Titel
Ribbentrop. Oder: Die Verlockung des politischen Aufbruchs. Eine politische Biographie


Autor(en)
Scheil, Stefan
Erschienen
Anzahl Seiten
409 S.
Preis
€ 28,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfgang Michalka, Heidelberg

Als Ende Januar 1938 bekannt wurde, dass Außenminister Konstantin von Neurath durch Joachim von Ribbentrop abgelöst werden sollte, vermerkte Joseph Goebbels in seinem Tagebuch: „Ich halte Ribbentrop für eine Niete." Und mit dieser Meinung war Goebbels keineswegs allein. Auch im Ausland wurde das Revirement im Auswärtigen Amt mit Verwunderung aufgenommen. In den Krisenjahren 1938/39 galt Ribbentrop als Kriegstreiber, als der „böse Geist" Hitlers. Während des Nürnberger Prozesses 1945/46 bot er eine jämmerliche Figur.

Ribbentrops Lebenslauf ist inzwischen unter anderem von John Weitz und Michael Bloch nachgezeichnet worden.1 Warum also, so ist zu fragen, eine weitere politische Biographie Ribbentrops? Stefan Scheil gibt darauf die Antwort, dass sowohl über die NS-Außenpolitik generell, aber auch speziell über die von Ribbentrops „zahlreiche unzutreffende Vorstellungen“ (S. 13) herrschen würden. „Einflussreiche Darstellungen“ würden von „unbewiesenen, axiomatischen Annahmen“ ausgehen, nach denen Hitler „einen unprovozierten Eroberungskrieg vom Zaun gebrochen“ habe. Die von Andreas Hillgruber2 aufgestellte These, Hitler habe überdies einen „Stufenplan“ zur Welteroberung besessen, sei eine „erstaunliche Behauptung“ ohne „quellenmäßigen Beleg“ (S. 17). Alle Arbeiten, die Hitler als den Hauptverursacher des Weltkrieges bezeichnen, lässt er nicht gelten. Dem gegenüber bestehe die „wahre“ Geschichte darin, dass der deutsche „Staats- und Regierungschef“ keinesfalls „Lebensraum“ im Osten erobern, vielmehr in der Tradition Bismarcks stehend „Großdeutschland“ errichten und Deutschlands Stellung in Mitteleuropa bewahren wollte. Es seien vor allem Großbritannien, aber auch die USA gewesen, die diese Politik nicht duldeten und letztlich Deutschland in den Krieg getrieben hätten. Der Autor rühmt sich, diese „üblichen Mängel“ der Forschungsliteratur mit seinen eigenen Schriften längst korrigiert zu haben.3 Jetzt gelte es, die falschen Vorstellungen über Ribbentrop zurechtzurücken.

JvR – wie der Autor ihn bezeichnet – habe sich als „Quereinsteiger“ in aufgewühlten und unsicheren Zeiten der Hitler-Bewegung als Privatmann „aus Ehrgeiz und Nationalgefühl“ zur „Verfügung“ gestellt (S. 13). Er habe versucht, „unter nationalsozialistischen Vorzeichen eine Restauration des Deutschen Reichs in seinen historischen Grenzen herzustellen“(S. 14), um den „nationalen Aufbruch“ einzuleiten. Ribbentrops Bestreben habe sich mit dem „Grundplan Hitlers“ in den Jahren 1938/39 „gedeckt“, dem es um die „Durchsetzung territorialer Änderungen in Bezug auf Österreich, die ‚Tschechei’, das Memelgebiet und Danzig“ (S. 17) ging. Gemeinsames Ziel sei es gewesen, aus Deutschland einen „nach nationalsozialistischen Rassentheorien geführte[n], staatssozialistisch wirtschaftliche[n] Staat mit nur geringen föderalen Elementen“ zu gestalten, und zwar in den Grenzen des Deutschen Bundes bis 1866 (S. 163). Und überhaupt lasse sich eine „axiomatische Fixierung“ auf Krieg in den Quellen nicht nachweisen. Diese „bloße Mutmaßung“ sei Hitler und auch Ribbentrop „immer wieder spekulativ übergestülpt“ worden.

