Mobilität in Russland und der Sowjetunion

Randolph, John; Avrutin, Eugene M. (Hrsg.): Russia in Motion. Cultures of Human Mobility since 1850. Champaign 2012 : University of Illinois Press, ISBN 978-0-252-03703-0 287 S. $55.00

Siegelbaum, Lewis H. (Hrsg.): The Socialist Car. Automobility in the Eastern Bloc. Ithaca 2011 : Cornell University Press, ISBN 978-0-8014-7738-6 256 S. $ 24.95 / € 19,17

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Roland Cvetkovski, Historisches Seminar, Abteilung für osteuropäische Geschichte, Universität zu Köln

Ortswechsel sind uns heute mehr als geläufig. Mobilität ist ein fester und geradezu notwendiger Bestandteil eines verbreiteten Lebensentwurfes, der zunächst einmal mit Freiheit zu tun hat, mit Unabhängigkeit, mit Lust auf Veränderung, mit neuen Möglichkeiten. Aber gleichzeitig ist sie auch mit der Einsicht verbunden, dass bestimmte historische, kulturelle oder auch technologische Umstände jeden Ortswechsel bedingen, nicht selten erfordern und im schlimmsten Fall erzwingen, so dass es mit der Selbstbestimmung, die man für gewöhnlich als ersten und nobelsten Beweggrund anführt, offenbar doch nicht ganz so weit her ist: Die räumliche Veränderung entpuppt sich nämlich nicht selten als Teil einer größer angelegten Politik, Eigenständigkeit schlägt schlagartig um in Imperative der sozialen und kulturellen Anpassung, und die Unmittelbarkeit der Erfahrung koppelt sich an die zunehmend technisierte Umwelt. Diese Zwiespältigkeit des Ortswechsels ist indes kein besonderes Signum unserer modernen Gegenwart, denn auch in historischer Perspektive ist Mobilität nicht als bloße Bewegung zwischen Orten zu verstehen. Sie war begleitet von mannigfachen Voraussetzungen und Implikationen, die sich für die Beteiligten aus einer Ortsveränderung ergaben. Der Raum war eine Ressource, um deren Verfügung, Verteilung, Besetzung und möglicherweise auch Monopolisierung historische Protagonisten mit unterschiedlichen Mitteln kämpften. Historisch bezeichnet Mobilität die Abschreitung, Ausmessung sowie letztlich Manipulation des Raumes und damit einen Prozess, in dem persönliche Autonomie, obrigkeitlicher Regelungswille und technologische Ermächtigung aufeinander treffen. Mit unterschiedlichem Zugriff haben sich nun zwei außergewöhnliche Publikationen dieser Thematik angenommen.

Das Einholen der Bewegung selbst zurück in das historische Narrativ haben sich die zwölf Beiträge im von John Randolph und Eugene M. Avrutin herausgegebenen Sammelband zum Ziel gesetzt. Über die Migrationsforschung hinaus, die sich ja mittlerweile als eigener Forschungszweig etabliert hat, versuchen die Herausgeber, die politische, soziale und kulturelle Geschichte Russlands dezidiert aus der Perspektive sich bewegender Menschen zu schreiben, dadurch die bekannten Problemzugänge um die Kategorie Mobilität zu erweitern und auf bedeutsame Verschränkungen zu verweisen, die sich aus den jeweiligen Mobilitätszusammenhängen ergaben.

