N. Frei u.a. (Hrsg.): Den Holocaust erzählen

Cover
Titel
Den Holocaust erzählen. Historiographie zwischen wissenschaftlicher Empirie und narrativer Kreativität


Herausgeber
Frei, Norbert; Kansteiner, Wulf
Reihe
Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts 11
Erschienen
Göttingen 2013: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
272 S.
Preis
€ 18,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniel Siemens, School of Slavonic and East European Studies, University College London

Es ist noch nicht lange her, da galten „Erklären“ und „Erzählen“ vielen Historikern in Deutschland als sich gegenseitig ausschließende Begriffe: Erklärungen zu liefern war das wissenschaftliche Ziel, das nicht zuletzt mittels sozialwissenschaftlicher Analysen erreicht werden sollte. Das Erzählen stand dagegen im Ruf des „Nur-Literarischen“, es wurde als antiquiert oder als theoretisch unterkomplex geschmäht. Dies galt besonders für die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust: Gerade hier, in einer für viele auch aus biographischen Gründen zentralen Frage der Zeitgeschichte, müsse erklärt und analysiert werden – nicht zuletzt, um einer möglichen Wiederkehr der nationalsozialistischen Barbarei ein für allemal vorzubeugen. Zeitgeschichte sollte aufklären – explizit gerichtet gegen in der Gesellschaft lange Zeit populäre Erzählungen des Verharmlosens, Verzerrens und Verschweigens.

Besonders Hayden Whites epochemachende „Metahistory“ aus dem Jahr 1973 verdeutlichte allerdings, dass es sich hier aus geschichtstheoretischer Sicht um einen Scheingegensatz handelt.1 Keine historiographische Darstellung kommt umhin, sich einer wie immer gearteten Form zu bedienen, eben weil sie ein Kommunikationsakt ist. Diese Form ist stets (auch) Erzählung, und – so argumentierte White in seinen Analysen maßgeblicher Historiker des 19. Jahrhunderts – die spezifische Art jeder Erzählung, also die Perspektive der Darstellung und ihre literarische Ausgestaltung, ihr „emplotment“, bestimmt deren Charakter entscheidend mit.

Welche Folgen solche zunächst aus der Literaturwissenschaft stammenden Einsichten für die Praxis geschichtswissenschaftlichen Arbeitens haben könnten, diskutierten maßgebliche Vertreter des Faches auf Einladung von Saul Friedländer im Jahr 1990 unter dem Titel „Probing the Limits of Representation“ in Los Angeles.2 In ausdrücklicher Anlehnung daran und mit dem selbstbewussten Anspruch der Fortführung lud das „Jena Center für Geschichte des 20. Jahrhunderts“ 2011 zu einer thematisch ähnlichen Tagung. Diesmal hieß es programmatisch „Den Holocaust erzählen“.3 Nicht mehr das Für und Wider einer erzählenden Geschichtsschreibung standen im Vordergrund, sondern deren Möglichkeiten und erkenntnistheoretische Implikationen. An den dreitägigen Debatten nahmen neben Saul Friedländer, Hayden White und Christopher R. Browning führende Vertreter der deutschsprachigen Zeitgeschichtsforschung teil. Ausgangspunkt der Diskussionen waren Analysen zweier in vielerlei Hinsicht unterschiedlich erzählter Geschichtsbücher von unbestrittenem Rang: Friedländers „The Years of Extermination“ und Brownings „Remembering Survival“.4 Beide Bücher wurden in Jena umfassend auf ihre Form hin analysiert und gedeutet – so genau, dass die anwesenden Autoren milden Einspruch gegen eine in der Form höchst schmeichelhafte, aber vielleicht mitunter zu weitgehende Theoretisierung erhoben.

Der vorliegende Band macht es nun möglich, die Diskussionen nachzulesen. Wulf Kansteiner gelingt es in seiner thematischen Einführung vorzüglich, das theoretische Grundproblem zu erläutern und die Geschichte der entsprechenden Debatte seit 1990 zusammenzufassen. Seine Analyse der beiden Schriften von Friedländer und Browning spricht zudem viele Aspekte an, die von den weiteren Kommentatoren und Beiträgern aufgegriffen, vertieft und diskutiert werden. Kansteiner würdigt Friedländers an den Stilelementen der literarischen Moderne orientierte Erzählweise, weil sie einer „intellektuellen Domestizierung des Holocaust“ entgegenwirke (S. 21); statt der „beruhigenden Welt historischer Sinnbildung“ zu huldigen, konfrontiere Friedländer seine Leser immer wieder erneut mit der Fassungslosigkeit der Opfer (S. 22). Nur das moderne Erzählen, das Brüche und Diskontinuitäten in der Darstellung zulasse, sei letztlich geeignet, der Dimension des Unbegreiflichen und der Würde der Opfererfahrung wenigstens ansatzweise gerecht zu werden, erläutern Kansteiner (und nach ihm auch White in seinem Beitrag) die Position Friedländers.

