F. T. Rulitz: Die Tragödie von Bleiburg und Viktring

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Titel
Die Tragödie von Bleiburg und Viktring. Partisanengewalt in Kärnten am Beispiel der antikommunistischen Flüchtlinge im Mai 1945


Autor(en)
Rulitz, Florian Thomas
Anzahl Seiten
420 S.
Preis
€ 32,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Stachel, Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien

Einige Kilometer außerhalb des südkärntnerischen Städtchens Bleiburg/Pliberk liegt inmitten eines Feldes eine vom kroatischen Staat errichtete Gedenkstätte. Alljährlich zum 15. Mai pilgern über zehntausend Kroaten nach Kärnten, um der „Tragödie von Bleiburg“ zu gedenken. Dabei handelt es sich um einen zentralen Gedächtnisorte Kroatiens. Ähnlich verhält es sich aus slowenischer Sicht mit dem im Süden Klagenfurts gelegenen Viktring („Drama um Viktring“), wenngleich dieser Gedenktag weniger öffentlichkeitswirksam begangen wird als sein kroatisches Pendant.

Die Studie des Kärntner Historikers Florian Thomas Rulitz stellt zumindest im deutschen Sprachraum1 den ersten Versuch dar, die Ereignisse, die den heutigen Gedenkveranstaltungen zu Grunde liegen, umfassend aufzuarbeiten. Anfang Mai 1945 versuchten zahlreiche jugoslawische Staatsbürger aus dem Einflussbereich der kommunistischen Tito-Partisanen nach Österreich zu flüchten. Im Wesentlichen handelte es sich dabei um Angehörige der Armeen und Milizen des mit NS-Deutschland verbündeten unabhängigen kroatischen Staats, um antikommunistische serbische und teils auch montenegrinische Tschetniks, sowie um Mitglieder der slowenischen Landwehr (Domobranzen). Vielfach wurden diese Flüchtlinge von ihren Familienangehörigen begleitet: Rulitz schätzt die Gesamtzahl auf rund eine Viertelmillion Personen, räumt aber selbst ein, dass eine halbwegs genaue Zahl kaum zu ermitteln sei (S. 312–314). Auf dem Bleiburger Feld ergaben sich die Flüchtlinge der 8. Britischen Armee. Noch im Mai 1945 wurde in einem britisch-jugoslawischen Abkommen die Auslieferung sämtlicher auf österreichischem Gebiet befindlicher jugoslawischer Staatsbürger vereinbart: Unverzüglich, zwischen dem 18. und dem 24. Mai, wurden die eben erst ihren Verfolgern entkommenen kroatischen Flüchtlinge auf dem Bleiburger Feld, zwischen dem 24. und dem 31. Mai die Serben, Montenegriner und Slowenen, Letztere vor allem aus dem Flüchtlingslager Viktring, den Tito-Truppen übergeben, wobei den Opfern teilweise suggeriert wurde, dass sie nach Italien verbracht werden würden. Wiewohl Jugoslawien formal eine korrekte Behandlung der Gefangenen zusicherte, kann es bei den britischen Militärbehörden – ähnlich wie im Fall der Auslieferung der in der Steiermark gestrandeten Wlassow-Kosaken an die Sowjetunion – in Wahrheit keinen Zweifel darüber gegeben haben, dass die Auslieferung der Gefangenen an ihre Todfeinde für viele von ihnen den sicheren Tod bedeuten würde. Denn bereits vor dem Abkommen hatte die Jugoslawische Volksarmee noch auf österreichischem Boden mit den Massakern an den Gefangenen begonnen. Die weitaus überwiegende Zahl der anfangs völlig willkürlich, später scheinlegal nach inszenierten Schnell-Prozessen vollzogen Morde, die teilweise mit Folter und Verstümmelungen einhergingen, fand freilich erst in der Folge statt, als die Gefangenen teilweise in Viehwaggons und auf LKWs, teilweise in so genannten Todesmärschen, nach Jugoslawien verbracht wurden. Vereinzelt finden sich auch Angehörige von Wehrmacht und SS, sowie verschleppte österreichische Zivilisten unter den Opfern: Rulitz gibt die Zahl der unmittelbar nach Kriegsende ermordeten österreichischen Zivilpersonen mit 96 an und vermutet, dass etwa zwei Drittel von ihnen in einem insgesamt wahrscheinlich rund 700 Leichen umfassenden Massengrab im slowenischen Leše/Liescha, unweit der österreichischen Grenze, vergraben wurden; gesicherte Daten liegen dafür jedoch bislang nicht vor (S. 267). In der Hauptsache zielte der Massenmord auf jugoslawische Staatsbürger ab: Zum einen rächten sich die siegreichen kommunistischen Partisanen damit an ihren unterlegenen Feinden, ganz wesentlich dienten die Morde aber auch der gezielten Eliminierung möglicher künftiger politischer Konkurrenten und der Absicherung der Herrschaft in Nachkriegs-Jugoslawiens.