Eine dieser Verschränkungen betrifft die Kontroll- und Steuerungsmechanismen von Mobilität. Hier zeigt sich, dass die staatlichen Maßnahmen zu ihrer Regulierung nicht selten über das eigentliche Ziel der Überwachung sowie Lenkung von größeren Bewegungsströmen hinausschossen und beispielsweise ethnischen Separatismen Vorschub leisteten, die das imperiale Gleichgewicht – zumindest aus Sicht der zarischen Administration – ernsthaft in Gefahr bringen konnten. So etwa beabsichtigte Petersburg mit seinem Beschluss, nach der Niederschlagung des polnischen Aufstands 1863 vor allem jüdischen Kaufleuten die Ansiedlung in Kiew zu erleichtern, die politische Diskreditierung und letztlich Eliminierung der polnischen szlachta vor Ort. Diese Bevölkerungsgruppe, die ökonomisch zunehmend an Bedeutung gewann, änderte den demographische Aufbau der Stadt allerdings nachhaltig und ließ, wie Faith Hillis in ihrem Beitrag ausführt, bis 1905 gleichzeitig eine antisemitische Rechte erstarken, die immer mehr Einfluss auf die lokale Politik ausübte, ethnisch motivierte Gewaltausbrüche in Form von Pogromen anzettelte und dadurch die imperiale Machtbalance in der Stadt gefährdete. Auch Chia Yin Hsu verweist für die letzten Jahrzehnte des Zarenreichs auf ähnliche Abspaltungsprozesse im sino-russischen Grenzgebiet, das im Zuge der imperialen Expansion in die Mandschurei und des damit verbundenen Baus der Chinesischen Osteisenbahn aufgetreten waren. Hatte der Ferne Osten aufgrund anderer sozialer Voraussetzungen als in Zentralrussland eine deutlich liberalere lokale Gesellschaft etwa in den Städten Harbin oder Dalni hervorgebracht, setzten die Petersburger Machthaber im Rahmen ihrer Peuplierungspolitik daher gerade das Eisenbahnbauprojekt ganz oben auf ihre koloniale Agenda. Die neue Infrastruktur, mit der man insbesondere die russische Bevölkerung in den Fernen Osten umzusiedeln beabsichtigte, sollte die Region vor allem international wettbewerbsfähig machen, lockte aber zugleich Massen an chinesischen Wanderarbeitern in das Gebiet. Über die moderne Infrastruktur war so am Horizont der imperialen Ordnung plötzlich eine Bedrohung durch die so genannte „gelbe Gefahr“ aufgezogen, deren Auswirkungen sich unter anderem in einer neuen, nach ethnischen Kriterien ordnenden Besiedlungstopografie niederschlugen. Diese Beispiele machen deutlich, dass die Kontrolle über den Zu- und Abzug in erster Linie als Setzung eines staatlich initiierten Handlungsrahmens zu verstehen ist, der von den Akteuren vor Ort aber ganz unterschiedlich und mit teilweise unerwarteten Ausgängen genutzt wurde, welche wiederum weitere, neue Handlungsoptionen schufen.

Mit der Frage, wie bestimmte Bewegungssituationen geschaffen und rezipiert wurden, geraten nun diese Handlungsoptionen und teils sogar die Motive der Akteure besser in den Blick. Für die Möglichkeit etwa, die heimatlichen Gefilde lieber nicht zu verlassen, entscheiden sich offenbar mehrheitlich die gegenwärtigen Bewohner der nordöstlich von Moskau gelegenen Stadt Jaroslawl, wie der sattsam mit statistischem Material belegte Beitrag von Elena Tyuryukanova zeigt. Das einstige Zentrum der Textilindustrie ist mittlerweile in ökonomische Bedeutungslosigkeit abgesunken und bietet seinen Einwohnern nur wenige Arbeitsplätze. Dennoch zieht es diese offensichtlich nicht weg: Einerseits geben sie an, dass der Staat zu wenig Anreize für einen Wegzug biete, andererseits erwarten sie durch einen Ortswechsel aber auch keine nennenswerte Verbesserung ihrer Lebensumstände, und so verharren sie letztlich im traditionellen Verhaltensmodell und bleiben einfach, wo sie sind. Mobilität haftet hier nach wie vor etwas Ungewohntes, bedrohlich Innovatives an, so dass die Bewohner zur Rechtfertigung ihres Handelns auf stereotype, hauptsächlich den Staat zur Verantwortung ziehende Argumentationsmuster zurückgreifen. Viel differenzierter sind wiederum die Wahrnehmungen jener asiatischen Migranten, die unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg nach Moskau und Leningrad gelotst worden waren, um am Aufbauprogramm der beiden urbanen Aushängeschilder der Sowjetunion mitzuarbeiten. Hier zeigen die Erinnerungen, die Jeff Sahadeo den Betroffenen in Interviews entlockt hat, dass die Parole der Völkerfreundschaft in den konkreten Begegnungen teilweise zwar bekräftigt, vielfach aber auch gebrochen, und zum Teil unterlaufen wurde, da die Migranten angesichts einer beginnenden räumlichen Stratifikation des Stadtgebiets unterschiedliche Strategien der Anpassung entwickeln mussten, um beispielsweise im begehrten Stadtzentrum wohnen zu können. Die ideologisch eigentlich unzulässige ethnische Segregation, die sich daraus letztlich ergab, verband sich aber gegen Ende der Sowjetunion mit zunehmender Toleranz seitens der Moskauer Bevölkerung, die sich nach dem Systemzusammenbruch 1991 allerdings nicht weiter in der Gesellschaft halten konnte. Die unterschiedlichen Erfahrungen der spätsowjetischen Migranten verweisen jedenfalls deutlich darauf, wie die Ideologie des Miteinanders bei gleichzeitiger Ausblendung der ethnischen Differenz an die tatsächliche Praxis im öffentlichen Raum angepasst werden musste. Nur im Idealfall wurde in den ideologischen Schmelztiegeln der beiden Hauptstädte aus einem Steppenbewohner der Peripherie ein stolzer Sowjetbürger.

