M. Niedhammer: Nur eine „Geld-Emancipation“?

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Titel
Nur eine „Geld-Emancipation“?. Loyalitäten und Lebenswelten des Prager jüdischen Großbürgertums 1800–1867


Autor(en)
Niedhammer, Martina
Reihe
Religiöse Kulturen im Europa der Neuzeit 2
Erschienen
Göttingen 2013: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
340 S.
Preis
€ 59,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ines Koeltzsch, Masaryk Institute and Archives of the Czech Academy of Sciences, Prague

In jüngster Zeit erlebt die Forschung zur neueren und neuesten Geschichte der Juden in den böhmischen Ländern einen bemerkenswerten Aufschwung. Binnen weniger Jahre sind vorwiegend Dissertationsarbeiten erschienen, die nicht nur unsere Kenntnisse über eine im Rahmen der europäisch-jüdischen Geschichte eher wenig berücksichtigten Region enorm erweitern, sondern auch zu einem tieferen Verständnis der Funktionsweisen und Konfliktlagen multiethnischer Gesellschaften des 19. und frühen 20. Jahrhunderts beitragen.1

Martina Niedhammers Dissertation über „die Identitäten und Lebenswelten des Prager jüdischen Großbürgertums“ (S. 14) zwischen 1800 und 1867 bereichert diese neueren Forschungen um eigene, ganz wesentliche Erkenntnisse. Abseits von einem dichotomischen Assimilations- oder Akkulturationsparadigma arbeitet sie exemplarisch an fünf Textilfabrikanten und deren Familien Handlungsoptionen und Gestaltungsräume heraus, die sich jüdischen Großbürgern im Prag der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts „gerade [durch] die Spannung zwischen der prekären rechtlichen Situation und den ökonomischen Möglichkeiten“ (S. 15) eröffneten. In kompositorischer und methodisch-theoretischer Hinsicht knüpft Niedhammer insbesondere an die anregenden Studien Mirjam Zadoffs über die westböhmischen Kurorte um 1900 bzw. Julia Richers’ über jüdische Topographien im Budapest des 19. Jahrhunderts an.2

Niedhammer legt ihrer als Gruppenbiographie konzipierten, mikrohistorischen Studie einen lebensweltlich-topographischen Ansatz zugrunde und strukturiert sie geschickt entlang realer und imaginierter Orte ihrer Protagonisten. Die Kategorie „Identität“ problematisierend, erweitert sie diese um den Begriff der „Loyalität“. Mit den Worten Martin Schulze Wessels definiert sie „Loyalität“ als sich wandelnde (An-)Bindungen, die im Unterschied zum Begriff der Identität auf „das Nebeneinanderstehen von verschiedenen, vormodernen und modernen Identifikationsmustern [verweisen], die sich […] in widersprüchlichen Konstellationen gegenseitig anreichern“ (S. 24).

Im ersten Kapitel („Auf der Jerusaleminsel“) widmet sich Niedhammer dem raschen wirtschaftlichen Aufstieg der Prager jüdischer Textilfabrikanten Anfang des 19. Jahrhunderts, der zwar durch wirtschaftspolitische Maßnahmen des merkantilistisch orientierten österreichischen Staates begünstigt wurde, aber an der prekären rechtlichen Lage der Juden nichts änderte. Dass die jüdischen Textilfabrikanten dennoch langfristig mit Erfolg agierten, führt sie in erster Linie auf deren mit Risiko behaftete Bereitschaft zur technischen Innovation, dem Streben nach einer modernen, fachgerechten Ausbildung der zweiten Unternehmergeneration sowie den Aufbau multipotenter Unternehmensstrukturen zurück. In ihren Reaktionen auf antijüdische Ressentiments, die sich mit sozialen Spannungen überlagerten und in Gewalt umschlagen konnten, wurde zudem „ein gruppenbezogenes jüdisches Selbstbewusstsein“ (S. 67) deutlich. Selbstbewusst traten die jüdischen Unternehmer, die Deutsch als Umgangssprache verwendeten, auch im gesellschaftlichen Leben der Stadt auf und knüpften trotz begrenzter Teilhabe zahlreiche Kontakte zu ihrer nichtjüdischen, deutsch- wie tschechischsprachigen Umwelt. Wie Niedhammer in ihrem zweiten Kapitel („Im Sophiensaal“) herausarbeitet, versuchten einige der Fabrikanten, die wie etwa Leopold Lämel in gutem Kontakt mit führenden Repräsentanten der tschechischen Nationalbewegung wie František Palacký und František Ladislav Rieger standen, auch nach 1848 ihre utraquistische Haltung aufrechtzuerhalten und sich einer eindeutigen nationalpolitischen Position konsequent zu entziehen.

Die wichtigsten Ergebnisse liefert Niedhammer in den beiden nachfolgenden Kapiteln („Beim Tempel in der Geistgasse“ und „An die k. k. vereinigte Hofkanzlei in Wien)“. Trotz der großen sozialen Distanz, die die Mitglieder der jüdischen Oberschicht von der Mehrheit der Prager jüdischen Bevölkerung trennte und die sich auch räumlich manifestierte – ihnen war es als einzigen gelungen, ihren Wohnsitz bereits vor 1848 aus der Judenstadt zu verlagern – hielten sie auf vielfältige Weise Kontakt zu dortigen religiösen und sozialen Institutionen. Während einige sich für eine moderate Reform des Gottesdienstes einsetzten, hielten andere an einer orthodoxen Orientierung fest, wobei Niedhammer betont, dass die Grenzen zwischen Reform und Orthodoxie nicht immer eindeutig und auch innerhalb der Familien situativ verliefen. Klar war auf jeden Fall, dass sie sich – wie auch die Erinnerungen Moses Porges von Portheims an seine Mitgliedschaft bei den Frankisten im frühen Erwachsenenalter eindrücklich belegen – aktiv mit ihrem Glauben auseinandersetzten. In der Tradition der frühneuzeitlichen Schtadlanim, der Fürsprachen einflussreicher Gemeindemitglieder für die Belange ihrer Glaubensgenossen, traten einige Unternehmer zudem bei diversen staatlichen Stellen für eine Verbesserung der rechtlichen Situation der Juden in den böhmischen Ländern bzw. in Österreich ein, wobei insbesondere die zweite Unternehmergeneration großen Wert auf den Aufbau transnationaler Netzwerke legte. Niedhammer widerspricht hier der häufig kolportierten These, dass die jüdischen Großbürger einer individuellen Emanzipation den Vorrang vor der allgemeinen gegeben hätten. Vor dem Hintergrund dieser Emanzipationsgesuche interpretiert sie die Nobilitierungen einzelner Prager jüdischer Großbürger vor 1848, die Privilegien, aber keine rechtliche Gleichstellung zur Folge hatten, überzeugend als „ungewolltes Resultat einer erfolglosen Schtadlanut“ (S. 185).

Am Beispiel des Freizeitvergnügens, der Heiratsstrategien und der Trauerkultur untersucht Niedhammer im fünften Kapitel („Portheimka“) die Bindungen innerhalb des Prager jüdischen Großbürgertums, aber auch interethnische bzw. -religiöse Kontakte in der häuslichen Sphäre. Hier beeindruckt vor allem ihr sensibler Umgang mit interessanten und zugleich problematischen Quellen wie Inventarlisten von Einrichtungsgegenständen, Portraitdarstellungen und Grabmäler. Wohltätige Stiftungsinitiativen im Andenken an verstorbene Familienmitglieder sind Gegenstand des letzten Kapitels („Nach Jerusalem!“). Am Beispiel der Lämelschule, einer Kinderbewahranstalt für „österreichische Untertanen“, die Elise Herz, geborene von Lämel, im Jerusalem der 1850er-Jahre stiften ließ, arbeitet Niedhammer die emotionalen Bindungen Prager jüdischer Großbürger heraus. Nicht Prag, nicht Wien, sondern Jerusalem – Herz kannte die Stadt nicht aus eigener Erfahrung – wurde hier zum Fluchtpunkt einer „emotionalen Gemeinschaft“, die sich durch vielfältige, teils widersprüchliche Loyalitäten auszeichnete.

Angesichts der vorbildlich angelegten Dissertation bleibt wenig zu kritisieren. Niedhammer tendiert zu knappen Argumentationen und man hätte sich vielleicht an mancher Stelle eine ausführlichere Darstellung gewünscht – etwa des in der früheren Historiographie vorherrschenden und von ihr eindrucksvoll widerlegten Narrativs von den Prager jüdischen Großbürgern als ‚Aufsteiger um jeden Preis‘, die ihre jüdische Herkunft hinter sich gelassen hätten, oder auch eine ausführlichere Diskussion des für die Interpretation zentralen Loyalitätskonzepts. Hier hätte sich etwa eine Auseinandersetzung mit dem etwas aus der Mode gekommenen Begriffs des „Eigen-Sinns“ angeboten, wie ihn Alf Lüdtke gerade für gruppenbiographische Untersuchungen einfordert.3 Neben den Stammbäumen und den aus dem Hebräischen transkribierten Grabinschriften wären im Anhang darüber hinaus kurze Biogramme der Protagonisten und ihrer Unternehmen als schnelle Orientierungshilfe nützlich gewesen, um bei der Lektüre den Überblick über einzelne Personen und ihre familialen Beziehungen nicht zu verlieren.

Nichtsdestotrotz: Niedhammer legt eine beeindruckende, glänzend geschriebene Studie vor. Mit ihrer Arbeit zeigt sie, dass gerade die mikrohistorische Konzentration auf eine äußerst kleine Akteursgruppe, die mit Bezug auf die Gesamtheit (hier die Prager Judenheit) keineswegs repräsentativ ist, und die Fokussierung auf einen von der Historiographie eher vernachlässigten Zeitraum (hier vor allem die Jahrzehnte vor 1848) zu prägnanten Thesen mit allgemeingültigen Charakter führen kann. Ihrem Buch bleibt eine breite Rezeption nicht nur seitens der europäisch-jüdischen Geschichtsschreibung, sondern auch der ‚allgemeinen‘, insbesondere der Stadt-, Wirtschafts-, Religions- und Adelsgeschichte zu wünschen.

Anmerkungen:
1 Vgl. zum Beispiel: Kateřina Čapková, Czechs, Germans, Jews? National Identity and the Jews of Bohemia, New York 2012 (tschech. Orig. 2005); Michael Laurence Miller, Rabbis and Revolution. The Jews of Moravia in the Age of Emancipation, Stanford 2011; Dimitry Shumsky, Zweisprachigkeit und binationale Idee. Der Prager Zionismus 1900–1930, Göttingen 2013 (hebr. Orig. 2010); Mirjam Triendl-Zadoff, Nächstes Jahr in Marienbad. Gegenwelten jüdischer Kulturen der Moderne, Göttingen 2007.
2 Triendl-Zadoff, Nächstes Jahr in Marienbad; Julia Richers, Jüdisches Budapest. Kulturelle Topographien einer Stadtgemeinde im 19. Jahrhundert, Wien 2009. Eine wichtige Vorarbeit stellt in empirischer Hinsicht dar: Věra Leininiger, Auszug aus dem Ghetto. Rechtsstellung und Emanzipationsbemühungen der Juden in Prag in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Singapore 2006.
3 Alf Lüdtke, Alltagsgeschichte, Mikro-Historie, historische Anthropologie, in: Hans-Jürgen Goertz (Hrsg.), Geschichte. Ein Grundkurs, 2. Aufl., Reinbek bei Hamburg 2001, S. 557–578, hier 565–566.

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