Während Friedländers Erzählhaltung letztlich skeptisch-pessimistisch sei, beschreibt Kansteiner die Herangehensweise Brownings als optimistisch. Nicht weniger kunstvoll und komplex erzählt, produziere Browning letztlich „das befriedigende Gefühl intellektueller Kontrolle“ (S. 40), allerdings aus einem ähnlich starken moralischem Impetus heraus. Bei Browning stehe jedoch nicht die Fassungslosigkeit der Opfer im Vordergrund, sondern ihre Fähigkeit und Würde, von ihrer Geschichte selbst Zeugnis abzulegen, sich also auch in existenzbedrohenden Situationen als geschichtsmächtige Akteure zu behaupten. Vornehmste Aufgabe der Historiker müsse es sein, diese Bemühungen nach Kräften zu unterstützen; statt den sinnlosen Schrecken erneut in Szene zu setzen, sollten sie rational nachvollziehbare, mit Hilfe wissenschaftlicher Methoden erarbeitete Sinndeutungen zur Diskussion stellen. Damit tritt Browning, wie vor allem Daniel Fulda in seinem Beitrag herausarbeitet, der These von der „Nichterzählbarkeit“ des Holocaust eindrucksvoll entgegen. Fuldas Aufsatz wie auch die meisten anderen Beiträge unterstreichen, dass beide Zugangsweisen legitim und wissenschaftlich fundiert sind. Eine Falsifizierung ist allenfalls auf der Ebene der Fakten möglich, nicht jedoch auf der Ebene des „emplotment“. Die Grundentscheidung, zu welchem Ende erzählt wird, bestimmt nicht nur die gewählten (Darstellungs-)Mittel, sie ist auch außertheoretisch – und letztlich ethisch-moralisch. Man könnte damit sagen, dass sich Whites Ansatz auch für eine Analyse von zwei grundlegenden Büchern der neueren Holocaust-Forschung als aufschlussreich erwiesen hat – allerdings ohne dass diese Untersuchungen in gleichem Maße systematisiert und verallgemeinert wurden wie seinerzeit in „Metahistory“.

Die schriftliche Wiedergabe einer Podiumsdiskussion unter dem weitgreifenden Titel "Der Beruf der Geschichtstheorie und die Zukunft der Zeitgeschichte", an der neben ausgewiesenen Historikern auch Vertreter benachbarter Fächer zu Wort kamen, schließt sich an die umfangreichen Analysen der beiden oben genannten Bücher an. Die Zugänge Friedländers und Brownings verdeutlichten gerade wegen ihrer Unterschiede, dass der lange Zeit prominente „Unsagbarkeitsdiskurs“ selbst stärker historisiert werden müsse, hebt Norbert Frei hervor (S. 200). Jörn Rüsen fordert nichts weniger als die „Einführung der Leidenskategorie als historisch-anthropologische Fundamentalkategorie“ (S. 205), während Harald Welzer dem explizit entgegensetzt, dass nicht eine Neufassung abstrakter Kategorien nötig sei, sondern die Analyse der Akteure und ihrer konkreten Handlungen (S. 217f.). Die Taten hingen bekanntlich nicht immer kausal mit den Intentionen der Akteure zusammen. Birthe Kundrus und Birgit Neumann melden schließlich begründete Zweifel an, ob die Fassungslosigkeit der Opfer tatsächlich der (einzige) angemessene Ausgangspunkt für eine Analyse der „weltgeschichtlichen Bedeutung des Holocaust“ sei (S. 211, S. 214f.). Diese Frage stelle sich nicht nur wegen der zwangsläufig begrenzten analytischen Aussagekraft einzelner Erklärungsansätze, sondern auch mit Blick auf die Zukunft: Spätere Historiker/innen dürften nicht bloß andere Fragen an die Geschichte richten; sie müssten zugleich über die narrative Modellierung ihrer Geschichten neu nachdenken (dürfen).

Der Sammelband „Den Holocaust erzählen“ ist, gerade wegen der fundamentalen Bedeutung der im Buch meist auf sehr hohem Niveau verhandelten Fragen, auch über den Kreis von Holocaust-Forschern hinaus unmittelbar anschlussfähig. Das Werk ist in seinen besten Teilen eine Art Metahistory der Metahistory. Der Band ist unbedingt lesenswert: als Bestandsaufnahme einer der grundlegenden erkenntnistheoretischen Debatten in der modernen Geschichtswissenschaft, als überzeugendes Statement für den letztlich zutiefst moralischen Charakter auch der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung sowie als fortwirkende intellektuelle Herausforderung. Ein „besonderer Glücksfall“ sei das Zusammentreffen in Jena gewesen, schreibt Norbert Frei in seinem Vorwort (S. 9). Der vorliegende Tagungsband zeigt warum.

Anmerkungen:
1 Hayden White, Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe, Baltimore 1973.
2 Saul Friedländer (Hrsg.), Probing the Limits of Representation. Nazism and the „Final Solution“, Cambridge 1992.
3 Die Tagung selbst hatte noch ein Fragezeichen im Titel, auf das bei der Publikation nun verzichtet wurde. Siehe den Tagungsbericht von Thomas Köhler, 16.12.2011: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=3961> (9.10.2013). Ergänzend sei hier außerdem auf einen früheren Band derselben Reihe verwiesen, mit ähnlichem Titel: Saul Friedländer, Den Holocaust beschreiben. Auf dem Weg zu einer integrierten Geschichte, Göttingen 2007.
4 Ders., The Years of Extermination. Nazi Germany and the Jews, 1939–1945, New York 2007; Christopher R. Browning, Remembering Survival. Inside a Nazi Slave-labor Camp, New York 2010.