Müller, Christa (Hrsg.): Urban Gardening. Über die Rückkehr der Gärten in die Stadt. München 2011 : Oekom Verlag, ISBN 978-3-86581-244-5 349 S. € 19,95

: Stadt der Commonisten. Neue urbane Räume des Do it yourself. Bielefeld 2013 : Transcript – Verlag für Kommunikation, Kultur und soziale Praxis, ISBN 978-3-8376-2367-3 232 S. € 24,90

Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Michaela Fenske, Institut für Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie, Georg-August-Universität Göttingen

Auch im geographischen Zentrum der Universitätsstadt Göttingen ist seit 2013 die Bewegung des Urban Gardening oder – von Aktivist/innen mitunter als Bezeichnung bevorzugt – Urban Farming tätig: Mitten in der Stadt, im sogenannten Cheltenham-Park, wurde unlängst eine Fläche mit Grünrasen umgegraben, um fortan Gemüsepflanzen zu beherbergen. Was im Zentrum Göttingens gerade begonnen wird, hat sich in den letzten vier Jahren in anderen deutschen Städten bereits etabliert: Ob als Initiative bürgerschaftlichen Engagements, wie im Falle der Prinzessinnengärten in der Hauptstadt Berlin, oder aber als Idee einer findigen Stadtverwaltung wie in der nunmehr auch „essbaren Stadt Andernach“ am Rhein – das urbane Gärtnern beschäftigt die bundesrepublikanische Gesellschaft. Nicht zuletzt das beachtliche Kommunikationsgeschick ihrer vielfach aus der akademischen Mittelschicht stammenden Akteur/innen garantiert der Bewegung ein stetig wachsendes öffentliches und zunehmend auch wissenschaftliches Interesse. Die hier zu besprechenden zwei Veröffentlichungen gehören in diesen Kontext, sie verbinden im weiteren Sinne aktivistische mit wissenschaftlichen Zielen: Die Herausgeberinnen bzw. Autorinnen sind als promovierte Soziologinnen in der „Stiftungsgemeinschaft anstiftung & ertomis“ tätig, die sich die Erforschung der Voraussetzungen nachhaltiger Lebensstile zum Ziel gesetzt hat. Bereits unmittelbar nach ihrem Erscheinen erfreuten sich beide Publikationen bei Akteur/innen und Medien einer vergleichsweise breiten Aufmerksamkeit; der von Christa Müller herausgegebene Band liegt bereits ein Jahr nach seiner Erstveröffentlichung in vierter Auflage vor.

Der von Christa Müller herausgegebene Sammelband führt in theoretische Grundlagen, Ideen und Stichworte der weltweit, transnational agierenden Bewegung des Urban Gardening/Urban Farming ein. Er beschreibt Ziele, Praktiken, Orte, Akteur/innen und weltanschauliche Grundlagen der Bewegung und analysiert diese aus wissenschaftlicher Perspektive. 24 Autor/innen aus den Sozial-, Agrar- und Kulturwissenschaften, Landschafts- und Stadtplaner/innen, Aktivist/innen und Künstler/innen repräsentieren die Spannweite und Heterogenität der grünen Bewegung sowie der mit ihr befassten Disziplinen. Wie Christa Müller in Einleitung und einführendem Beitrag ausführt, geht es den urbanen Gärtner/innen nicht nur darum, mittels gärtnerischer Praktiken urbane Flächen neu zu gestalten, sondern zugleich sollen auch die westlichen Gesellschaften verändert werden. Für die Mitglieder der kapitalistischen Gesellschaft sollen „Freiräume“ vom allgegenwärtigen Konsum (S. 9) geschaffen werden; es geht um die Etablierung umweltgerechter und auf Nachhaltigkeit setzender Wohlstandsmodelle, menschengerechter Formen gemeinsamen Arbeitens und Wirtschaftens, aber auch eines neuen Verständnisses von Politik, das unter anderem auf bürgerschaftliches Engagement setzt. Die Stadt, inzwischen Lebensmittelpunkt der Mehrheit der auf der Erde lebenden Menschen, ist Ort dieses Aufbruchs und zugleich Aushandlungsraum seiner Möglichkeiten. Stadt soll neu gedacht, das „Verhältnis von Natur und Kultur neu verhandelt und vergesellschaftet“ (S. 22) werden. Behandeln die sieben Beiträge der ersten Sektion dieses Sammelbandes als „zeitdiagnostische Beobachtungen“ die gesamtgesellschaftlichen und politischen Impulse des Urban Gardening vor dem Hintergrund der Krisen der spätmodernen Gesellschaften, so fokussieren die folgenden sieben Beiträge das Verhältnis von „Gärten und Urbanität“, um nach einem „lebenswissenschaftliche[n] Plädoyer“ für Gärten abschließend die Bedeutung von Gärten als „Räume von Subsistenz und Politik“ zu reflektieren. Die einzelnen Beiträge thematisieren aus unterschiedlichen Perspektiven eine Vielzahl von Aspekten, loten das Gärtnern in seinen religiösen, ethischen und weltanschaulichen Dimensionen ebenso aus wie die politischen und sozioökonomischen Zielsetzungen oder die biologischen Grundlagen urbaner Landwirtschaft. Es geht unter anderem um Gärtnern als „neue urbane Zivilisation“, um die Akteur/innen des Urban Gardening als Angehörige eines kreativen urbanen Milieus, um Urban Gardening als „Widerstand gegen neoliberale Ordnung“, um die Möglichkeiten von Urban Gardening für wachsende oder für schrumpfende Städte, um Gärtnern im Kontext des Aufbaus einer postfossilen Gesellschaft, um „Ernährungssouveränität, Eigenmacht und Sortenvielfalt“ (S. 5–7).

