S. Schraut: Bürgerinnen im Kaiserreich

Titel
Bürgerinnen im Kaiserreich. Biografie eines Lebensstils


Autor(en)
Schraut, Sylvia
Erschienen
Stuttgart 2013: Kohlhammer Verlag
Anzahl Seiten
150 S.
Preis
€ 16,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Johanna Singer, Sonderforschungsbereich 923 "Bedrohte Ordnungen", Universität Tübingen

Sylvia Schrauts Buch „Bürgerinnen im Kaiserreich. Biographie eines Lebensstils“ befindet sich an der Schnittstelle der in der deutschen Geschichtswissenschaft besonders in den 1980er und 1990er Jahren so prononciert betriebenen Forschungen zur Geschichte des Bürgertums1 und der im Zuge der Zweiten Frauenbewegung aufgekommenen Frauen- und Geschlechtergeschichte.2 In Anbetracht der Bedeutung der Kategorie Geschlecht für die Geschichte des Bürgertums3 ergibt sich schon aus dieser Situierung eine besondere thematische Relevanz.

Weiterhin handelt es sich um eine Biographie – allerdings nicht im traditionellen Sinne um die einer Einzelperson oder einer Familie, sondern um die „Biographie eines Lebensstils“, in der „die weiblichen Angehörigen des Bürgertums der Wilhelminischen Ära in ihrer Gesamtheit“ (S. 7) im Mittelpunkt stehen sollen – trotz unterschiedlicher individueller Lebensläufe zusammengehalten durch die Tatsache, dass sie, wie die Autorin in der Einleitung betont, „gemeinsam den gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen ihrer Epoche unterlagen“ (S. 7). Dies habe zu ähnlichen Handlungsspielräumen und „Vorstellungen über eine ihrem Stand angemessene Lebensweise“ (S. 7) geführt.

Das Buch versteht sich also als eine Art Kollektivbiographie bürgerlicher Frauen in der Zeit des Wilhelminismus – nicht unbedingt, wie der Titel suggerieren mag, der gesamten Zeitspanne des Kaiserreichs – mit besonderem Fokus auf die Darstellung ihres als spezifisch angenommenen Lebensstils.

Die Gliederung entspricht demnach auch weitgehend einem prototypischen Lebenslauf der wilhelminischen Bürgerin. Besonders berücksichtigt werden die Veränderungen, denen diese typische Biographie durch die Errungenschaften der Ersten Frauenbewegung in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts unterlag.

In einem knappen Einleitungskapitel umreißt die Autorin zunächst die Zielsetzung des Buches: die Bürgerinnen der wilhelminischen Zeit, die allzu oft nicht als eigenständige Persönlichkeiten, sondern nur als Ehefrauen oder Familienangehörige berühmter Männer erwähnt würden, „aus dem Dunkel des Vergessens ans Licht“ (S. 7) zu holen. Dies sei umso wichtiger, da – so die These – „die Entwicklung Deutschlands zum Industriestaat, die Ausformung eines urbanen Lebensstils und die Ausgestaltung des deutschen Sozialstaatsmodells“ (S. 7) sich ohne diese Frauen nicht hätte vollziehen können.

Anschließend wird der Begriff des ‚Bürgertums‘ für das 19. Jahrhundert näher erläutert, was in die These mündet, dass alle Gruppen des Bürgertums, das alte Stadtbürgertum, Wirtschaftsbürger und Bildungsbürger, einen gemeinsamen Lebensstil gepflegt hätten. Zentrale Charakteristika dieses bürgerlichen Lebensstils seien neben Leistungs- und Bildungsorientierung sowie politischer Aktivität „soziales Engagement, kulturelles Mäzenatentum oder die Pflege einer ausgeprägten Geselligkeit in den eigenen Kreisen“ (S. 9) gewesen. Von besonderer Wichtigkeit für den bürgerlichen Lebensentwurf war das unter anderem auf Rousseau zurückgehende bürgerliche Geschlechtermodell. Sylvia Schraut umreißt ebenso kurz wie präzise diesen in der Forschung hinlänglich aufgearbeiteten Rollenentwurf4. Den zeitlichen Fokus ihres Buches begründet Schraut damit, dass dieses im 19. Jahrhundert sehr wirkmächtige bürgerliche Geschlechtermodell in der Wilhelminischen Ära von der Ersten Frauenbewegung grundlegend in Frage gestellt worden sei. Die Protagonistinnen dieser Entwicklung und ihr Lebensstil bilden den Gegenstand der weiteren Kapitel des Buches. Dabei handelt es sich um fünfzehn zwischen 1830 und 1880 geborene Damen, die fast alle dem gehobenen und gebildeten Bürgertum angehörten. Unter ihnen finden sich Hedwig Dohm, Margarethe Krupp, Katia Manns Mutter Hedwig Pringsheim, Margarethe Steiff, Franziska Tiburtius, eine der ersten deutschen Ärztinnen, sowie die prominente Sozialdemokratin Clara Zetkin. Die zentrale Quellenbasis bilden entsprechend die Schriften, Autobiographien und Biographien dieser Damen, die die damalige weibliche Lebenswirklichkeit widerspiegeln sollen, während die Norm der bürgerlichen Frauenrolle unter anderem durch zeitgenössische Ratgeberliteratur und Publizistik eingefangen wird. Dieser Versuch, Norm und Wirklichkeit gleichermaßen zu berücksichtigen, zieht sich durch die folgenden, trotz ihrer relativen Kürze sehr quellengesättigten Kapitel.

