Cover
Titel
Debtor Nation. The History of America in Red Ink


Autor(en)
Hyman, Louis
Reihe
Politics and Society in Twentieth Century America
Erschienen
Princeton, NJ 2012: Princeton University Press
Anzahl Seiten
392 S.
Preis
€ 20,76
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Felix Krämer, Graduiertenkolleg „Dynamiken von Raum und Geschlecht“, Kassel/Göttingen

Um das gegenwärtige Kreditsystem zu begreifen, bedürfe es eines Verständnisses seiner Historie, erklärt Louis Hyman in der Einleitung des vorliegenden Bandes. Seine Geschichte beginnt in den USA der 1920er-Jahre, „als Kredit modern wurde“, und führt in sieben, teils zeitlich überlappenden Kapiteln die Entwicklung von Kreditmärkten und darin verstrickter Akteure vor Augen. Hyman richtet seinen Blick verstärkt aufs Geschäft und die politische Dimension der Finanzmärkte.1 Dennoch bekommt er auch diejenigen Kreditvergabepraktiken in den Blick, über die soziale Ungleichheiten immer wieder äußerst wirksam geworden sind. Die Mehrzahl der Frauen und Afroamerikaner/innen hätten meist schlechtere Konditionen bekommen als weiße Männer, stellt er fest (S. 7). Nach dem Zweiten Weltkrieg habe die Geschichte des Kreditwesens in den USA einen anderen Weg genommen als anderswo, so die Begründung für die Beschränkung auf einen nationalen Untersuchungsrahmen.

Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren es überwiegend Wucherer, die Arbeiter/innen und Geschäftsleuten Geld gegen horrende Zinsen liehen. Das alltägliche „Anschreiben“ bei kleinen Ladenbesitzern war dagegen für die Gläubiger ein unrentables Geschäft. Im ersten Kapitel stellt Hyman dar, wie sich in den 1920er-Jahren ein veritabler Konsumschuldenmarkt entwickelte. Gesetzliche Regulierungen sorgten dafür, dass Schuldner vor überzogenen Zinsforderungen im Schattenmarkt geschützt wurden und sich legalen Finanzhändlern die Möglichkeit bot, ihre Ausstände durch die Polizei eintreiben zu lassen (S. 17f.). Außerdem kurbelten Auto- und Maschinenhersteller wie General Motors oder General Electric den Konsum der eigenen Produkte über Kredite an. Überzeugend erklärt Hyman, wie bestimmte Weiblichkeits- und Männlichkeitsbilder in Darstellungen von Verschuldung reproduziert wurden (S. 36–44). Die erste Phase der Expansion des Kreditschuldenmarktes in den 1920er-Jahren endete mit Beginn der Großen Depression.

Das zentrale Thema des zweiten Kapitels ist die Entstehung eines nationalen Hypothekenmarktes. In den 1920er-Jahren waren es neben Konsumkrediten auch Immobilienkredite, die in Form von „balloon mortgages“ Wohneigentum, aber auch Immobilienspekulation ermöglichten. Kredite hatten eine bestimmte Laufzeit und wurden dann auf einen Schlag samt Zinsen ausgelöst, in der Regel durch neue Kreditaufnahme oder durch Verkauf. Ab 1929 brachte die Finanzkrise diese Finanzierungsform zum Erliegen. Banken gaben Schuldner/innen keine neuen Darlehen mehr, und um den Kollaps zu stoppen, wurde die Regierung im Schuldenmarkt aktiv (S. 49). Unter anderem entwickelte sich das Raten- und Tilgungsdarlehen, das als marktwirtschaftliches Instrument der Immobilienverschuldung zum Durchbruch (S. 53) und im Ergebnis vielen Familien der weißen Mittelschicht bis Ende der 1930er-Jahre zu Eigenheimen verhalf (S. 72).

Das dritte Kapitel dreht sich um den Wandel der Konsumschuldenpraktiken, der durch ein Zusammenspiel aus Krise, Regierungsinitiative und Finanzwelt zustande kam. Hyman zeigt, wie sich Ende der 1920er-Jahre die Kontur des Privatkundenkredits ausbildete. Durch die staatliche Absicherung wurde von 1934 an die Skepsis von Bankern gegenüber Privatkonsumkrediten gedämpft und es bildete sich ein lukrativer Finanzsektor in diesem Bereich. In der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre lösten Privatkredite die Betriebsfinanzierung als dominanten Wachstumsmarkt im US-Finanzsektor ab (S. 86–92). Zusammenfassend stellt Hyman fest, die Banken hätten in der Großen Depression gelernt, dass Konsumentenkredite eine lohnende Alternative zur Wirtschaftsfinanzierung waren (S. 96).