„Die Tötungs- und Grabstätten der von der jugoslawischen Armee ermordeten Flüchtlinge auf österreichischem Staatsgebiet kommen in der Wissenschaft überhaupt nicht zur Sprache“ (S. 45), fasst Rulitz den Forschungsstand zur Thematik vor seiner Publikation zutreffend zusammen, und dokumentiert anhand von lokalen Gendarmerieberichten, Pfarr- und Gemeindechroniken und unter Einbeziehung jugoslawischer und britischer Quellen, sowie teilweise auch mündlichen Berichte, penibel und im Detail die Vorfälle auf österreichischem Territorium (S. 200–243) und, etwas weniger detailliert, die darauffolgenden in Jugoslawien (S. 243–270). Exakte Opferzahlen lassen sich nicht ermitteln, da die Jugoslawische Volksarmee die Leichen der Ermordeten teilweise mitnahm und auf eigenem Staatsgebiet verschwinden ließ. Insgesamt, also nicht nur auf die Ereignisse in Kärnten bezogen, gehen seriöse Schätzungen von zehntausenden Opfern aus; allein auf dem Gebiet des heutigen Slowenien sind über 600 Massengräber bekannt, die bis heute nicht detailliert untersucht wurden, in Kroatien werden mehr als 900 vermutet (S. 48). In Kärnten, so Rulitz, lassen sich zwischen 250 und 350 Morde halbwegs sicher dokumentieren, „vernünftige Schätzungen“ gingen von über 1.000 Todesopfern aus (S. 311). Hier, wie auch an anderen Stellen bleibt beim Leser allerdings ein gewisses Unbehagen zurück: Wie „vernünftig“ können derartige Schätzungen sein, wenn sich genauere Zahlen nicht ermitteln lassen?

In der jugoslawischen Erinnerungskultur nach 1945 wurden die Ereignisse zu den „Endkesselschlachten“ des Krieges und zum „großen Finale in Kärnten“ umgedichtet: Der Massenmord an unbewaffneten Gefangenen mutierte zum heroischen Kampfgeschehen im „antifaschistischen Volksbefreiungswiderstand“ (S. 37). In Österreich wurden die ersten zarten Ansätze zu einer zumindest partiellen Aufarbeitung des Geschehens unterdrückt: Als Anfang der 1950er-Jahre einige Kärntner Tageszeitungen den Geschehnissen vom Mai 1945 nachzugehen begannen, kam es zu massiven Protesten von Seiten Jugoslawiens (S. 46). Als Folge dieses Verschweigens blühten Mythen, die zu einer skurrilen Opferkonkurrenz führten: Bekannte Massengräber wurden von rechts gerichteten „deutsch-Kärntner“ Agitatoren als Grabstätten von durch Partisanen ermordeten „Heimkehrern“, von der Gegenseite als Gräber von der Wehrmacht getöteter Partisanen jeweils für die eigene Sache in Anspruch genommen. Wie brisant die Thematik blieb, belegt der Umstand, dass einer der Organisatoren der frühen Bleiburger Gedenkveranstaltungen, der als Gemüsehändler in Österreich lebende Exil-Kroate Nikica Martinovič, 1975 in Klagenfurt einem Mordanschlag zum Opfer fiel (S. 297–305).

