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Titel
Was ist Demokratie?. Geschichte und Gegenwart


Autor(en)
Nolte, Paul
Reihe
Beck'sche Reihe 6028
Erschienen
München 2012: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
512 S.
Preis
€ 17,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Oppermann, Historisches Institut, Universität Potsdam

In Deutschland herrschen „postdemokratische Zustände“ oder werden zumindest bald herrschen. Das jedenfalls glaubt Gerhart Baum, Bundesinnenminister a.D. und Vertreter des Bürgerrechtsflügels der FDP. Nicht, dass er selbst auf diese Erkenntnis gekommen wäre. In einem Artikel, den das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am 25. September 2013 veröffentlichte, also nur wenige Tage nach der Bundestagswahl, schließt er sich mit Einschränkungen dem Urteil Hans Magnus Enzensbergers an, dass das „Recht auf Privatsphäre“ und die „Unverletzlichkeit der Wohnung“ abgeschafft seien.1 Die Überwachungspraktiken der US-amerikanischen National Security Agency haben Baum auf den Plan gerufen. Die Enthüllungen Edward Snowdens haben ihn alarmiert, aber noch mehr alarmiert ihn, dass die Bürger nicht alarmiert zu sein scheinen. „Postdemokratisch“ werde die Demokratie nicht allein durch die Überwacher, sondern auch durch die Apathie der Bürger. So schließt er sich einer beliebten und daher alles andere als originellen These an – derjenigen von der Erosion der liberalen Demokratie, von der Morgendämmerung der „Postdemokratie“.

Dass Enzensberger diese These vertritt, ist ganz natürlich: Öffentliche Intellektuelle müssen öffentliche Kritik an den herrschenden Zuständen äußern, wenn sie als öffentliche Intellektuelle gelten wollen. Und Politiker im Ruhestand, die selten jemand beachtet, müssen nur die spektakulären Warnungen der Intellektuellen aufgreifen, um sich in Erinnerung zu rufen. Die Denkleistung stammt freilich meisten von jemand anderem. Im Fall der These vom drohenden oder schon über uns hereingebrochenen Zeitalter der „Postdemokratie“ ist das nicht anders. Kein freischwebender Intellektueller hat sie zu verantworten, sondern der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch, der auf eine lange akademische Karriere zurückblicken kann und im Jahr 2004 das Büchlein Post-Democracy veröffentlichte.2 Wir können nicht wissen, ob Gerhart Baum dieses Buch gelesen hat. Ganz sicher hat er aber ein anderes Buch nicht gelesen: die fünfmal längere Abhandlung Was ist Demokratie? des an der Freien Universität Berlin lehrenden Zeithistorikers Paul Nolte. Denn was immer die Vorzüge und Nachteile von Noltes Buch im Einzelnen sein mögen, so ist es auch und sogar vor allem als eine engagierte Zurückweisung derjenigen zu lesen, die wie Crouch, Enzensberger oder Baum bei jeder größeren oder kleineren Krise oder strukturellen Schwäche der westlichen politischen Systeme das Ende der Demokratie voraussagen. Nolte hält solcherlei „Abgesänge auf die Demokratie“ für „nicht nur voreilig, sondern auch gefährlich“ (S. 471). Der Geist, der sein gut lesbares Buch durchzieht, wird am besten dort sichtbar, wo Nolte eine vorsichtige Antwort auf die Frage zu geben versucht, ob die Demokratie die beste aller Regierungsformen sei. Geradezu aristotelisch mutet es an, wenn er feststellt, sie sei, „nach bisheriger und gegenwärtiger Erfahrung, besser als jede Alternative“ (S. 473). Es geht ihm nicht darum, die Demokratie im Sinne eines bis zu Platon zurückreichenden Strangs der klassischen politischen Philosophie zum besten Regime schlechthin zu erheben. Vielmehr beurteilt er sie allein anhand ihrer existierenden Gestalt. Und der Vergleich mit anderen Regimen, die es gibt oder einmal gegeben hat, genügt aus Noltes Sicht, sich den Wunsch nach etwas anderem zu verbieten.

