbeitsscheuen“ Juden, zurückgegriffen und für ein breites Publikum visualisiert.

Bereits der erste Aufsatz in der letzten Sektion „Antisemitismus in Presse, Radio und Internet nach 1945“ verweist auf die Kontinuität antisemitischer Vorurteile nach 1945 – trotz oder gerade wegen des Wissens um das Ausmaß der Shoah. In ihrer Studie über antisemitische Muster in der Berichterstattung von Zeit und Stern bis 1952 kann Monika Halbinger nachweisen, dass beide Publikationen auf das Stereotyp des „jüdischen (Schwarzmarkt-)Händlers“ zurückgriffen, um hieraus eine Gefahr für die gesamte deutsche Öffentlichkeit zu konstruieren. Darüber hinaus nutzten sie die bereits in der Weimarer Republik erprobte Praxis, einzelne Vertreter des deutschen Judentums – vor allem unerwünschte Remigranten – exemplarisch an den Pranger zu stellen. Die Mehrzahl der übrigen Sektionsbeiträge, in denen die Israelberichterstattung der deutschen Presse im Mittelpunkt steht, unterstreicht den Einfluss althergebrachter antisemitischer Stereotype auf die Konstruktion des Antizionismus. So nutzten beispielsweise die von Thomas Pegelow Kaplan untersuchten Studentenzeitschriften der 68er-Generation den bereits von der Roten Fahne verbreiteten Vorwurf eines imperialistischen Zionismus, erweiterten ihn aber um die Gleichstellung der Verbrechen der Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg mit denen der israelischen Armee während des Sechs-Tage-Krieges 1967. Monika Schwarz-Friesels und Robert Beyers quantitativen und qualitativen Analysen der regionalen und überregionalen Presse der 2010er-Jahre belegen ebenfalls die Aufladung der Israelberichterstattung mit antisemitischen Stereotypen. Während Beyer allerdings konstatiert, „dass sich die deutsche Presse insbesondere im Vergleich zu anderen europäischen Ländern relativ moderat israelkritisch äußert“ (S. 1027), kann Schwarz-Friesel nachweisen, welchen direkten Einfluss diese Berichterstattung auf die Reaktionen in Leserbriefen und Onlinekommentaren hat – Orte, an denen oft endgültig die Grenze zwischen „Israelis“ und „Juden“ verschwindet. Auf die Bedeutung des Internets für die fortdauernde Existenz selbst so häufig widerlegter Verschwörungstheorien wie den „Protokollen der Weisen von Zion“, verweist Paula Wojcik im letzten Beitrag des Bandes – und gibt damit Einblicke in ein weiteres Untersuchungsfeld der Antisemitismusforschung.

Beiden Bänden kommt das Verdienst zu, zum ersten Mal über einen derart weiten Zeitraum systematisch die Bedeutung der deutschen Presse bei der Verbreitung antisemitischer Einstellungen zu untersuchen. Gleichzeitig bilden sie eine fruchtbare und inspirierende Grundlage für eine hier erforderliche, weiterführende Forschung. Angesichts des außerordentlich breiten Themenspektrums, das auch hier nur exemplarisch angerissen werden konnte, wäre allerdings ein bilanzierendes Fazit wünschenswert gewesen. So bleibt es dem Leser überlassen, die einzelnen Ergebnisse der mehrheitlich sehr anregenden Aufsätze zu einem ersten Überblick über die Rolle des Antisemitismus in der deutschen Presse zusammenzuführen. Eindrücklich unterstreichen dabei zahlreiche Beiträge die Tatsache, dass es nicht so sehr die radikal-antisemitischen Einstellungen in der deutschen Presselandschaft sind, welche die fortwährende Existenz des Antisemitismus befördern. Es ist vielmehr die fatale Kombination aus Indifferenz, Verharmlosung und mehr oder weniger verhaltener Bejahung des Antisemitismus in der liberalen und linken Mehrheitspresse, die der Toleranz und Akzeptanz antisemitischer Einstellung den Weg bereiten half – und hilft.

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