B. J. Warneken / H. Berner (Hrsg.): Da ist nirgends nichts gewesen

Titel
Da ist nirgends nichts gewesen außer hier. Das „rote Mössingen“ im Generalstreik gegen Hitler. Geschichte eines schwäbischen Arbeiterdorfes


Herausgeber
Warneken, Bernd J.; Berner, Hermann
Erschienen
Mössingen-Talheim 2012: Talheimer Verlag
Anzahl Seiten
360 S.
Preis
€ 32,00
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Timo Heimerdinger, Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie, Universität Innsbruck

„Wer Hitler wählt, wählt Krieg!“ – so schrieb es Jakob Textor, ein Mössinger Maler und Aktivist der örtlichen Arbeiterbewegung im November 1932 an eine Wand, und er sollte Recht behalten. Ihm widmen die Herausgeber den hier besprochenen Band. Es handelt sich um die erweiterte Neuauflage eines erstmals 1982 im Berliner Rotbuch-Verlag erschienenen Buches über die „Generalstreik“ genannten Aktionen am 30./31. Januar 1933 im „roten Mössingen“, einem damals textilindustriell geprägten schwäbischen Dorf in der Nähe von Tübingen. Mössinger Arbeiter demonstrierten gegen die Machtübernahme der Nazis, riefen zur Arbeitsniederlegung auf, hielten auch andere, nicht streikwillige Arbeiter in der örtlichen Textilfirma „Pausa“ durchaus unsanft von der Verrichtung ihrer Arbeit ab – bis die herangeeilte Polizei rasch die Aktionen auflöste. Etliche Aktivisten wurden in den kommenden Tagen verhaftet, später auch teilweise zu Haftstrafen verurteilt und lange wurden die Geschehnisse – obwohl regionalhistorisch ausgesprochen bedeutsam – vor Ort hauptsächlich verschwiegen und tabuisiert. Erst 1954 und 1955 ergingen in Tübingen und Stuttgart Gerichtsurteile, die einige der damaligen Aktivisten rehabilitierten; für die Aufarbeitung der Vorkommnisse und ihr tieferes Verständnis leistete das 1982 erschienene Werk der Gruppe junger Tübinger Empirischer Kulturwissenschaftler/innen entscheidende Beiträge. Der Ansatz der Autor/innengruppe, die Aktionen weder als simple Heldengeschichte(n) zu erzählen, noch isoliert ereignisgeschichtlich zu behandeln, sondern sie vielmehr mit historischer Tiefenschärfe als komplexen Ausdruck und als Resultat einer dörflichen Sozial-, Kultur- und Arbeitergeschichte zu kontextualisieren und damit nicht nur zu würdigen, sondern in ihrer vielschichtigen Genese auch zu verstehen, kann bis heute als vorbildlich gelten.

Doch diese Arbeit wurde ja damit bereits geleistet und steht in den Bibliotheken zur Verfügung, wieso also kam es nun zu einer Bearbeitung und Neuauflage des Werks? Auf den ersten Blick bot sich natürlich der 80. Jahrestag der Geschehnisse als Anlass zur Würdigung, Erinnerung und Mahnung an – in Mössingen selbst ist dies auch mit einer Vielzahl an Veranstaltungen, einer Ausstellung und auch einem eigens geschriebenen Theaterstück geschehen, und das Thema wurde über viele Monate hinweg lokalpolitisch und regionalkulturell verarbeitet. In diesem Zuge bot sich dabei offenbar auch die ideale Gelegenheit, kleinere Fehler zu korrigieren und gewisse Versäumnisse und Schieflagen der ersten, längst vergriffenen Auflage zurechtzurücken. Etwa: für den „Generalstreikversuch“ (S. 12) hatte der schon erwähnte Jakob Textor auch das Transparent gemalt: „Heraus zum Massenstreik“. Im ersten Band hatte der umtriebige Aktivist jedoch kaum Erwähnung gefunden, ein Umstand, der ihn bis zu seinem Tod im Jahr 2010 sehr geschmerzt hatte. Die Neuausgabe würdigt Textors Beitrag ausführlich und holt so Versäumtes nach.

Der vielleicht wichtigste Grund für die Wiederherausgabe und Ergänzung des Werkes ist jedoch der Umstand, dass die Auseinandersetzung um die Geschehnisse und ihre Bewertung vor Ort erst nach 1982 so richtig in Gang gekommen war und dort eine langanhaltende und teilweise auch von schärferen Kontroversen geprägte Debatte entfacht hatte. Tatsächlich bildete sich nämlich auch ein deutlich kleineres, um den Mössinger Bürger Paul Gucker geschartes Gegenlager zu den Autor/innen des Tübinger Bandes (samt einer breiteren medialen und bürgerschaftlichen Öffentlichkeit), das in die wertschätzende Würdigung des frühen linken Widerstandes nicht so unisono einstimmen wollte. Diese Gruppe vertrat vielmehr die These, dass die Streikenden selbst radikale Ideale, die als gewalttätig und undemokratisch zu kritisieren seien, propagierten und diese auch auf robuste Weise umsetzten.1 Auch verschiedene Historiker (namentlich etwa Klaus Tenfelde oder Jürgen Kuczynski) führten eine kritische Auseinandersetzung mit dem Tübinger Band – wenn auch sehr viel spezifischer und weniger prinzipiell als Gucker, sondern vielmehr auf Probleme der sachgerechten Gewichtung und Einschätzung der damaligen politischen Kräfteverhältnisse vor Ort bezogen. So ging es hier etwa um die zentrale Frage, wie rot das „rote Mössingen“ denn nun eigentlich tatsächlich war – die Interpretationen reichen von sehr hell bis sehr dunkel – und wie sich das Verhältnis von bürgerlichen zu linken Kräften im Verlauf des 20. Jahrhunderts insgesamt entwickelte. Weiterhin wurde die hochinteressante und komplexe Frage aufgeworfen, welche Rolle die in Mössingen (und der ganzen Gegend) stark ausgeprägte pietistische Tradition denn im ganzen Streikgeschehen und der örtlichen politischen Kultur spielte, ein Themengebiet, das im ersten Mössingenbuch gänzlich ausgespart geblieben war.

