Hess, Volker; Schmiedebach, Heinz-Peter (Hrsg.): Am Rande des Wahnsinns. Schwellenräume einer urbanen Moderne. Wien 2012 : Böhlau Verlag, ISBN 978-3-205-78794-5 392 S. € 39,00

Wernli, Martina (Hrsg.): Wissen und Nicht-Wissen in der Klinik. Dynamiken der Psychiatrie um 1900. Bielefeld 2012 : Transcript – Verlag für Kommunikation, Kultur und soziale Praxis, ISBN 978-3-8376-1934-8 272 S. € 32,80

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jens Gründler, Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, Stuttgart

In den letzten beiden Dekaden ist auch im deutschsprachigen Raum verstärkt zur (Sozial-)Geschichte des ‚Irrsinns‘ und der Psychiatrie geforscht worden. Die beiden hier vorliegenden, interdisziplinär ausgerichteten Sammelbände beleuchten ‚Wahnsinn‘ und Medizin aus verschiedenen Perspektiven, jeweils mit einer eigenen Programmatik.

Die Aufsätze des Sammelbandes ‚Am Rande des Wahnsinns. Schwellenräume einer urbanen Moderne‘ betrachten den ‚Wahnsinn‘ als ein kennzeichnendes Phänomen der Moderne um 1900, in der sich eine Vielzahl von neuen Bedeutungen konstituierte und verschiedene Institutionen der Fürsorge, Kontrolle und Medizin sich den ‚Wahnsinn‘ zu Nutze machten. Zu Grunde liegt allen Aufsätzen das Verständnis, dass die urbane Moderne sich durch Offenheit charakterisieren und als einen Raum denken lässt, in dem Grenzen und ‚Normalität‘ zwischen allen Akteuren immer wieder neu verhandelt, austariert und erstritten werden. Wesentlich für die Beiträge ist darüber hinaus die Bedeutung des Schwellenraums, der von den Herausgebern in Anlehnung an Victor Turner genutzt wird. „Vier Figurationen der Schwelle“ (S. 10) – topografische, regulatorische, epistemologische, performative – werden in den einzelnen Aufsätzen eingehend analysiert.

Im ersten Aufsatz von Volker Hess und Sophie Ledebur über die Poliklinik der Charité wird die Verschränkung und gegenseitige Abhängigkeit aller vier Figurationen exemplarisch deutlich. Topografische Gestaltung und administrative Regulierung bedingten einander und beeinflussten die Konstituierung neuer psychiatrischer Wissensbestände sowie die Praxis der Behandlung und des klinischen Unterrichts in Berlin. Die Autoren legen überzeugend dar, dass die Bedeutung der Poliklinik für die Psychiatrie als Disziplin und für die Stadt als sozialen Raum erst durch die Analyse aller vier Schwellenphänomene erkennbar wird. Ergänzend wird aber auch vermerkt, dass die Poliklinik immer auch mehr war als ein reines Schwellenphänomen, dass das Konzept nicht als Universalschlüssel zum Verständnis der Berliner Poliklinik dienen kann. Im Beitrag von Stefan Wulf und Heinz-Peter Schmiedebach werden die genannten Figurationen untersucht, indem die Suizide von Schiffsleuten während der Passagen und deren Rückwirkungen auf die Hafenstadt Hamburg analysiert werden. Beate Binder spürt der von Magnus Hirschfeld entworfenen sexuellen Topografie Berlins um die Jahrhundertwende nach. Die Kinderbeobachtungsstation an der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité steht im Fokus des Aufsatzes von Petra Fuchs, Wolfgang Rose und Thomas Beddies. In diesem Schwellenraum wurde über das Leben verhaltensauffälliger Kinder entschieden, über ihre psychische Erkrankung bzw. Auffälligkeit und eine daraus resultierende (Zwangs-)Betreuung, oder Gesundheit. Die Autoren betonen dabei, dass die Station in beide Richtungen funktionierte, also auch zur Bestätigung der wiederhergestellten Gesundheit, und konstatieren, dass die Beobachtungsstation ein beispielgebender „topografischer und epistemologischer Schwellenraum“ sei.