Aufgrund der europäischen Mittellage und der Restriktionen des Versailler Vertrages habe Ribbentrop die „Einkreisung“ Deutschlands als akute Gefahr empfunden. Gerade während seiner Botschafterzeit in London habe er diese „Bedrohung“ bestätigt erhalten. Denn Großbritannien würde stets auf der Seite der Gegner Deutschlands stehen, wenn dieses seine Revisionsansprüche einlösen würde. In seinen Berichten von 1937/38 habe er Hitler stets davor gewarnt und das Gewinnen von Bündnispartnern als dringend notwendig gefordert. Eine „Abschreckungsstrategie“ sollte die deutsche Antwort auf die britische Einkreisungspolitik sein. Das Werben um Italien und auch Japan für ein antibritisches Bündnis sei daher für Ribbentrop das Gebot der Stunde gewesen. In der Sudetenkrise des Jahres 1938 habe er deutlich die Gefahr einer von London initiierten Einkreisung Deutschlands „abwehren“ wollen.

Scheil kennt die Quellen sehr gut. Allerdings berücksichtigt und zitiert er nur das, was seinem Verständnis von Geschichte entspricht. Das Tagebuch von Graf Ciano, Mussolinis Schwiegersohn und Ribbentrops Amtskollegen, bewertet Scheil als politisch tendenziös und nicht authentisch. Das führt dann auch zu Verzerrungen der Aktenlage und zu grotesken Verrenkungen ihrer Deutung. So beispielsweise wird Ribbentrop in der Sudetenkrise, in der er immer wieder den Krieg beschwor – für seinen Staatssekretär Ernst von Weizsäcker sei er „ganz für den Krieg gewesen“4 –, zum wahren Friedensbewahrer, der sich gegen die Kriegstreiber in London und natürlich auch in Prag durchzusetzen hatte.

Weizsäcker selbst, der vor Scheil keine Gnade findet, sei der Kopf eines „Verschwörerzirkels“ gewesen, der im Sommer 1938 in Kontakt mit der britischen Regierung „einen Staatsstreich in vollem Umfang, einschließlich Tötung oder Verhaftung des Staatschefs“ (S. 189) geplant habe. Bereits damals habe die Gruppe um Weizsäcker „das Gerücht“ gestreut, Ribbentrop hätte Hitler über die Haltung der Westmächte falsch informiert, so dass er „eigentlich verantwortlich“ (S. 198) an Hitlers Entschluss zum Krieg gegen Polen gewesen sei. Diese häufig vorgebrachte Behauptung steht für Scheil im „krassen Gegensatz“ zu den Warnungen Ribbentrops, nicht nur vor der britischen Kriegsbereitschaft, sondern auch vor dem in London „längst geplanten Angriffskrieg“ auf Deutschland (S. 198).

Im Gegensatz dazu hätten „weder Hitler noch sein Außenminister [...] die feste Absicht [gehabt], einen Krieg gegen Polen oder gar einen Konflikt größeren Ausmaßes vom Zaun zu brechen“ (S. 240). Ganz in diesem Sinne sei Ribbentrop mit dem als außenpolitische Sensation aufgenommenen Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939 London zuvorgekommen, „auch die UdSSR gegen Deutschland in Stellung zu bringen“ (S. 242), den Einkreisungsring zu schließen und letztlich einen britischen Angriff auf Deutschland zu verhindern. Keinesfalls habe dieses Abkommen die Vernichtung Polens oder irgendeines anderen Landes beschlossen (S. 246). Scheil geht sogar so weit, diesen Vertrag als „ein zweites München“ zu deuten. Allerdings unter veränderten Vorzeichen, denn nicht wie 1938 die Sowjetunion, sondern jetzt würden vielmehr die Westmächte „vor verschlossenen Türen“ stehen. Wie im Vorjahr sollte eine internationale Konferenz, eine Art „Super-München“ unter Einbeziehung der UdSSR, die deutsch-polnischen Probleme lösen. Folgt man den Ausführungen Scheils, so war es allein Polen, bestärkt von der englisch-französischen Garantieerklärung vom März 1939, das eine Konferenz abgelehnt hätte.

Sollte Scheil entgangen sein, dass Hitler wie auch sein Außenminister München als denkbar schlechteste Lösung empfunden haben? Unmittelbar zum Zeitpunkt des Moskauer Vertragsabschlusses war es Hitler, der den Oberbefehlshabern der Wehrmacht triumphierend verkündet hatte: „Jetzt ist Polen genau da, wo ich es haben wollte.“ Und in Anspielung auf München vom Vorjahr: „Ich habe nur Angst, dass mir noch im letzten Moment irgend ein Schweinehund einen Vermittlungsplan vorlegt.“5 Der Angriff auf Polen war längst beschlossene Sache, und der Ribbentrop-Molotov-Pakt hatte den alleinigen opportunistischen Zweck, den Feldzug gegen den östlichen Nachbarn abzuschirmen. Dafür konnte kein Preis zu hoch sein, wie das Geheime Zusatzprotokoll belegen kann. Die Rechnung ging jedoch nicht auf. Ribbentrops „Abschirmungsstrategie“ endete im Fiasko. Am 3. September 1939 erklärten Großbritannien und Frankreich dem aggressiven Deutschland den Krieg.