Jegliche Bewegungsströme zu planen, zu kanalisieren und zu regulieren, erfordert einen immensen Aufwand. Dennoch scheint für den Sowjetstaat Mobilität ein probates Mittel gewesen zu sein, um ein Gefühl der Zusammengehörigkeit zu erzeugen, wie Diane Koenker darlegt. Zwischen 1930 und 1960 benutzte der sowjetische Staat etwa den Tourismus zunehmend als Vehikel, das die Bevölkerung ermutigen sollte, sich als Bürger der Sowjetunion zu imaginieren und zugleich aktiv an der russischen Nation teilzuhaben. Strukturell hatte dieses Phänomen seinen Vorlauf bekanntlich im 19. Jahrhundert, als die kommerzielle Reise vor allem durch die technologische Ausweitung der Reisemöglichkeiten zunehmend in den alltäglichen Sinneshaushalt eingriff. Alexandra Bekasova und Frithjof Benjamin Schenk weisen bereits in diesem Stadium den homogenisierenden Einfluss der Kutschen- bzw. Eisenbahnreise auf die Wahrnehmung der Passagiere von Raum im Allgemeinen nach. Besonderen Einfluss nahmen die Reisen aber auf imperiale und nationale Vorstellungen; sie entwickelten sich rasch zu neuen Kulturtechnologien mit großer sozialer und politischer Breitenwirksamkeit.

Einen konzeptionell schärferen Zugang weisen die elf Beiträge in dem von Lewis H. Siegelbaum herausgegebenen Sammelband auf, die sich allesamt mit dem Auto in den sozialistischen Ländern befassen. Dieses Gefährt wird hier zum einen im Sinne von Bruno Latour als dinglicher Aktant verstanden, das nämlich nicht nur ein bloßes technisches Objekt zur Fortbewegung darstellt, sondern in seinen spezifischen Folgewirkungen auf die Gesellschaft gewissermaßen auch als historisches Subjekt sichtbar wird. Zum anderen aber war das Auto gerade in diesen Gesellschaften der prädestinierter Ort, an dem sich exemplarisch jene Wünsche und Kompromisse sowie Hoffnungen und Enttäuschungen manifestieren konnten, die unter den besonderen Bedingungen des Sozialismus möglich waren. Hierbei überschnitten sich staatliche Interventionen mit privaten Interessen, überkreuzten sich individuelles Konsumverhalten und kollektive Planwirtschaft, stand der mit einem Autokauf verbundene Distinktionswille des Einzelnen der offiziellen Unterschiedslosigkeit durch die Klassengesinnung gegenüber. Die Auswirkungen des Systems „Auto“ auf die Umgestaltung einer sozialistischen Geografie, Wirtschaft und Kultur sind dabei erstaunlich vielfältig. Waren noch in den 1950er-Jahren aus den politischen Führungsriegen der einzelnen sozialistischen Länder lautstark Parolen zu vernehmen, die den Besitz eines Autos als kapitalistische Verirrung brandmarkten und dieser den Ausbau der öffentlichen Verkehrsmittel, aber auch den kollektiven Gebrauch des Automobils selbst entgegenstellten, hatte gerade die Praxis der Kadereliten, durch das Benutzen bestimmter Automarken auf die eigene hervorgehobene Bedeutung zu verweisen, eine unerwartete gesellschaftliche Vorbildfunktion, wie György Péteri für Ungarn herausstellt. Die Motorisierung der ungarischen Gesellschaft erfolgte eben nicht entlang der ideologischen Festlegungen eines kollektiv organisierten Transportsystems – und dies war im Ostblock keine Ausnahme –, sondern gestaltete sich in den breiteren Schichten vielmehr nach den langsam aufkeimenden Wünschen und Ansprüchen einer individuell verstandenen Mobilität, wie sie unter anderem auch durch das Fahr- und Konsumverhalten der politischen Klassen auf der Straße vorgemacht wurde. Dass diese Distinktion nicht nur auf der individuellen Ebene griff, sondern gezielt instrumentalisiert und in das inoffizielle System der Prämierung integriert wurde, illustriert der Beitrag von Mariusz Jastrząb, der für Polen in den späten 1970er- und frühen 1980er-Jahren zeigen kann, wie aufgrund fehlender formalisierter Kommunikationsstrukturen auf höchster Regierungsebene gerade mit Zuweisungen von Autos Gegenleistungen wie etwa Loyalität eingefordert wurden.