Natürlich ist Noltes Buch, das beachtliche 512 Seiten umfasst, mehr als nur ein Plädoyer für die liberale Demokratie. Als Band der „beck’schen reihe“, der ohne Anmerkungen auskommt, richtet es sich weniger an Spezialisten, als an ein breites, aber gebildetes Publikum. Es ist der Versuch, die Demokratie als Begriff und politische Wirklichkeit umfassend, multiperspektivisch und doch allgemeinverständlich zu erklären. Zu diesem Zweck hat Nolte keine chronologisch gegliederte Entwicklungsgeschichte geschrieben. Wie hätte er das auf dem in dieser Hinsicht doch knappen Raum auch tun sollen? Vielmehr umkreist er das Problem Demokratie in acht großen Kapiteln, die in jeweils acht bis zwölf thematische Abschnitte gegliedert sind. Nach den geistigen „Anfängen“ der Demokratie, die Nolte im klassischen Griechenland, der Römischen Republik und den frühneuzeitlichen Stadtrepubliken verortet, wendet er sich sieben weiteren Themenfeldern zu, in denen er die Suche nach Antworten auf die Frage nach dem Wesen der Demokratie immer wieder mit einer Betrachtung ihrer Entwicklung und ihres heutigen Zustands verbindet.

Im Kapitel „Revolutionen“ zeigt er nicht nur, welchen Beitrag die großen neuzeitlichen Revolutionen zur Entstehung der liberalen Demokratie geleistet haben, sondern auch, welche Fehlentwicklungen in ihnen angelegt waren, welche politischen, kulturellen und sozialen Verwerfungen sie teilweise mit sich brachten. Im darauf folgenden Kapitel „Ordnungen“ geht es darum, was Demokratie in praktischer Hinsicht ausmacht, auf welchen geistigen Grundlagen sie beruht und wie die Vorstellungen politischer Denker umgesetzt wurden. Mit „Expansionen“ ist das folgende Kapitel überschrieben, in dem Nolte die allmähliche Ausweitung der liberalen Systeme des 19. Jahrhunderts zu echten liberalen Demokratien thematisiert. Die Idee der politischen Demokratie als repräsentative Demokratie steht dabei im Zentrum. Ausweitung und Festigung bedeutet auch, dass ein System künftig infrage gestellt werden kann. Diese „Krisen der Demokratie“ behandelt Nolte im nächsten Kapitel, bevor er unter der Überschrift „Lernprozesse“ die Reaktionen darauf unter die Lupe nimmt. Da die Demokratie für Nolte nichts Statisches ist, liegt es nahe, dass er im nächsten Kapitel ihre „Erweiterungen“ untersucht, also die Frage stellt, inwiefern das System der repräsentativen Demokratie durch neue Formen der Partizipation und Kritik zu einer „multiplen Demokratie“ (S. 421, 425) erweitert werde. Das letzte Kapitel mit dem Titel „Spannungslinien“ wendet sich schließlich den Herausforderungen zu, vor denen die Demokratie heute steht und lotet ihre Überlebenschancen aus. Phänomene wie neue Formen des Protests gegen die Demokratie sind für Nolte kein Anzeichen für ihre Krise, sondern Ausdruck der „diskursive[n] Zentralität von Demokratie“ – eine „der besten Bestätigungen“ dafür, „dass ihre Geschichte noch nicht zu Ende ist“ (S. 472).

Alles in allem ist Noltes langer Essay von großem, allerdings nicht blindem, Fortschrittsoptimismus geprägt, den nicht alle Leser teilen werden, dem aber doch niemand, dem das politische System der liberalen Demokratie am Herzen liegt, seinen Respekt verweigern kann. Nolte verbindet seinen Optimismus mit einem zugänglichen Stil und der Fähigkeit, ein schwieriges Thema handhabbar zu machen. Nicht jeder hat die Muße oder das Bedürfnis, die geistigen Höhen zu erklimmen, auf die uns zum Beispiel der renommierte französische Philosoph und Ideenhistoriker Marcel Gauchet in seiner dreibändigen Geschichte der modernen Demokratie führt.3 Manche Leser suchen nur nach verständlichen Antworten auf die vielen Fragen, die das komplexe Wesen der Demokratie immer wieder aufwirft. Sie sind bei Paul Nolte an der richtigen Adresse.

Anmerkungen:
1 Gerhart Baum, Ich will, dass wir beißen können, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.9.2013.
2 Colin Crouch, Post-Democracy, New York 2004.
3 Marcel Gauchet, L’avènement de la démocratie, Bd. I: La révolution moderne; Bd. II: La crise du libéralisme; Bd. III: A l’épreuve des totalitarismes, Paris 2007–2010.

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