Als das amerikanische Eingreifen immer drohender wurde, habe Ribbentrop sich erneut an Moskau gewandt in der Hoffnung, Stalin für einen „globalen“ Interessenausgleich zu gewinnen, um seiner ursprünglichen Kontinentalblockpolitik den krönenden Schlussstein einfügen zu können. Laut Scheil wäre die Geschichte Deutschlands, Europas, ja der Welt anders verlaufen, wenn die UdSSR auf Ribbentrops Bedingungen eingegangen wäre. Aber Stalin habe anderes im Schilde geführt. Für Hitler stand der Angriff auf die Sowjetunion, der Beginn seines programmatisch begründeten ideologischen Vernichtungskrieges, längst fest, auch wenn Scheil diesen als Präventivkrieg ausgeben will. Damit stellt er sich in die Reihe der unverbesserlichen Verfechter dieser apologetischen Geschichtsbetrachtung.

Die Einbindung des Auswärtigen Amtes in die „Endlösung der Judenfrage“ wird von Scheil nur marginal behandelt. Er beschränkt sich darauf, Ribbentrops Rolle bei der Konstruktion eines europäischen Staatenbundes in der Nachkriegszeit nachzuzeichnen – ein Thema, das eine Vertiefung verdiente.

Anmerkungen:
1 John Weitz, Joachim von Ribbentrop – Hitler’s Diplomat, London 1992; Michael Bloch, Ribbentrop, New York 1992.
2 Andreas Hillgruber, Hitlers Strategie. Politik und Kriegführung 1940–1941, München 1982.
3 Stefan Scheil, Logik der Mächte. Europas Problem mit der Globalisierung der Politik. Überlegungen zur Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges, Berlin 1999; ders., Fünf plus Zwei. Die europäischen Nationalstaaten, die Weltmächte und die vereinte Entfesselung des des Zweiten Weltkrieges, Berlin 1999.
4 Eintrag vom 23.09.1938, in: Die Weizsäcker-Papiere 1933–1950. Hrsg. von Leonidas E. Hill, Berlin 1974, S. 144.
5 Winfried Baumgart, Zur Ansprache Hitlers vor den Führern der Wehrmacht am 22. August 1939, in; Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 16 (1968), S. 294–304, hier S. 299.

Kommentare

Von Scheil, Stefan11.02.2014

Sehr geehrte HSK-Redaktion,

bedauerlicherweise läßt H-Soz-Kult den jüngsten Angriffen auf den Verlag Duncker & Humblot nun noch ein wahrhaft erstaunliches Produkt an "Rezension" meines jüngsten, dort erschienenen Buchs folgen. Wolfgang Michalkas Beitrag stellt den Inhalt des Buchs falsch dar, verschweigt wesentliche darin enthaltene Fakten und greift zu Polemik. Ich greife hier nur wenige Punkte heraus.

So meint der Rezensent, die Einbindung des Auswärtigen Amtes in die "Endlösung der Judenfrage" sei nur "marginal behandelt" worden. Die Einbindung des Auswärtigen Amtes in die "Endlösung der Judenfrage" ist jedoch ein wesentliches Thema des Buchs, wie Ulrich Schlie in seiner Besprechung in der FAZ (2. Juni 2013) richtig erkannt hat. Mir ist dabei der Nachweis gelungen, daß das Auswärtige Amt und Ribbentrop persönlich am 17. September 1941 nicht, wie von den Autoren Conze/Frei/Hayes und Zimmermann des Historikergutachtens über "Das Auswärtige Amt und die Vergangenheit" unterstellt wird, die Entschlußfassung zum Völkermord vorangetrieben haben. (In: Ribbentrop, S. 319 ff.) Mir ist im weiteren durch die Entdeckung einer bisher unbekannten Mitschrift seiner Rede im Bundesarchiv der Nachweis gelungen, daß Hitler schon im Frühjahr 1943 vor den Reichs- und Gauleitern unmißverständlich von der Ermordung des europäischen Judentums gesprochen hat und dieser Kreis nicht erst - wie vielfach angenommen - von Himmler in seiner Posener Rede vom Herbst 1943 in dieser Form informiert wurde. (In: Ribbentrop, S. 339) Es ist im übrigen im Buch völlig deutlich und wurde inzwischen ja auch durch eine Konferenz des Instituts für Zeitgeschichte bestätigt, daß die Rolle des AA als treibende Kraft im Historikergutachten unzutreffend dargestellt wird. Innerhalb des AA und in Bezug auf die Person Ribbentrop gab es zudem ein großes Informationsgefälle. Man hielt es nicht einmal für nötig, Ribbentrop über so etwas wie die Wannsee-Konferenz zu informieren. (In: Ribbentrop, S. 324)