Der neu erschienene Band greift diese Debatte auf und schaltet sich damit zugleich wieder in sie ein, wenn auch nur ansatzweise; doch eine Neuauflage, so könnte man zur Entschuldigung anbringen, ist ja auch keine gänzliche Neubearbeitung des Themas. Immerhin bietet der Band neben einer neuen grafischen Gestaltung und überarbeitetem Bildmaterial auch aktuelle Texte: ein neues Vorwort von Bernd Jürgen Warneken (er war bereits 1982 beteiligt), ein ausführliches Nachwort von Hermann Berner (1982 nicht beteiligt), dem aktuellen örtlichen Museumsleiter in Mössingen, in dem er das „unabgeschlossene Erbe des Mössinger Generalstreiks“ als örtliche Diskussions- und Rezeptionsgeschichte erläutert und faktenreich belegt und die Hinzufügung weiterer Materialien, wie die erwähnten Gerichtsurteile aus den 1950er Jahren oder die anlässlich des 70. Jahrestages im Jahr 2003 gehaltene Rede des Tübinger Literaturwissenschaftlers Jürgen Wertheimer, in der dieser die
„‚Blechtrommler‘ von Mössingen“ würdigt. Durch diese Ergänzungen und in ihren Neuartikulationen gehen die Herausgeber zumindest teilweise auf die vorgebrachten Einwände ein, berichtigen einzelne sachliche Fehler und reflektieren auch die Wirkungsgeschichte des ersten Bandes seit 1982. Eine Historisierung und retrospektive Einordnung des über 30 Jahre alten Werkes (denn die Forschungen begannen schon 1977) erfolgt immerhin in Ansätzen. Warneken charakterisiert es als ein Exempel der damals aus dem „Vorgängerfach ‚Volkskunde‘ herausgemendelten neuen ‚Empirischen Kulturwissenschaft‘“ mit ihrem Anliegen, Beiträge zu einer neuen, alltagsgeschichtlich unterfütterten, mündliche und schriftliche Quellen verknüpfenden Erforschung der Arbeiterbewegung zu leisten (vgl. S. 11). Als bedauerliches Versäumnis identifiziert er die bereits erwähnte Enthaltsamkeit in der Untersuchung möglicher Parallelen zwischen Marxismus und Pietismus und vermutet einen möglichen Grund darin, dass man „den Marxismus nicht in die Nähe einer Religion rücken wollte“ (S. 13f.). Insgesamt jedoch ist das Verhältnis zum ersten Text durchaus affirmativ, die Herausgeber bekräftigen und erneuern das bereits 1982 zum Ausdruck kommende Kernanliegen der kultur- und lokalgeschichtlich informierten Würdigung frühen und mutigen antifaschistischen Widerstands in Mössingen. Die Argumentation im Einzelnen wurde weder ergänzt noch auf andere Weise inhaltlich verändert. In der Gesamtschau wird das Bild auf die Ereignisse 1933 durch die Neuherausgabe gleichwohl noch facettenreicher: nicht nur das der Streikaktionen, sondern auch das der Dynamiken und Debatten in der Erinnerungspraxis vor Ort, und nicht zuletzt die Rolle wissenschaftlicher Akteur/innen findet darin ihren Platz. Mössingen tat und tut sich nicht durchweg leicht mit der Einordnung der lokalhistorisch so bedeutsamen Ereignisse im Januar 1933. Auch nach vielen Reden, Publikationen, Veranstaltungen und Debatten besteht kein Konsens. Doch frühere beschwörende Bitten einzelner Lokalpolitiker, die „alten Gräben nicht wieder aufzureißen“ sind immerhin einer lebhaften und zugleich zunehmend versachlichten Auseinandersetzung gewichen. Vielleicht liegen darin neben der anschaulichen Darstellung der Ereignisse des Mössinger Streiks und der Interpretation der faktualen Befunde die Haupterträge des gerade auch mit seinen Ergänzungen sehr instruktiv zu lesenden Bandes: in den am Mössinger Beispiel samt seiner Rezeption vorgeführten Einsichten, dass diese Auseinandersetzungen um Geschichtsdeutungen notwendig und produktiv sind, dass die Historie zwangläufig unabgeschlossen ist und unabschließbar bleiben muss, weil der gegenwärtige Blick auf jene sie stets mitbestimmt, dass nur allzu leicht heutiges Wissen auf frühere Ereignisse projiziert wird und dass daher die Auseinandersetzung mit der Geschichte weder an ein Ende kommen kann noch sollte.

Anmerkung:
1 Vgl. <http://www.fakten-zum-mössinger-generalstreikversuch-von-1933.de> (07.10.13).

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/