Aber auch für die Städtebilder hatte die Zunahme der Automobilität merkliche Folgen. Stadtzentren wurden nun mehr denn je als Orte der Kommunikation konzipiert, und Elke Beyer vertritt in ihrem Beitrag sogar die These, dass die Umgestaltung der Zentren von Moskau und Berlin insbesondere mit dem Blick aus einem fahrenden Auto vorgenommen worden war. Die sozialistischen Architekten entwarfen ganz nach dem Vorbild von Le Corbusier Innenstädte, die zwar funktional getrennte Sphären der Mobilität – Fußgänger und Autos – vorsahen, waren aber gleichzeitig darauf bedacht, beide Verkehrsströme mit größtmöglichen Konsumangeboten zu versehen. Grenzenlose urbane Mobilität war Zeichen einer gleichsam Wirklichkeit gewordenen Utopie der Moderne. Auch in Belgrad lässt sich, wie Brigitte Le Normand zeigt, dieser Trend erkennen; allerdings vollzog er sich hier gegen den Willen der Stadtplaner, die nämlich an den frühen Ideen eines kollektiven Transportsystems festgehalten hatten, sich aber in den 1960er-Jahren der Eigendynamik der rasanten individualisierten Motorisierung der jugoslawischen Hauptstadt letztlich beugen musste. Und auch Nabereschnye Tschelny in Tatarstan, das unter Breschnew im Zuge der Ansiedlung der KamAZ-Werke wegen des enormen Zuzugs von Arbeitskräften einer urbanen Restrukturierung unterworfen wurde, nahm, wie Esther Meier schreibt, nicht von ungefähr eine Entwicklung als Bandstadt. Diese drückte zwar modernistisch-utopische städtebauliche Vorstellungen aus, orientierte sich aber auch insofern an den neuen, nicht minder utopischen automobilen Bedingungen, als die Stadtplaner nämlich versuchten, die Zunahme der privaten Mobilität und dadurch das vermehrte Aufkommen an Verkehr in ein neues, am Ausgleich zwischen Urbanität und Naturerlebnis interessiertes schlankes Stadtbild zu übersetzen.