Ähnliche Differenzen zwischen Minister und Regime lassen sich bei einem weiteren Thema feststellen, zu dem in der Rezension lediglich zu lesen steht, Ribbentrops habe für die "Nachkriegszeit" einen europäischen Staatenbund vorgesehen. Ribbentrop wollte - wie im Buch ausführlich geschildert - den Staatenbund ausdrücklich nicht erst für die Nachkriegszeit, sondern als Mittel für die politische Beendigung des Krieges einsetzen. Er wollte bei Hitler eine Garantie für die europäischen Staaten herausholen, daß "nicht sofort nach Kriegsende ein Gauleiter bei ihnen eingesetzt wird". (In: Ribbentrop, S. 331) Dafür schlug er u.a. auch vor, in den besetzten Gebieten der UdSSR neue Staaten zu bilden. Das sollte die europäischen Staaten auf die deutsche Seite ziehen und die Kriegsgegner deshalb zum Kompromiß nötigen. Das Auswärtige Amt und Ribbentrop persönlich konnten sich mit solchen Plänen nicht bei Hitler durchsetzen, der in seiner oben erwähnten blutigen Wutrede vor den Reichs- und Gauleitern auch jeder kompromißbereiten Außenpolitik eine drastische Absage erteilt hatte. Daß es solche Differenzen gab, gehört mit zu dem ausgewogenen Bild, das in der Ribbentrop-Biographie gezeichnet wird.

Die im Buch ausgearbeiteten Positionen zur unmittelbaren Vorgeschichte des Kriegsausbruchs verzerrt Michalka extrem: "Folgt man den Ausführungen Scheils, so war es allein Polen, bestärkt von der englisch-französischen Garantieerklärung vom März 1939, das eine Konferenz abgelehnt hätte." Zunächst: Naheliegenderweise hat Polen eine "Lösung" abgelehnt, die in jedem Fall auf seine Kosten gegangen wäre. Im Besitz der militärischen Zusagen der Westmächte und des eigenen Nichtangriffspakts mit der UdSSR gab es aus Warschauer Sicht keinen Grund für solche Zugeständnisse. Der Berliner Botschafter Lipski hatte durchaus Anlaß, am 31. August 1939 zu sagen, er interessiere sich nicht für deutsche Verhandlungsangebote, weil die polnischen Truppen in den nächsten Wochen erfolgreich auf Berlin marschieren würden. Um dieses Zitat und viele andere dieser Richtung macht die bundesdeutsche akademische Geschichtswissenschaft seit Jahrzehnten einen weiten Bogen, wohl weil es allein schon geeignet wäre, die These vom "Überfall auf Polen" ad absurdum zu führen. Übrigens bringe ich im Ribbentrop-Buch erneut die Aussage des früheren Reichskanzlers Brüning, zu den Gründen für das polnische Verhalten hätte auch ein britisch-polnisches Abkommen gezählt, bei dem der Republik Polen im Frühjahr 1939 u.a. der Erwerb von Ostpreußen und dem Rest Oberschlesiens versprochen worden sei. Auch das scheint in der Zeitgeschichtsforschung niemand aufgreifen zu wollen, auch vom Rezensenten kein Wort dazu. Solche und andere Quellen führen keineswegs nach Polen. So kann ich auch nichts dafür, daß sich im tschechoslowakischen Außenministerium Aktennotizen erhalten haben, in denen Winston Churchill die Prager Regierung im Frühjahr 1938 aufforderte, schnellstmöglich einen deutsch-tschechischen Krieg zu provozieren, weil die Deutschen von sich aus die Tschechoslowakei wohl nicht angreifen würden. (In: Ribbentrop, S. 180)