Der Schwellenraum Ellis Island ist Gegenstand eines weiteren Beitrages von Wulf und Schmiedebach, in dem medizinisches Personal diejenigen, die als psychisch krank oder minderwertig wahrgenommen wurden, an der Einreise in die USA hinderte und zurück schickte – in diesem Fall nach Hamburg zum Weitertransport nach Osteuropa. Ausgespart, aber für Ellis Island als Schwellenraum nicht unwichtig, bleiben leider diejenigen ‚Wahnsinnigen‘, die die Untersuchung bei der Einreise überstanden, aber nach kürzerem oder längerem Aufenthalt in den USA auffällig und abgeschoben wurden. Wulf und Schmiedebach führen für die Regelung, nach der Abschiebungen aufgrund psychischer Erkrankungen noch bis zu drei Jahre nach der Einreise möglich waren, zwar Beispiele an, diskutieren die Bedeutung für die Konstituierung des Schwellenraums Ellis Island aber nicht. Dabei hätte man ja gerade hier die zeitliche Dimension des Konzepts anschaulich verdeutlichen können. Sabine Fastert zeigt mit Bezug auf Max Nordau die Komplexität, in der das psychische Schwellenphänomen ‚Genie und Wahnsinn‘ in Kunstzeitschriften um 1900 verhandelt wird. Sie zeigt, dass selbst in konservativen Kreisen Nordaus Kunstverständnis als zu einfach angesehen wurde, obwohl man die Grenze zwischen Genie und Wahnsinn aufrechterhalten wollte. An der Einführung der Schizophrenie als Diagnose erklären Alexander Friedland und Rainer Herrn die Charité als „epistemischen Schwellenraum“. Sie belegen, wie sich das Verständnis von und die Praktiken der Behandlung von Schizophrenie in den 1920er-Jahren veränderten und sich ein lokales Schizophrenie-Konzept an der Charité entwickelte. Armin Schäfer nimmt Alfred Döblins Roman ‚Berlin Alexanderplatz‘ als Beispiel, um die epistemologischen Schwellen, an denen der ‚Wahnsinn‘ in Literatur und Psychiatrie verortet wird, zu beschreiben.

Der Skandal als Zwischen-, Transfer- oder Grenzraum wird von Gabriele Dietze thematisiert. An Werken und Biographien verschiedener Künstlerinnen zeigt sie die Möglichkeiten, sich das ‚Stigma Wahnsinn‘ anzueignen und produktiv umzudeuten. Der Gegenstand des Beitrages von Sophia Könemann und Benjamin A. Marcus ist die Figur des Zopfabschneiders, der um 1900 ein fast globales Phänomen der Großstadt wird. Während die Taten diskret im Schwellenraum von Privatheit und Öffentlichkeit stattfinden, dreht sich nach der Entdeckung und Aufklärung diese Heimlichkeit in öffentliche Sensationslust – die Schwelle von Intimität und Öffentlichkeit wird dabei ein zweites Mal überschritten. Zuletzt widmet sich Dorothea Dornhof den okkulten Praktiken der parapsychologischen Gespensteraufzeichnung. In den Experimenten wurden die Grenzen zwischen Wissenschaft und Okkultismus, zwischen Realität und Illusion, zwischen Wissen und Nicht-Wissen in Frage gestellt und verschoben. Auch wenn derartige Praktiken nicht als wissenschaftlich anerkannt wurden und werden, bleibt der Glauben an diese Phänomene beim Publikum bis heute wirkmächtig, wie man an den mehr als 190 Folgen des US-amerikanischen Doku-Serie ‚Ghost Hunters‘ sehen kann.

Im zweiten Sammelband, herausgegeben von Martina Wernli, nähern sich die Autoren der Psychiatrie und dem ‚Wahnsinn‘ aus einer eher wissenschaftshistorischen Perspektive. Dargelegt werden Veränderungen in psychiatrischem Wissensbestand und therapeutischen Praktiken. In der Einleitung legt Martina Wernli kurz den inneren Zusammenhang des Sammelbandes ‚Wissen und Nicht-Wissen in der Klinik‘ dar, indem sie die Wandelbarkeit und Kontingenz des Verhältnisses von Wissen und Nicht-Wissen betont. In Anlehnung an die Konzepte des Projektes Literatur und Nichtwissen 1750–1930 an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich macht sie drei zentrale Beziehungen von Wissen und Nicht-Wissen aus: eine ‚Relation zeitlicher Art‘, eine ‚hierarchisch-räumliche Beziehung‘ und als ‚modale Differenz‘, unter denen die Beiträge des Bandes verschiedene Aspekte der Disziplin Psychiatrie bearbeiten.

Im Aufsatz von Sophie Ledebur steht die Simulation, das bewusste Vorspielen einer psychischen Erkrankung, im Zentrum der Analyse. Während die Ärzte einerseits in der universitären Ausbildung zu einem gewissen Grad auf Simulationen von Patientinnen und Patienten in den Hörsälen angewiesen waren, man denke hier nur an Charcots Präsentationen hysterischer Patientinnen, blieb der (versuchte) Betrug an Ärzten und Versicherungen bei Diagnosen oder gerichtlichen Gutachtertätigkeiten selbstverständlich kriminell und verwerflich. Die Grenzen zwischen Wissen und Nicht-Wissen in den Fällen von Simulation, in denen selbst die Psychiater, die Experten, nicht mehr eindeutig zwischen Simulation und Krankheit entscheiden konnten, waren unscharf. Mirjam Bugmann zeigt anhand der Hypnosetherapie, wie sehr die Psychiatrie um 1900 versucht und gezwungen war, sich als ‚harte‘ Naturwissenschaft zu präsentieren. Anhand der gescheiterten Versuche Forels, die Hypnosetherapie in der Wissenschaft zu etablieren, kann Bugmann die hierarchisch-räumliche Beziehung von Experten- und Laienwissen darstellen. Dass psychiatrisches Wissen erst durch gezieltes Nicht-Wissen und Praktiken des Vergessens oder Vernachlässigens möglich gemacht wird, legt Stefan Nellen dar. Anhand der Krankenakten einer Anstalt verdeutlicht er, dass Wissen aus vorgängigen administrativen Akten – zum Beispiel der Polizei – nur gefiltert Eingang in die Krankenakten findet und damit das spezifisch medizinische Wissen erst ermöglicht wird.