Als eine von mehreren derzeit populären „Kulturen des Selbermachens“ gehört Urban Gardening in den Zusammenhang der „Do-it-yourself (and Do-it-together)“-Bewegung, die im Mittelpunkt des zweiten hier zu besprechenden Bandes über die in den Städten wirksamen „Commonisten“ steht. Das urbane Gärtnern nimmt auch in diesem Band einen beträchtlichen Teil der Darstellung ein. Handelt es sich bei dem Sammelband um eine Art Handbuch, in dem verschiedene Autor/innen und Akteur/innen den Stand der Entwicklung der spätmodernen grünen Bewegung in mehrseitigen Beiträgen reflektieren, so ist das zweite Buch ein Fotoband, der mit künstlerischen Mitteln das A bis Z der Philosophie der urbanen Bewegung des Selbermachens in Kurztexten vorstellt. Ging es im Sammelband also um Argumentation, so stehen im Bildband Information und Inszenierung teils gleicher Inhalte im Fokus. Der Bildband setzt die im Sammelband eher theoretisch benannte Verbindung zu dem kreativ-künstlerischen Milieu in Gestalt ästhetisch anmutender Inszenierungen um. Hier zeigt sich einmal mehr die hohe mediale Kompetenz der in diesem Kontext Tätigen, die neueste digitale Techniken ebenso geschickt einsetzen wie das von ihnen neu entdeckte tradierte handwerkliche Wissen. Die den Band zu mehr als zwei Drittel füllenden verschiedenformatigen Analogfotografien nehmen den Retrocharakter der Bewegung auf, die unter dem Stichwort Crafting mit vergessenen Wissensbeständen ihrer Großelterngeneration auch deren Praktiken – neben dem Gärtnern beispielsweise das Einmachen von Früchten, das Häkeln, Stricken, Nähen und Backen – im Kontext spätmoderner Urbanität aktualisiert. Künstlerische Initiativen wie etwa die der im Buch vorgestellten Rausfrauen irritieren die Öffentlichkeit mit ihren Bricolagen. In diesen mixen sie hergebrachte und damit vertraut anmutende, „hausfrauliche“ Formen und Praktiken mit spätmodernen Inhalten, um ihrem Anspruch auf eine Änderung der bestehenden Geschlechterordnungen Nachdruck zu verleihen. Die insgesamt 131 Kurztexte des Fotobandes informieren über Grundbegriffe, Haltungen, Leitbilder, Orte, Initiativen, Akteur/innen, Werkzeuge und Praktiken der Commonisten. Es geht von A wie Arrangement als bewusst temporäre Inszenierung und Arbeit als neu gefasster schöpferischer Haltung des In-der-Weltseins über Besetzung als zentraler politischer Praxis, Demokratie als eine „alle Naturen einschließende Ökologie und Ökonomie“ (S. 84) und einer Produktion und Konsum verbindenden Genossenschaft in München namens Kartoffelkombinat bis zu Upcycling als „Lieblingsbeschäftigung der Do-it-yourself-Szene“ (S. 178) oder Zwischennutzung als verbreitete Praxis. Die Fotografien zeigen Menschen (meist in gemeinsamer Aktivität), Orte, Pflanzen und ihre Früchte, selten Tiere; was sie abbilden ist unter anderem Mut zum Provisorischen und Temporären, Freude am lebendig Wachsenden, Sinn für die Inszenierung unaufwändiger Schönheit.

Die zwei Neuerscheinungen lesen sich als Einführung und erste behutsame und insgesamt wertschätzende wissenschaftliche Einordnung der hier unter dem Sammelbegriff Urban Gardening oder Commonisten zusammengefassten spätmodernen urbanen Bewegungen. So vielstimmig die hier präsentierten Bewegungen und disziplinären Annäherungen sind, so verschieden dürfte ihre kritische Würdigung ausfallen. Vor dem Hintergrund eines konventionellen Wissenschaftsverständnisses könnte man sich an der hier bewusst gesuchten Verflüssigung der Grenze zwischen Wissenschaft und Aktivismus stören. Für Vertreter/innen der Rural Studies werfen die in den Bänden entworfenen Idealbilder kleinbäuerlicher Subsistenzwirtschaft, das Lob von Allmende, kollektiver und am Gemeinsinn orientierter Wirtschaft unter anderem die Frage auf, ob die mit der Moderne begonnene Landliebe als (adelige und bürgerliche) Idealisierung des Ruralen hier im neuen Gewand erscheint. Wer die in Teilen Europas bis in die Moderne anhaltenden Bedingungen kleinbäuerlicher genossenschaftlicher Wirtschaftsweise kennt, der weiß auch um die mit diesem Wirtschaften verbundenen Nöte sowie um ihre großen Konfliktpotentiale. Agrarwissenschaftler/innen und Biolog/innen könnten fragen, was die in Reissäcken und Hochbeeten gezogenen Kartoffeln und Bohnen mit den derzeitigen Grundproblemen der Welternährung wie abnehmender Bodenfruchtbarkeit oder der Versiegelung der Böden zu tun haben. Dies wirft den Blick auf das eigentliche Anliegen, den Kern der Bewegung, die jenseits des Gärtnerns oder Handwerkelns vor allem als eine soziale und politische Bewegung zu verstehen ist. Im Kontext der Erforschung politischer Kultur fragt man dann möglicherweise unter anderem danach, ob mit den hier angestimmten Lobliedern urbanen Selbermachens nicht auch neue Formen der Kontrolle im öffentlichen Raum, diesmal einer sozialen und moralisch motivierten Kontrolle, installiert werden. Die Bücher selbst signalisieren freilich eine gewisse Offenheit für solche und weiteren Fragen, geben sie doch einigen solcher kritischen Nachfragen Raum.

Insbesondere für an spätmodernen Bewegungen interessierte Kultur- und Sozialwissenschaftler/innen bieten diese Bände hervorragende Einführungen, die viele wesentliche Aspekte thematisieren. Aus Sicht der Europäischen Ethnologie dürften beide Bände nicht nur im Kontext einiger Arbeitsfelder der politischen Anthropologie/Kulturgeschichte (inklusive der Erforschung sozialer Bewegungen), der Stadt- oder Wissensforschung aufschlussreich sein. Die Bücher skizzieren die Wiederentdeckung dessen, was im Zentrum des Interesses dieses Faches steht: den Alltag als Aushandlungsraum gesellschaftlicher Ordnungen und die Bedürfnisse der Menschen, diese alltäglichen Lebenswelten aktiv in ihrem Sinne zu gestalten. Die neuen urbanen Bewegungen in ihrem Tun und Wirken zu beobachten und kritisch zu begleiten, gehört damit auch zu den Kernaufgaben der Europäischen Ethnologie. Die vorliegenden Publikationen verdeutlichen in diesem Zusammenhang nicht zuletzt auch, wie viel kulturwissenschaftliche Expertise in dem Aufbruch der spätmodernen urbanen Mittelschicht steckt. Was die Stadt Göttingen betrifft, so finden sich in beiden Büchern übrigens Hinweise auf die hier bereits Mitte der 1990er-Jahre angelegten interkulturellen bzw. internationalen Gärten. Diese liegen zwar geographisch in städtischer Randlage, doch ihre Anliegen und Praktiken befinden sich – wie die besprochenen Bände zeigen – zunehmend im Mittelpunkt öffentlicher und wissenschaftlicher Aufmerksamkeit.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Kooperation
Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/