Es ist keine Exklusivmeinung von Stefan Scheil, wie der Rezensent meint, daß die Geschichte anders verlaufen wäre, hätte Ribbentrop 1940 sein Ziel eines "Kontinentalblocks" gegen die Westmächte unter Einschluß der UdSSR erreicht. Vor mehr als dreißig Jahren haben u.a. Andreas Hillgruber und übrigens auch Wolfgang Michalka ähnliches herausgearbeitet. (Vgl. Michalka, Ribbentrop und die deutsche Weltpolitik, München 1980, S. 293 f. oder Hillgruber, Hitlers Strategie, S. 352 f.) Natürlich hätte eine sowjetische Entscheidung für diesen Block die Weltgeschichte anders verlaufen lassen und natürlich ist die Feststellung dieser Tatsache ein gewichtiges Agrument gegen einen damals schon feststehenden Entschluß zum Angriff auf die UdSSR.

Bei diesem Thema bestreitet der Rezensent das Offensichtliche. Bereits der von ihm erwähnte und geschätzte Andreas Hillgruber hat 1965 schon darauf hingewiesen, daß die Verhandlungen mit der UdSSR im November 1940 tatsächlich das Ziel hatten, die UdSSR dauerhaft auf die deutsche Seite zu ziehen. Doch seien die sowjetischen Gegenvorstellungen derart gewesen, daß der Angriff auf Rußland "im Rahmen des Gesamtkrieges in der Situation des Spätherbstes 1940 tatsächlich wohl unvermeidbar war, wenn Hitler nicht kapitulieren wollte." (Vgl. Hillgruber, Hitlers Strategie, S. 393) Diese Ansicht vertrat in Kenntnis aller Unterlagen nach dem Krieg auch George Kennan, der 1940 als Diplomat an der amerikanischen Botschaft in Berlin der Zeuge dieser Verhandlungen geworden war: „Wir erfuhren, daß Molotows Gespräche mit den deutschen Führern nicht nach Wunsch verliefen; aber keiner von uns konnte ahnen, daß Stalin seinen Verhandlungsspielraum so gefährlich überschätzen und von den Deutschen als Gegenleistung für Rußlands Unterstützung im erweiterten Krieg gegen die britische Weltstellung Konzessionen verlangen würde, die so extrem und begierig waren, daß Hitler nichts anderes übrig blieb, als den Faktor Rußland aus der Gleichung zu eliminieren, wollte er mit seiner eigentlichen Aufgabe weiterkommen." (Zit. n. George Kennan, Memoiren, S. 137 f.)

In der Ribbentrop-Biographie war dies nur ein Randthema, an anderen Orten habe ich dazu wesentlich mehr geschrieben. (z.B. in: S. Scheil, Eskalation des Zweiten Weltkriegs, Berlin 2011) Was aber "apologetisch" daran sein soll, wenn im besprochenen Buch vor diesem Hintergrund und den nach 1990 neu erschlossenen Quellen über sowjetische Angriffsvorbereitungen der Rußlandfeldzug als das dargestellt wird, was er war, nämlich als ein Angriff, der im Jahr 1941 einer zutreffend erkannten sowjetischen Bedrohung ein Ende bereiten sollte, bleibt Geheimnis des Rezensenten. Die Feststellung der Motive einer Kriegserklärung oder eines Verbrechens beinhaltet keine Billigung von beidem, das wird er wissen. Daß Hitler diesen Krieg dann als Vernichtungsfeldzug des gesamten Regimes und Vertreibung des sowjetischen Staates aus Europa in Szene setzen wollte, habe ich in der Ribbentrop-Biographie (s.o.) noch einmal herausgearbeitet.

Es sollte möglich sein, daß sich die Geschichtswissenschaft wieder den schon einmal gewonnenen Erkenntnissen und den neu dazugekommenen Fakten stellt. In den letzten Jahrzehnten stand die Verbrechensgeschichte des Dritten Reichs im Focus. Die Zusammenhänge gerade im außenpolitischen Bereich erschließen sich aber auf dieser Ebene nicht, was u.a. zum Verlust von Differenzierungen beigetragen hat, die bereits gesichert waren. Die negativen Folgen zeigen sich dann zum Beispiel in Rezensionen wie der von Wolfgang Michalka.

Freundliche Grüße

Stefan Scheil


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