In den folgenden Beiträgen setzen sich die Autorinnen mit den psychiatrisch-medizinischen Deutungen der Verhaltensweisen und künstlerischen Produkte von Patienten auseinander. Monika Ankele zeigt, wie ‚Ausdrucksbewegungen‘, Zeichnungen und Schriftbild gegen Ende des 19. Jahrhunderts als ‚Krankheitszeichen‘ in der psychiatrischen Diagnostik etabliert werden konnten. Katrin Luchsinger stellt anhand der ‚Kippbilder‘ eines Patienten der Pflegeanstalt Rheinau dar, wie die Insassen sich mit Hilfe ihrer künstlerischen Produkte ihrer Selbst vergewisserten, aber gleichzeitig auch versuchten, das Leben in der Institution eigensinnig umzuinterpretieren und sich anzueignen. Den Psychiater Emil Kraepelin, dessen Kunstverständnis und die daraus resultierende Pathologisierung von besonders Künstlern der Moderne untersucht Bettina Brand-Claussen. Sie kann durch die Analyse verschiedener Auflagen von Kraepelins Lehrbuch unter anderem nachweisen, dass dessen psychiatrisches Wissen keineswegs ausschließlich auf ‚naturwissenschaftlichen‘ Fakten, sondern gerade auch auf moralisierenden Interpretationen und Vorurteilen beruhte. Dass auch das Aufgeben künstlerischer Betätigung als Krankheitszeichen gedeutet werden konnte, zeigt Lucas Marco Gisi anhand des Verstummens des Schriftstellers Robert Walser in der Anstalt. In diesem Beitrag wird noch einmal die Subjektivität psychiatrischer Diagnosen, besonders retrospektiver, deutlich – mit unterschiedlichen Perspektiven und methodischen Herangehensweisen kann man im Fall Walser zu ganz unterschiedlichen Beurteilungen kommen.

Drei weitere Beiträge vervollständigen den Sammelband. Anna Lehninger verdeutlicht, wie man durch das Studium von Krankenakten – hier aus der Privatanstalt Oberdöbling in Wien – die Kunstwerke der Sammlung Prinzhorn an Personen zurückbinden und rekontextualisieren kann. Martina Wernli wendet sich den Veränderungen administrativer Texte in der Psychiatrie zu. Sie kann anhand der Untersuchung von Jahresberichten der Anstalt Waldau zeigen, dass die breitere öffentliche Rezeption um 1900 und die Ausweitung wissenschaftlicher Fachorgane den Inhalt deutlich verändern. In den Jahresberichten finden sich dann nur noch allgemeine Erzählungen zur Anstaltsentwicklung und statistische Daten. Der programmatische Aufsatz von Hubert Thüring verdeutlicht anhand einer praktizierten, experimentellen Therapieform, unter welchen Voraussetzungen Nicht-Wissen im psychiatrischen Alltag wirkmächtig werden kann. Thüring betont dabei noch einmal die Notwendigkeit, Wissen und Nicht-Wissen als historisch veränderbare Beziehungen wahrzunehmen.

Beide Sammelbände zeigen deutlich, wie sinnvoll eine ernst genommene programmatische Klammer, die die Texte zusammenbindet, sein kann. Die Autoren halten sich an den jeweils gesteckten Rahmen und machen die Sammelbände inhaltlich kohärent. Den Autoren des Hess/Schmiedebach-Bandes gelingt es besonders eindrucksvoll, das Konzept der Schwellenräume in die Analysen einzubinden, es anzuwenden. In den Beiträgen zeigt sich, dass der kontinuierliche Austausch in thematischen Projektverbünden und die damit verbundene beständige Diskussion der Ergebnisse sehr produktiv sein kann. Den Erkenntnissen, die in beiden Sammelbänden erarbeitet worden sind, bleibt eine möglichst breite Wirkung zu wünschen. Zu hoffen ist, diese Anmerkung aus Sicht eines Sozialhistorikers sei erlaubt, dass im Anschluss vermehrt versucht wird, die Ergebnisse in weiteren Projekten im Alltag von Psychiatrie, Anstalt und Gesellschaft zu verorten sowie sie in internationale Entwicklungen um 1900 einzubinden.

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