A. Harryvan u.a. (Hrsg.): Verloren consensus

Titel
Verloren consensus. Europa in het Nederlandse parlementair-politieke debat 1945–2013


Herausgeber
Harryvan, Anjo G.; van der Harst, Jan
Erschienen
Amsterdam 2013: Uitgerverij Boom
Anzahl Seiten
400 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Katharina Garvert-Huijnen, Amsterdam

Als die Niederländer sich am 1. Juni 2005 in einem Referendum mehrheitlich gegen die Einführung einer europäischen Verfassung entschieden, war Europa in Aufruhr. Den Franzosen, die sich drei Tage zuvor ebenfalls in einem Referendum gegen die Verfassung ausgesprochen hatten, hatte man eine mehrheitlich ablehnende Haltung bereits im Vorfeld zugetraut. Die Niederländer hingegen waren traditionell als europafreundlich bekannt. Dass dennoch 61,5 Prozent der niederländischen Wähler die europäische Verfassung ablehnten, war auch für die niederländische Regierung ein Schock. Das gemeinsame „Nein“ der Niederländer und Franzosen bedeute gleichzeitig auch das Ende des Europäischen Traums, das Einigungswerk mit einer europäischen Verfassung zu krönen. Dieses „Nein“ stellte im Rückblick jedoch nicht nur für Europa eine Zäsur dar.

Spätestens seit dem gescheiterten Referendum hat sich in den Niederlanden der gesellschaftliche Diskurs über Europa fundamental gewandelt. Gehörte es bis dahin zum bon ton, pro-europäisch zu sein, ist eine europakritische Haltung mittlerweile zum Standard avanciert. Im Februar 2013 verabschiedete sich die niederländische Regierung endgültig vom Konzept der „Ever closer union“ und schlug stattdessen vor, auf bestimmten Gebieten Befugnisse der EU wieder an die Nationalstaaten zurückzuübertragen. Eine komfortable Mehrheit der Niederländer unterstützt mittlerweile das Konzept „Je weniger Europa, desto besser“. Die Partei für die Freiheit (Partij voor de vrijheid, PVV) des Rechtspopulisten Geert Wilders, am äußersten Rand des europakritischen Spektrums, führt gar eine aktive Kampagne für den Austritt seines Landes aus der EU.

Diese europakritische Haltung ist für die Niederlande neu, schlussfolgern die Autoren des Sammelbandes „Verloren consensus. Europa in het Nederlandse parlementair-politieke debat 1945–2013” („Verlorener Konsens. Europa in den parlamentarisch-politischen Debatten 1945–2013“). Von den frühen 1950er-Jahren bis in die späten 1990er-Jahre herrschte im niederländischen Parlament ein breiter Konsens über „Nutzen und Notwendigkeit der europäischen Integration“ (S. 12). Die Schaffung eines supranationalen Europas war in diesen Jahrzehnten ein weit verbreitetes Ideal. Ähnlich wie in Deutschland war Europa eine Art „Heiliger Gral“ (ebd.), der nicht durch parteipolitischen Streit geschändet werden durfte. In der Bevölkerung herrschte gleichzeitig ein „permissive consensus“ (ebd.), eine eher gleichgültige Hinnahme der durch die politischen Eliten getroffenen Entscheidungen im Hinblick auf den europäischen Integrationsprozess.

Die Groninger Historiker und Herausgeber des Sammelbandes, Jan van der Harst und Anjo G. Harryvan, haben sich, gemeinsam mit drei Historikern vom Zentrum für Parlamentarische Geschichte der Universität Nimwegen, Jan Willem Brouwer, Johan Merriënboer und Hilde Reiding im Auftrag des Den Haager Montesquieu-Instituts mit der Frage beschäftigt, wann und warum der gesellschaftliche und politische Konsens um das Thema Europa in den Niederlanden verloren gegangen ist. Dazu haben sie die Debatten zum Thema Europa im niederländischen Parlament von 1945 bis heute untersucht.

Da bisher der Großteil der Geschichtsschreibung zu den Niederlanden im europäischen Integrationsprozess einen klassisch-diplomatiegeschichtlichen Ansatz mit einer Verengung auf die Regierung und diplomatische Eliten als zentrale Akteure verfolgt hat, stellt der Sammelband eine wichtige und lange überfällige Ergänzung zum bisherigen Wissensstand dar. Die Regierung spielt zwar weiterhin eine wichtige Rolle, im Zentrum des Sammelbandes stehen jedoch die Positionen des Parlaments und der Parteien. Aus der Analyse der parlamentarischen Debatten ziehen die Autoren sowohl Schlüsse auf den gesellschaftlichen Diskurs, wie auch auf Positionen oppositioneller Parteien, die bisher in der niederländischen Integrationshistoriographie kaum Erwähnung fanden.

Der Sammelband ist chronologisch aufgebaut. Brouwer und Merriënboer beschreiben die erste Phase des Integrationsprozesses zwischen 1945 und 1972. Hilde Reiding zeichnet verantwortlich für die Periode 1973 bis 1986 und Jan Van der Harst, Inhaber des Jean Monnet-Lehrstuhls für europäische Geschichte und Mitglied der Verbindungsgruppe der Historiker bei der Europäischen Kommission, hat gemeinsam mit seinem Kollegen Anjo Harryvan die Periode von 1973 bis heute bearbeitet. Es ist dem Aufbau und theoretischem Ansatz des Buches geschuldet, dass die erste Hälfte des Bandes vor allem dazu dient, den gesellschaftlichen „Beinahe-Konsens“ zu beschreiben und die spannenden Antworten auf die Frage, wann die Niederländer vom Glauben an Europa abgefallen sind, sich vor allem im zweiten Teil des Bandes finden.

Die Zäsuren, die Van der Harst und Harryvan aufzeigen, sind nicht immer ganz neu, da sie zum Teil bereits in früheren Publikationen der Autoren Erwähnung fanden. So haben beide beispielsweise bereits 1997 die Theorie entwickelt, dass mit der Schaffung eines europäischen Binnenmarktes und der Gründung einer Wirtschafts- und Währungsunion im Rahmen des Vertrages von Maastricht im Jahr 1992 die wichtigsten europapolitischen Ziele der Niederlande erreicht worden seien. Da es mit dem Erreichen der Hauptziele zu einer gewissen Sättigung in der niederländischen Europapolitik gekommen ist, schlussfolgern Van der Harst und Harryvan, dass diese der Bereitschaft zur Teilnahme an weiteren Integrationsschritten im Wege stand.1 Dennoch ist die Entwicklung der niederländischen Haltung zu Europa in dieser Form und Kohärenz bis jetzt noch nicht beschrieben worden.

Das Erreichen zentraler europapolitischer Ziele mit der Unterzeichnung des Vertrages von Maastricht hatte in erster Linie Einfluss auf die Haltung der politischen Parteien und einzelner, mit EU-Aufgaben betrauter Politiker und Diplomaten. Die Tatsache, dass Europa nach dem Vertrag von Maastricht auch im Leben der niederländischen Bürger als eine Art „vierte Verwaltungsschicht“ (S. 14), neben Land, Provinzen und Gemeinden immer spürbarer wurde, war dahingegen, laut der Autoren ein wichtiger Grund dafür, dass auch in der Bevölkerung der „permissive consensus“ (s.o.) langsam aber stetig angekratzt wurde. Europa war für viele Niederländer kein schönes aber fernes Ideal mehr, sondern tägliche Realität.

Diese Tatsache führte zu einer verstärkten öffentlichen und parlamentarischen Debatte, in der zunehmend auch kritische Stimmen zu hören waren. Die liberale VVD war die erste Partei der politischen Mitte, die in den 1990er-Jahren den Europa-Konsens aufbrach, indem sie die in der Bevölkerung zunehmend vorhandene Kritik aufgriff. Die sich immer stärker ausprägende Europa-Skepsis der niederländischen Bürger hing, ähnlich wie in anderen europäischen Ländern auch, mit der Angst vor dem Verlust der eigenen nationalen Identität im Zuge einer immer stärker zunehmenden Europäisierung und Globalisierung zusammen.

In den Niederlanden ging sie jedoch darüber hinaus mit einer zu Beginn des neuen Jahrtausends stark ausgeprägten, Anti-Establishment-Haltung der niederländischen Wähler einher, deren Katalysator der Politiker Pim Fortuyn wurde.2 Die von ihm angezettelte populistische Revolution und der politisch motivierte Mord an dem beliebten Politiker veränderte die politische Kultur im Land nachhaltig. Diese veränderte Stimmung schlug sich im Sommer 2005 im oben bereits beschriebenen „Nein“ zur europäischen Verfassung nieder. Spätestens nun war deutlich, dass von einem niederländischen Pro-Europa-Konsens nicht mehr gesprochen werden konnte.

Es gelingt den Autoren im beschriebenen Sammelband, auf 384 Seiten die wichtigsten Entwicklungen der niederländischen Haltung zu Europa von 1945 bis heute zu skizzieren. Die Beschreibung der parlamentarischen Debatte rund um das Thema Europa ist an sich bereits eine so interessante und lesenswerte Ergänzung des bisherigen Forschungsstandes, dass die Verengung auf den verloren gegangenen Konsens vielleicht gar nicht notwendig gewesen wäre. Dann wäre auf jeden Fall im ersten Teil des Bandes mehr Raum gewesen, um die auch in dieser Phase vorhandenen Dissonanzen etwas stärker in den Blick zu nehmen.

Anmerkungen:
1 Anjo G. Harryvan / Jan van der Harst, Verschuivingen in het Nederlandse Europabeleid, in: Transaktie 26 (1997), S. 355–377; vgl. hierzu auch: Katharina Garvert, Die Niederlande im europäischen Integrationsprozess, in: Friso Wielenga / Markus Wilp (Hrsg.), Nachbar Niederlande. Eine landeskundliche Einführung, im Auftrag der Landeszentrale für politische Bildung, Münster 2007, S. 207–238, hier S. 230.
2 Vgl. hierzu auch Friso Wielenga, Die Niederlande. Politik und politische Kultur im 20. Jahrhundert, Münster 2008, S. 356; sowie: ders. / Florian Hartleb, Populismus in der modernen Demokratie. Die Niederlande und Deutschland im Vergleich, Münster 2011.

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