Unter dem Titel „War and Credit“ beginnt das vierte Kapitel mit der Geburtsstunde der Kreditkarte. Hyman dekonstruiert den Mythos um den Diners Club Gründer Frank McNamara und dessen angeblich erfindungsreiche Intuition bei der ersten Kreditkartennutzung im Jahr 1950 (S. 98). Dagegen leitet er die spätere Erfolgsgeschichte der Kreditkarte aus der Finanzpolitik der 1940er-Jahre und aus wirtschaftspolitischen Interventionen vor dem Hintergrund von Kriegsfinanzierung und Inflationsprävention her (S. 100f.). Eine gesetzliche Bestimmung zur Kreditvergabe namens Regulation W wurde durch Mitarbeiter der Federal Reserve Bank zu Beginn der 1940er-Jahre erarbeitet und veränderte die herkömmlichen Verschuldungspraktiken (S. 105f.). Die Regulation limitierte Kreditvergabe zeitlich und die Spanne des Zinssatzes sollte die Anbieter zwingen, genau zwischen den beiden gängigen Finanzierungsmethoden Zinsdarlehen und Kreditkonto zu unterscheiden. Der Versuch, diese Unterscheidungen zu umgehen, führte zur Herausbildung dritter Wege (S. 113). Hyman zeigt zudem für die Finanzpolitik in den 1950er-Jahren, wie die Interessen zur jeweiligen Kriegsfinanzierung – im Zweiten Weltkrieg anders als zur Zeit des Koreakrieges – jeweils die Regulations- und Zinspolitik beeinflussten (S. 129). Schließlich waren Kredite in eine Gesellschaftsstruktur zwischen Konsum und sozialem Aufstieg eingedrungen, hatten sich in den 1950er-Jahren mit den Einkaufsläden aus den Innenstädten in die Suburbs aufgemacht, wo immer mehr Menschen ihren Konsum „auf die Karte nahmen“, wie Hyman formuliert (S. 131).

Das fünfte Kapitel vertieft sich in die soziale Architektur des Schuldenkonsums der Nachkriegszeit. Im Windschatten der Konsumentenkredite war der Ratenkauf für eine breite Mitte der US-Gesellschaft von der Ausnahme zur Regel geworden. Nur die ärmsten und reichsten Leute hätten in den 1950er-Jahren keine Schulden gemacht, und Hyman schlussfolgert, dass innerhalb der Mittelschicht die Schuldenpraxis die Klassengrenzen verschleiert habe (S. 135 u. 137). Vor dem Hintergrund der Expansion von Privatschulden war die Ungleichheit im Kreditzugriff zwischen Afroamerikaner/innen und Weißen in den 1950er- und 1960er-Jahren eklatant (S. 139–144). Hyman stellt zudem fest, das Schuldensystem habe Gesellschaft und Wirtschaft in den 1960er-Jahren grundlegend verändert. Konzerne wie General Electric hatten große Finanzdienstsparten ausgebildet, die jenseits vom Verkauf der eigenen Industrieprodukte operierten. Die US-Gesellschaft wandelte sich innerhalb dieses Prozesses in eine Finanz- und Servicegesellschaft mit gewaltigen sozialen Unterschieden (S. 172).

Das sechste Kapitel ist diesen Differenzen auf dem Terrain der Kreditpraktiken gewidmet. Hyman zeigt, wie die Protestgeschichte der Afroamerikaner/innen in den 1960er-Jahren auch als ein Aufstand gegen ökonomische Zwangslagen und im Besonderen gegen ungleiche Verschuldungsbedingungen zwischen den Ghettos der Innenstädte und den Vorstädten gelesen werden kann (S. 174–190). Auch der emanzipative Kampf um gleichen Kreditzugriff für Frauen war Teil dieser gesellschaftlichen Diskussion. Hyman legt dar, dass sich parallel zum Abbau von direkter Diskriminierung in der Kreditvergabe in den 1970er-Jahren der Zugriff auf geborgte Liquidität zu Konsum- bzw. Überlebenszwecken derart ausweitet, dass es gewissermaßen kein Außerhalb dieses Existenzrahmens mehr gab. Computerisierte Systeme begannen bei der überwältigenden Mehrzahl der Anbieter die Kreditvergabe nach Stadtbezirk oder nach anderen diskriminierenden Kriterien zu ersetzen und gleichzeitig schwoll die Summe der nicht ausgelösten Schulden in der Bevölkerung bei stagnierenden Einkommensverhältnissen an (S. 219).