Das erste Kapitel widmet sich der Kindheit. Im Mittelpunkt steht hier besonders die Erziehung, die die später auszufüllenden Geschlechterrollen bereits angelegt und die Söhne klar bevorzugt habe. Die Mädchenerziehung sei ganz auf das Ziel der Erfüllung der zukünftigen Rolle als Hausfrau und Mutter, weibliche Bildung lediglich auf den Erwerb von „Halbwissen“ (S. 18) als kulturellem Kapital im Kampf um einen geeigneten Ehemann ausgerichtet gewesen. Trat die Eheschließung nicht oder erst nach einiger Zeit ein, so stellte sich die Frage nach einer angemessenen Tätigkeit der „selbstverständlich berufslose[n]“, tendenziell im elterlichen Haushalt unterbeschäftigten höheren Tochter. Entsprechend widmet sich der folgende Abschnitt des Buches der Ende des 19. Jahrhunderts sehr umstrittenen Frage nach ‚angemessenen‘ weiblichen Berufsbildern.

Im zweiten Kapitel steht mit Partnerwahl, Heirat, Eheleben und Mutterschaft aber zunächst der als Norm betrachtete weibliche Lebensentwurf im Mittelpunkt. Hier geht es um Fragen wie Liebesheirat oder Ehestiftung, die mehr oder weniger hierarchische Beziehung der Eheleute, Sexualität und Ehealltag. Gerade im Hinblick auf die letztgenannten Fragen stellt sich das Problem, dass aufgrund mangelnder Äußerungen in den Quellen die konkrete Lebenswirklichkeit schwer darzustellen ist.

Das dritte Kapitel handelt vom bürgerlichen Haushalt im weiteren Sinn, der Haushaltsführung, dem Umgang mit Dienstboten, aber auch von der bürgerlichen Geselligkeit und den vielfältigen kulturellen Aktivitäten. Gerade in den letztgenannten Bereichen kam der Frau als Repräsentantin des Hauses und Trägerin ‚kultureller Kompetenz‘ eine Schlüsselrolle zu. Ausführlich behandelt wird auch der ambivalente Bereich der Wohltätigkeit: einerseits unter dem Aspekt der „fürsorgliche[n] Belagerung“5 der unterbürgerlichen Schichten und andererseits mit Blick auf eine Vereinskultur, die nicht nur den Weg für das öffentliche Auftreten von Frauen ebnete, sondern im Rahmen von Professionalisierungsbestrebungen auch weibliche Berufstätigkeit förderte.

Im Zentrum des vierten Kapitels stehen die unverheirateten ‚Fräulein‘, die sich im Spannungsfeld zwischen dem Klischee der alten Jungfer und der zeitgenössisch so vieldiskutierten weiblichen Berufstätigkeit bewegten. Sylvia Schraut betont dabei die sicherlich am häufigsten vertretenen Berufsbilder der Lehrerin und Erzieherin, erweitert diese Perspektive aber in zwei Unterkapiteln zu weiblichen ‚Ausnahmegestalten‘: der Ärztin Franziska Tiburtius und der Unternehmerin Margarethe Steiff.

Im fünften Kapitel geht es schließlich um die reifere Frau. Etwas isoliert steht die Frage nach der Religion als Lebenshilfe, während anschließend die Zeit der Witwenschaft in ihren verschiedenen möglichen Ausprägungen sehr differenziert dargestellt wird.

Das vorletzte Kapitel geht nochmals prononciert auf die durch die Aktivitäten der bürgerlichen, aber auch der proletarischen Frauenbewegung Ende des 19. Jahrhunderts eintretenden Veränderungen in der weiblichen Lebensweise ein. Präzise und quellengestützt werden die Argumentationsweise der Frauenrechtlerinnen, das Konzept der geistigen Mütterlichkeit, der Kampf um eine bessere Mädchenbildung als Voraussetzung weiblicher Erwerbstätigkeit und des Frauenstudiums sowie die auch innerhalb der Frauenbewegung kontrovers diskutierte Frage des Frauenwahlrechts umrissen. Interessante Akzente setzen die Abschnitte über Frauen als Schriftstellerinnen, über das Thema Sexualethik, exemplifiziert an der Frage der Prostitution, sowie über „Grenzgängerinnen“ (S. 134) zwischen Bürgertum und proletarischer Frauenbewegung.