Bei allen unbestrittenen Verdiensten der Studie sind doch zumindest zwei Kritikpunkte anzumerken. Die Erinnerung an die Massaker hat zu verschiedenen Formen einer teils religiös überhöhten (Kreuzweg, Golgatha), teils nationalistisch instrumentalisierten Gedenkkultur geführt, was in einigen neueren Studien thematisiert wird2, die Rulitz nebenbei und in eher abfälligem Ton abtut (S. 42f.). Der berechtigte Verweis auf die Faktizität der Ereignisse ist jedoch kein Argument dagegen, Formen der politischen Instrumentalisierung des Gedenkens kritisch zu analysieren. Ähnlich verhält es sich mit Rulitz’ Ausführungen zur Vorgangsweise der britischen Besatzungsmacht, die zwar im Ablauf detailliert dargestellt wird (S. 166–179), bei der aber ein tieferes Eingehen auf die tatsächlichen Handlungsoptionen und die strategischen Planungen der Briten fehlt. Dass die Auslieferung der Flüchtlinge zumindest teilweise ein unmoralisches Abtauschgeschäft war – im Gegenzug verpflichteten sich die Tito-Truppen zum Abzug aus Österreich – trifft wohl zu, realistisch betrachtet fehlte den britischen Truppen aber einerseits die Möglichkeit, die große Zahl an Flüchtlingen zu versorgen, andererseits ging – wie Felix Schneider in seiner Grazer Diplomarbeit bereits 1993 dargelegt hat – die strategische Planung der Briten für die Besatzung von einem langanhalten (para)militärischen Widerstand einer organisierten nationalsozialistischen Untergrundarmee aus.3 Unter diesen, wie sich zeigen sollte, falschen Prämissen, konnte die Anwesenheit von zumindest zum Teil militärisch ausgebildeten und organisierter Menschenmassen als unkontrollierbares Sicherheitsrisiko erscheinen. Dies rechtfertigt die britische Auslieferungspolitik nicht in moralischem Sinn, es macht aber zumindest die Hintergründe für diese Entscheidung nachvollziehbar.

Diese Einwände können jedoch den grundsätzlich hohen Wert der Arbeit nicht entscheidend schmälern. Rulitz’ Studie räumt mit historischen Mythen auf und stellt in Österreich dem jahrzehntelange Verschweigen und der damit einhergehenden Flüsterpropaganda über die Geschehnisse um Bleiburg und Viktring penibel recherchierte und quellenmäßig abgesicherte Fakten entgegen. Dass ein Bedürfnis danach bestand, belegt nicht zuletzt der Umstand, dass mittlerweile bereits eine erweiterte und überarbeitete zweite Auflage sowie eine kroatische Übersetzung des Buches vorliegen. Als Reaktion auf die Veröffentlichung hat die Staatsanwaltschaft Kärnten Ermittlungen wegen „Verbrechens gegen die Menschlichkeit“ – ein Delikt, das in Österreich nicht verjährt – aufgenommen. Realistisch betrachtet wohl nicht mehr als ein symbolischer Akt – aber: Immerhin das.

Anmerkungen:
1 Vgl. John Prcela / Stanko Guldescu (Hrsg.), Operation Slaughterhouse. Eyewitness Accounts of Postwar Massacres in Yugoslavia, Philadelphia 1970.
2 Vgl. v.a.: Ljiljana Radonic, Krieg um die Erinnerung. Kroatische Vergangenheitspolitik zwischen Revisionismus und europäischen Standards, Frankfurt am Main 2010. Diese Studie wird von Rulitz nicht erwähnt.
3 Felix Schneider, Aspekte britischer Sicherheitspolitik zur Zeit der Besatzung in Österreich 1945–1948 unter besonderer Berücksichtigung der Steiermark, Diplomarbeit Universität Graz 1993, insbesondere S. 69. Ders., Britische Sicherheitspolitik im Rahmen alliierter Besatzung in Österreich. Ein Überblick, in: Beiträge zur historischen Sozialkunde 2, 1995, S. 52–56.

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