Das abschließende Kapitel zeigt zunächst, wie der „Housing Act“, der 1968 zur Lösung städtischer Wohnungsprobleme eingebracht worden war, die Voraussetzung für eine boomende Kreditwirtschaft in den 1970er-Jahren schuf (S. 220–234). Kreditkartennutzung wurde bereits zu Beginn der 1980er-Jahre zum lukrativsten Sektor im Bankgeschäft, das immer noch diskriminierend operierte (S. 240f.; 242; 247). In jenem Jahrzehnt entwickelte sich das Splitten und der Weiterverkauf von Verbindlichkeiten zur vorherrschenden Marktpraxis, und aus Immobilienkrediten und Kreditkartenverbindlichkeiten wurden verkäufliche Verbriefungen, wodurch das verfügbare Kreditvolumen noch einmal immens anschwoll. Hymans Blick auf die gesellschaftliche Verschärfung ökonomischer Verhältnisse in den 1990er-Jahren ist vor diesem Hintergrund immens aufschlussreich (S. 259ff.). Aufbauend auf die Idee, dass nicht-abzahlende Schuldner/innen als kreditwürdiger gehandelt werden könnten, weil sie eben dauerhaft Zinsen zahlen mussten, wurde in den 1990er-Jahren der Kreditkartenmarkt pulsierend erweitert. Ärmere Leute seien in der Rezession 1991 gezwungen gewesen, finanziellen Zwangslagen mit weiterer Verschuldung zu begegnen. 1994 gab es in den Vereinigten Staaten 313 Millionen Kreditkarten und damit mehr als dort Menschen lebten (S. 264). Der Kreditmarkt suchte sich immer neue Absatzmärkte, um in zinspflichtige Abhängigkeiten zu investieren. Mangelnde Regulation beförderte diese Expansion. In der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre trat die variable Zinsrate ihren Siegeszug an; und Menschen lösten ihre Konsumschulden aus, indem sie ihre Häuser zu besseren Konditionen beliehen (S. 276). Die Entwicklung zu verschachtelten und unüberschaubaren Schuldenströmen, die stetig anschwellend durch die US-Gesellschaft trieben, fasst der Autor am Ende des Kapitels in die Formel: „The same banal and brutal process of allocating capital that had made postwar America prosperous had come to undermine its long-term viability.“ (S. 280)

Hyman buchstabiert die Entwicklung nicht bis in die jüngste Immobilienkrise hinein aus. Doch alle Aktanten der finanzpolitischen Krisenereignisse 2007/2008 hat er in ihrer historischen Genese am Ende präsentiert. Den Band beschließt ein Epilog, welcher sich auf das gegenwärtige Problem bezieht (S. 281ff.). Hyman bekennt, er glaube an die Innovationskraft seiner Gesellschaft, Lösungen jenseits von Staatsverschuldung und des Ausgleichs von Verdienstunterschieden durch Privatkredite zu finden (S. 286). Über diese Lösungsmöglichkeiten hätte man gerne noch mehr erfahren. Nach der Lektüre des Buches bleibt die Frage, ob die Schuldenhistorie nicht stärker in grenzüberschreitender Perspektive verortet werden müsste, so überzeugend die Betrachtung der vielen nicht-intendierten Konsequenzen der Schuldenpolitik in den USA auch ist. Wenig Aufmerksamkeit schenkt der Autor auch der Öffentlichkeit und medialen Darstellungen in der Schuldendiskussion. War Finanzpolitik bis zum medialen Ereignis der Lehman-Pleite 2008 vornehmlich eine Geschichte der Hinterzimmer oder lassen sich nicht doch die medialen Spuren ihrer Moralisierung an verschiedenen Enden durch das 20. Jahrhundert verfolgen? Diese offenen Fragen schmälern das Verdienst der Untersuchung jedoch nicht, die einem gegenwärtigen Problem aufschlussreich historische Tiefenschärfe liefert, unbesehene Geschichten zutage fördert und Blindspots der ökonomischen Kultur der USA beleuchtet. Und die finanzpolitischen Ideen, die in der US-Politik im Zusammenspiel mit dem nationalen Schuldenmarkt entwickelt worden waren, wurden schließlich nicht folgenlos auch anderswo adaptiert. Das Buch ist anregend geschrieben, und Arbeiten aus dem Feld der Schuldengeschichte werden sich zu Louis Hymans analytischem Blick auf seine eigene Gesellschaft in Bezug setzen müssen.

Anmerkung:
1 Hyman meint, Historiker/innen hätten sich in jüngster Vergangenheit zu sehr auf „kulturelle Ideen“ von Schulden konzentriert (S. 6f.). Generell schreiben US-amerikanische Autor/innen seit den 1980er-Jahren zu Konsum- und Schuldenmärkten. Transnationale Perspektiven sind dabei die Ausnahme. Vgl. Daniel Horowitz, The Morality of Spending: Attitudes toward the Consumer Society in America, 1875–1940, Baltimore 1985; Lewis Mandell, The Credit Card Industry: A History, Boston 1990; Lendol Calder, Financing the American Dream: A Cultural History of Consumer Credit, Princeton 1999; Lizabeth Cohen, A Consumers Republic: The Politics of Mass Consumption in Postwar America, New York 2003; Bethany Moreton, To Serve God and Wal-Mart: The Making of Christian Free Enterprise, Cambridge 2009.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension