M. Berlinghoff: Das Ende der „Gastarbeit“

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Titel
Das Ende der „Gastarbeit“. Europäische Anwerbestopps 1970–1974


Autor(en)
Berlinghoff, Marcel
Reihe
Studien zur Historischen Migrationsforschung 27
Erschienen
Paderborn 2013: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
403 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Imke Sturm-Martin, Historisches Institut, Universität zu Köln

„Erfreulicherweise“, so Willy Brandt auf einer Wahlkampfveranstaltung im Oktober 1972, sei „die große Mehrzahl unserer ausländischen Arbeitnehmer ebenso gesetzestreu, wie es unsere eigenen Landsleute sind“. Solcherart wohlmeinende Worte zur Beruhigung der „Landsleute“ nach dem Olympia-Attentat vom 5. September lassen sich in den Äußerungen von Spitzenpolitikern im Herbst 1972 häufig finden. Die sozial- und rechtspolitischen Aspekte der „Ausländerfrage“ waren zum Problem der Aufnahmegesellschaft geworden. So wenig sich die sozialen Auswirkungen der Arbeitsmigration auf die neuen Minderheiten allein beschränken ließen, so wenig waren die einschlägigen Strategien einer „Einwanderungspolitik“ ohne eine internationale Vernetzung in Europa zu verfolgen. Diese Erkenntnis eines sozialpolitischen Handlungsbedarfs sowie die Anfänge eines europaweiten migrationspolitischen Austauschs sind für Marcel Berlinghoff ausschlaggebende Motive für das „Ende der Gastarbeit“, das mit den zwischen 1970 und 1974 verhängten Anwerbestopps in mehreren europäischen Ländern eingeläutet worden war. Er stellt sich damit weniger gegen die in vielen Darstellungen zur europäischen Migrationsgeschichte übliche pauschalisierende Betrachtung des Einwanderungsstopps als entscheidende Phasenmarkierung für die Nachkriegsmigrationsgeschichte. Vielmehr fordert er das Erklärungsmuster der damals amtierenden Politiker, aber auch vieler späterer Chronisten heraus, welches die gleichzeitig einsetzende Rezession und die Ölkrise 1973 zum unvermeidlichen Auslöser des Einwanderungsstopps stilisierte.

Mit der Schweiz, der Bundesrepublik Deutschland und Frankreich hat Berlinghoff in seiner Heidelberger Dissertation drei Länder untersucht, die aufgrund ihrer ähnlichen industriellen Entwicklung wichtige Parallelen in der Arbeitnehmerrekrutierung aufweisen. Richtig spannend wird der Vergleich aber erst durch die Unterschiedlichkeit der drei Vergleichsobjekte, die sich auch und gerade in den behandelten Themen Migrationspolitik und Minderheitenintegration zeigen, die von geopolitischen Ansprüchen über demographische Entwicklungen und politische Organisationsformen reichen sowie bei den sehr verschieden gepflegten internationalen Vernetzungen und wirtschaftlichen Abhängigkeiten noch lange nicht aufhören.

Berlinghoffs Thesen sind nicht revolutionär. In der europäischen Migrationsforschung sind die allmähliche Dynamisierung des Integrationsdiskurses seit den 1950er-Jahren und eine wenig später einsetzende europäische Zusammenarbeit zum Thema Migration Annahmen, die in den vergangenen 15 Jahren schon öfter vorgetragen worden sind, für die sich in der bisherigen Literatur jedoch nur vereinzelte Belege finden lassen. Gelingt Berlinghoff der ausstehende Nachweis mit seinem akribischen Dreiervergleich? Er legt eine klassisch politikhistorisch inspirierte „histoire croisée“ vor, indem er die „Entdeckung der Einwanderung“ (S. 17) als politischen Erkenntnisprozess vor dem Hintergrund der Wende der 1970er-Jahre analysiert sowie dabei Motive, Argumentationen und das Ringen um Zuständigkeiten in deutschen, schweizerischen und französischen Behörden und Regierungsinstanzen vergleicht. Gleichzeitig eruiert er den Stand des europäischen Austauschs über den Umgang mit Einwanderung und Minderheiten. Er zeigt die internationalen Analogien der politischen Auseinandersetzung mit dem Thema, die Ähnlichkeiten bei der Abwägung von wirtschaftlichen, arbeitsmarktpolitischen und sozialen Argumentationen, die Entwicklung eines integrationspolitischen Bewusstseins und die informellen Anfänge europäischer Zusammenarbeit in diesem Bereich bis hinunter zu den „Flurgesprächen“ bei internationalen Treffen. In der Auswahl der Vergleichsobjekte, in Bezug auf den betrachteten Zeitraum und im Umfang des bearbeiteten Archivmaterials ist diese Studie eine willkommene Ergänzung der vorliegenden Forschung.

Was die wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit in Europa nach 1945 betrifft, ist die Schweiz sicher nicht das Land, das in Analysen anderer Aspekte der Europäisierung an erster Stelle stehen würde. Beim Thema Migrationspolitik jedoch gewinnt der Europa-skeptische Alpenstaat plötzlich eine große Bedeutung für die internationale Öffnung des politischen Diskurses über Migration in der Bundesrepublik Deutschland und in Frankreich. Wie in diesen beiden Ländern wurden in der Schweiz angesichts eines großen Arbeitskräftebedarfs in den Wachstumsjahren seit dem Zweiten Weltkrieg in großer Zahl Arbeitnehmer aus Südeuropa angeworben. Ähnlich wie in der Bundesrepublik Deutschland und in Frankreich wurden die Folgen einer dauerhaften Ansiedlung der Arbeitnehmer mit ihren Familien aufmerksam beobachtet. Deutlich früher als bei den beiden EWG-Mitgliedern wurden in der Schweiz zahlreiche Maßnahmen erlassen, mit dem Ziel einer „Plafonierung“ der Ausländerzahl. Das traf auf Interesse bei den Nachbarländern: Ministerialbeamte wurden in die Schweiz entsandt, um Migrationsregimes zu evaluieren; man verständigte sich international über „das Ausländerproblem“. Das internationale (fast könnte man sagen: europapolitische) Engagement der Schweiz erscheint hier als erstaunlich intensiv. Berlinghoff stellt überzeugend dar, wie die Schweiz mit ihrem „migrationspolitischen Entwicklungsvorsprung“ (S. 140) für einige der französischen und westdeutschen Politiker zum Vorbild wurde. Für Frankreich ist diese Vorbildfunktion der schweizerischen Migrationspolitik schon in den 1960er-Jahren zu beobachten. Im Bonner Bundeskanzleramt ließ die in der Schweiz aufkommende Kritik an vermeintlicher „Überfremdung“ die Sorge laut werden, auch die deutsche Bevölkerung könne sich in Ballungsgebieten mit hohem Ausländeranteil zu irrationalen Reaktionen hinreißen lassen.

In den Kapiteln über die Bundesrepublik und Frankreich zeichnet Berlinghoff die jeweils lange Vorbereitung der Anwerbestopps von 1973 bzw. 1974 nach. Wie beim Beispiel Schweiz greift er zurück bis in die 1950er-Jahre und beschränkt sich nicht auf seine drei Kernobjekte, sondern bezieht auch weitere europäische Länder mit wachsenden Minderheitsbevölkerungen ein, etwa die Niederlande. Sehr dicht belegt ist Berlinghoffs Darstellung, wie sich in den zwei bis drei Jahren vor dem Anwerbestopp Argumentationslinien zuspitzten und Entscheidungsprozesse beschleunigten. Populäre Fremdenfeindlichkeit, schwierige postkoloniale Erbschaften, Extremismus-Angst: In jedem der drei Länder wirkten ganz unterschiedliche – und wiederum sehr charakteristische – Ursachen zusammen, die am Ende zu den Rekrutierungsstopps führten. Berlinghoff weist überzeugend nach, dass wirtschaftliche Erwägungen nur einen Teil der Motive darstellten.

Das knapp vier Seiten lange Fazit des Kapitels zur Bundesrepublik Deutschland ist eine der wichtigsten Textpassagen des Buches. In der hier sehr prägnant verkürzten Darstellung bundesdeutscher Konfliktlinien und der daraus folgenden Suche nach Vorbildern in Westeuropa verdichtet sich Berlinghoffs Doppelthese besonders schlüssig. Denn obwohl er den engen Zusammenhang der beiden Entwicklungen, die er beschreibt, immer wieder hervorhebt, bleiben ansonsten die „Europäisierungsphänomene“ (S. 357) auf der einen Seite und die wachsende sozialpolitische Bedeutung des Themas Integration auf der anderen Seite in der Analyse stets getrennt. Er zerlegt das „Problem der ausländischen Arbeitnehmer“ in einzelne Komponenten (Kapitel 2) und kann damit sehr genau zeigen, wie sich die Diskurse in den drei behandelten Ländern ähnelten. Stellenweise vernachlässigt er aber die Synthese seiner beeindruckenden Quellenarbeit.

Die analoge Strukturierung der Länderkapitel erleichtert, ja erzwingt geradezu den Vergleich der nationalen historischen Entwicklungen. Besonders viel Unterstützung durch zusammenfassend-vergleichende Einschübe bekommt der Leser allerdings nicht, eine Abkürzung zur Erkenntnis wird nicht zugestanden: Berlinghoff hält sich mit vergleichenden Urteilen stark zurück. Auch die Zusammenfassung des Buches konzentriert sich ganz auf den Aspekt der europäischen Zusammenarbeit. Doch die Befunde zu den Anfängen der Europäisierung der Migrationspolitik sind eben nicht die einzigen wichtigen Ergebnisse dieser Fleißarbeit, die Aufmerksamkeit verdienen. Auch Berlinghoffs akribische Darstellung der nationalen Diskurse auf der innen- und europapolitischen Ebene setzt einen Meilenstein in der Forschung zur Migrationsgeschichte der Nachkriegszeit. So umfangreich und gründlich diese Darstellung ist, sie macht (glücklicherweise) nicht satt. Im Thema europäische Migrationspolitik steckt für die Geschichtsschreibung noch viel Potential. Marcel Berlinghoffs Buch bietet für künftige Forschungen einen sehr guten Ausgangspunkt.