Schließlich rückt auch in diesem Band der Fahrer als mobile Figur in den Vordergrund. Kurt Möser stellt zum einen heraus, dass das Tüfteln und Schrauben die Autobesitzer in der DDR nicht nur mit dem buchstäblichen Eigensinn versah, da die vorgenommenen, nicht selten ästhetischen Änderungen am Fahrzeug nicht unbedingt mit den Vorstellungen eines idealen sozialistischen, rein auf Zweckerfüllung ausgerichteten Autos konform liefen. Zugleich setzten die Autobauer diese Fähigkeiten bei ihren Abnehmern aber regelrecht voraus, da die mindere Qualität der Fahrzeuge sowie das nur weitmaschig vorhandene Werkstättennetz letztlich die Fahrzeughalter selbst für die Instandhaltung ihrer Autos in die Pflicht nahm. Dass das Bild des Fahrers in den sozialistischen Ländern, in denen Frauen ja oft am Steuer von Bussen oder Straßenbahnen saßen, dennoch überwiegend männlich geprägt war, spiegelt sich in dem Quasi-Mythologem des sowjetisch-russischen Lastwagenfahrers wider, dem Lewis H. Siegelbaum nachgeht. Held, Fachmann, Geschäftemacher und Eigenbrötler – das sind die Zuschreibungen, die den Trucker, der durch die unendlichen Weiten Russlands rauscht, in seiner Erzählung positiv als Mann kennzeichnen. Dieses traditionelle Verständnis wird auch heute noch weitergetragen, und zwar erstaunlicherweise gerade von Frauen, von denen man meinen sollte, dass sie dieses Schema eigentlich aufbrechen sollten, da sie auf den heutigen Moskauer Straßen hinter dem Steuer von den maskulin-protzigen und dadurch eher schlecht beleumundeten SUVs anzutreffen sind. Das Verhalten im Verkehr, so die Verkehrsteilnehmerinnen, spiegele in gewisser Weise die gesamtgesellschaftliche Situation in Russland. Trotz beruflichen Erfolgs und Unabhängigkeit wünscht sich aber gerade diese Gruppe von Fahrerinnen, wie Corinna Kuhr-Korolev ausführt, eine klar gegenderte Gesellschaft, sehnt sich nach männlicher Galanterie, die abhanden gekommen zu sein scheint, nach Hilfsbereitschaft und Großzügigkeit. Damit fügen sie sich aber offensichtlich in das von Siegelbaum nachgezeichnete Truckernarrativ ein, dem offensichtlich das Streben nach Anerkennung von Weiblichkeit und Schönheit – auch und insbesondere im immer noch männlich konnotierten Straßenverkehr – gegenübersteht. Die Ausweitung der Mobilität ging offenbar selbst in den russischen Großstädten nicht unbedingt mit dem Einreißen alter Geschlechterbarrieren einher, sondern scheint im Gegenteil eher eine Kontinuität älterer Vorstellungen zu stützen.

Nachdem Karl Schlögel den Raum als Ordnungs- sowie vor allem als Erfahrungsbegriff für die Geschichtsschreibung nachhaltig sichtbar gemacht hat, zeigen diese beiden Sammelbände eindrücklich, wie klug man diese eigentlich sperrige Großkategorie in schillernde Einzelteile zerlegen und zugleich an analytischer Kraft gewinnen kann. Bewegung, Mobilität wird in allen Beiträgen nicht als Parameter, sondern vielmehr als historische Variable behandelt, da sie nämlich selbst Bedingungen unterworfen ist, die ihre spezifische Ausprägung und epistemologische Einfassung erst bestimmten. Daher stellen sich die Beiträge nicht nur die Frage, welche spezifische Gruppen denn nun über die Räume, die sie durchschreitet oder durchfährt, Verfügungsgewalt erlangen möchten, sondern vielmehr widmen sie sich dem grundlegenderen Problem, wie diese ihre Ansprüche eigentlich formulieren konnten und wie die Versuche genau aussahen, sich diese Räume durch spezifisch verstandene Bewegung anzueignen. Genau dadurch ergeben sich auch die vielen Anknüpfungspunkte, die diese beiden Bände bieten: Zur Wirtschaftsgeschichte etwa, wenn der Hadsch in Odessa im späten Zarenreich von den lokalen orthodoxen Autoritäten reguliert wurde, die es aber dabei nicht versäumten, den staatlichen Fährbetrieben die ausschließliche Lizenz für die islamische Wallfahrt zu vergeben; zur Verflechtungsgeschichte etwa, wenn die Anfangszeit des tschechoslowakischen Volksautos Škoda auf einem technologischen Wissenstransfer über den amerikanischen Ingenieur Alexander Taub aus den Vereinigten Staaten beruhte; zur politischen Ideengeschichte etwa, wenn in der postsowjetischen Ukraine sich die Rollstuhlfahrer das im Grunde genommen kapitalistische Argument zu eigen machten, Mobilität im Alltag als grundlegendes Menschenrecht zu verankern. All diese Beispiele aus den beiden Bänden zeigen, wie bedeutsam die historische Erfahrung der Einzelnen ist, um sich den quellenmäßig fassbaren, mit bestimmten Gruppen verbundenen Konzepten und Vorstellungen anzunähern, über die und mit denen die meisten von uns Historikern täglich arbeiten.

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