Das letzte Kapitel fragt danach, inwiefern die nachgeborene Frauengeneration die Errungenschaften der Mütter und Großmütter nutzte. Anschließend thematisiert Sylvia Schraut die Haltung der porträtierten Bürgerinnen zum Ersten Weltkrieg. Der Darstellungsteil schließt mit einem Epilog zum Umbruch 1918/19 und der These, dass damit der distinkte bürgerliche Lebensstil seine Funktion als Leitkultur und die Frauenbewegung trotz oder gerade wegen der Erfüllung ihrer zentralen Forderungen an Bedeutung verloren habe (vgl. S. 146ff). Im Anhang finden sich sehr informative Kurzbiographien der fünfzehn behandelten Damen, die die Orientierung während der Lektüre erheblich erleichtern.

Insgesamt bleibt der positive Eindruck eines ausgesprochen angenehm zu lesenden Buches, das auf engstem Raum alle wichtigen Aspekte des Themas abdeckt, alle notwendigen Informationen präzise zur Verfügung stellt und trotzdem den Stimmen der porträtierten Frauen breiten Raum gibt. Dadurch sowie durch die durchgängige ereignisgeschichtliche Einordnung der Quellenpassagen ist das Buch zweifellos für ein breites Publikum geeignet.

Fraglich muss bleiben, ob die eingangs postulierte These von der relativen Einheitlichkeit des Lebensstils wilhelminischer Bürgerinnen durch die Untersuchung von 15 teils prominenter, meist dem gehobenen Bildungs- beziehungsweise Wirtschaftsbürgertum angehöriger Frauen ausreichend belegt werden kann. Zum Bürgertum gehörten auch das zahlenmäßig nicht zu unterschätzende Kleinbürgertum oder der Neue Mittelstand, die den beschriebenen Lebensstil vielleicht als Leitbild betrachteten, ihn aber sicherlich kaum in der dargestellten Form praktizieren konnten. Auch bleibt das spezifisch ‚bürgerliche‘ dieser Lebensweise teilweise etwas unscharf. Politisches Engagement und Wohltätigkeit, Mäzenatentum und Geselligkeit in den eigenen Kreisen könnten ebenso gut als Charakteristika eines adligen Lebensstils gelten. Weiterhin hätte eine nähere Definition des im Titel des Buches so zentral gestellten Begriffs des Lebensstils möglicherweise zur Schärfung des Konzepts beigetragen.6

Dies schmälert jedoch keineswegs das Verdienst der Autorin, eine sehr konzise Darstellung der weiblichen Lebenswelt in den sogenannten ‚besseren Kreisen‘ der Zeit um 1900 gegeben zu haben.

Anmerkungen:
1 Als zentrale Projekte seien nur der 1997 ausgelaufene Bielefelder Sonderforschungsbereich 177 zur „Sozialgeschichte des neuzeitlichen Bürgertums“ und die Frankfurter Historikergruppe „Stadt und Bürgertum im 19. Jahrhundert“ um Lothar Gall genannt.
2 Zusammenfassungen zur Entwicklung der Frauen- und Geschlechtergeschichte: Isabel Richter / Sylvia Schraut, Geschichte: Geschlecht und Geschichte, in: Ruth Becker / Beate Kortendiek (Hrsg.), Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie, Wiesbaden 2004, S. 626–632; Heide Wunder, Frauen- und Geschlechtergeschichte, in: Günther Schulz u.a. (Hrsg.), Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Arbeitsgebiete – Probleme – Perspektiven, Wiesbaden 2004, S. 305–324; dies., Frauen- und Geschlechterforschung – eine Herausforderung der Geschichtswissenschaft, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 91 (2004), S. 202–207.
3 Vgl. u.a. Hans Medick / Anne Charlott Trepp (Hrsg.), Geschlechtergeschichte und allgemeine Geschichte. Herausforderungen und Perspektiven, Göttingen 1998, S. 11 mit Verweis auf Ute Frevert, „Mann und Weib, und Weib und Mann“. Geschlechter-Differenzen in der Moderne, München 1995.
4 Vgl. als zentralen Diskussionsanstoß Karin Hausen, Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: Werner Conze (Hrsg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Neue Forschungen, Stuttgart 1976, S. 363–393.
5 Ute Frevert, „Fürsorgliche Belagerung“. Hygienebewegung und Arbeiterfrauen im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft 11 (1985), S. 420–446.
6 Zum Konzept des Lebensstils existieren namentlich in der Soziologie einige anregende Ansätze, u.a. bei Max Weber, Pierre Bourdieu oder in der aktuellen sozialen Ungleichheitsforschung.