E. Engelberg: Wie bewegt sich, was uns bewegt?

Titel
Wie bewegt sich, was uns bewegt?. Evolution und Revolution in der Weltgeschichte


Autor(en)
Engelberg, Ernst
Erschienen
Stuttgart 2012: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
229 S.
Preis
€ 44,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Mario Keßler, Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam

Ernst Engelberg (1909–2010), ein Jahrhunderthistoriker in jedem Wortsinn, hinterließ neben seiner monumentalen Bismarck-Biographie mit zahlreichen weiteren Arbeiten zur deutschen und französischen Geschichte des 19. Jahrhunderts, zur Geschichte der Arbeiterbewegung und zur Militärgeschichte ein anregendes geschichtstheoretisches Werk. Eine Reihe von Aufsätzen aus diesem Arbeitsgebiet versammelte er bereits 1980 in der DDR in einem Buch.1 Der Untertitel dieser neuen Textsammlung, „Evolution und Revolution in der Weltgeschichte“, ist der Festschrift entnommen, die ihm seine Schülerschaft 1976 zum 65. Geburtstag darbot. Damit stellt der Herausgeber, sein Sohn Achim Engelberg, die Neuerscheinung in die Kontinuität der Arbeit seines Vaters.2 In seiner Einführung rückt Peter Brandt, Historiker aus Hagen, Engelbergs Schaffen aus westdeutscher Sicht ebenso bedachtsam wie souverän in die deutsch-deutsche und nun gesamtdeutsche Perspektive.

Ernst Engelberg „wollte die Unendlichkeit der Fakten und Ereignisse in einer durchdachten Ordnung soweit bändigen, dass sie begreifbar werde. Ein Resultat in Form eines Buches zu geben, war sein Wunsch“, schreibt Achim Engelberg (S. 8). Diese Aufgabe vermochte sein Vater angesichts fortschreitender Altersschwäche nicht mehr zu erfüllen. Was blieb, sind Vortragsmanuskripte, Aufsätze, aber auch Exzerpte. Der Herausgeber stand vor dem Problem, dass der Autor eine Reihe dieser Manuskripte mehrfach abgefasst, überarbeitet, neu geschrieben und zudem die Jahreszahl der jeweiligen Version nicht notiert hatte. Achim Engelberg ordnete die Papiere zwölf Themenbereichen zu, ohne über ihre genaue Entstehungsgeschichte Auskunft geben zu können. Er suchte dieses Dilemma durch behutsame Kommentare in Form eines Vorworts und einer nachgestellten editorischen Notiz zu lösen, musste jedoch auch in Texte eingreifen und Textbausteine zusammenfügen.

Das Resultat kann sich freilich sehen lassen. Die zwölf Kapitel sind wie folgt geordnet: 1. „Was brachten die Werke von Marx und Engels für die Geschichtsbetrachtung?“; 2. „Was ist Weltgeschichte?“; 3. „Warum begann die Revolution Nr. 1 der Bourgeoisie in Deutschland und wann endete sie?“; 4. „Was ist eine Revolutionsepoche?“; 5. „Wie ist das Verhältnis von Innen- und Außenpolitik?“; 6. „Was ist eine Revolution von oben?“; 7. „Sind Zeitalter-Begriffe überflüssig?“; 8. „Was ist eine historische Biographie?“; 9. „Warum ausgerechnet Bismarck und wie stellt man dessen Leben und Wirken dar?“; 10. „Exkurs und Dokumentation: Erfolg und Krise“; 11. „Was ist historisches Erkennen?“; 12. „Gibt es einen Sinn in der Geschichte?“

Das Fragezeichen am Ende der meisten Abschnitte zeigt: Hier werden keine Gewissheiten, gar marxistisch-staatssozialistischer Provenienz, vermittelt, sondern Probleme aufgeworfen, denen sich Ernst Engelberg angesichts der Krise und dann des Zusammenbruchs der DDR zu stellen suchte. Nur einige davon können hier Erwähnung finden.

Die ersten vier Abschnitte sind der Revolutionsproblematik im weitesten Sinn gewidmet, die Teile vier bis neun können als Überlegungen im Kontext der Bismarck-Biographie gesehen werden, Abschnitt zehn sind durch Reflexionen ergänzte Wortmeldungen aus der Zeit unmittelbar vor dem Epochenbruch 1989, die letzten beiden Teile berühren Probleme der Erkenntnistheorie, angewandt auf historische Forschungen.

Ein wichtiger Ertrag der ersten Abschnitte ist Engelbergs Argumentation, warum die erste bürgerliche Revolution in Deutschland, genauer: im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, begann. Er warnt vor einer allzu einseitigen Fixierung auf die Bauernkriege und hebt hervor, dass der Protestantismus Luthers und Calvins als „die einzige moderne Form des Christentums“ in den Städten des Reiches wirkungsmächtig wurde und die Emanzipation des Handelsbürgertums voranbrachte (S. 48). Er plädiert dafür, dem Jahr 1536 als Beginn von Calvins Auftreten, dem faktischen „Sieg“ Luthers über Zwingli durch die Wittenberger Konkordie (über die Abendmahls-Interpretation) und der Verkündung des Anglikanischen Glaubensbekenntnisses in England stärkere Beachtung zu schenken. Zugleich wandelte sich die Reformation in Deutschland „zu einer Aktion des Fürstenabsolutismus“, der Periode „der herrlichen religiösen Anarchie“ – hier zitiert Engelberg Lucien Febvre – ein Ende setzend (S. 53). Zurückhaltend bleiben dem gegenüber die Analysen der englischen und französischen Revolutionen. Auch der Grundwiderspruch marxistischen Geschichtsdenkens – der Drang nach Objektivität einerseits, die utilitaristische Beurteilung historischer Ereignisse nach ihrem Stellenwert für den revolutionären Prozess andererseits – wird nicht erörtert.

Im zweiten Themenkomplex ragt der Abschnitt zur historischen Biographik heraus. Hier fasst Engelberg analytisch souverän und stilistisch bestechend Grundlinien und Grundprobleme biographischer Forschung der letzten beiden Jahrhunderte zusammen. Die Sozialgeschichte der 1970er-Jahre, deren Verdienste er würdigt, habe mit ihrer Forderung nach Einbeziehung zum Beispiel der Sozialpsychologie, der Interaktion bzw. der Handlungstheorie wie von Struktur- und Systemtheorien dennoch die Biographie historischer Persönlichkeiten nicht zum zentralen Forschungsgebiet erhoben. Er attestiert Literaturwissenschaftlern wie Helmut Scheuer und Wissenschaftstheoretikern wie Harold Lasswell eine genauere theoretische Durchdringung der Problematik, hier den Historikern (vor allem den Marxisten) Selbstkritik empfehlend. Die anschließende Typologie historischer Biographien – von der Life-and-Letters-Biographie im angelsächsischen Raum über die wissenschaftlich-kritische Darstellung bis hin zur psychoanalytischen Biographie, die zu schreiben freilich interdisziplinäre Spezialkenntnisse erfordere – ist zu vielschichtig, um hier im Einzelnen referiert zu werden, sei aber allen empfohlen, die sich auf das Feld der Wissenschaft und Kunst der Biographik vorwagen.

Das Kernstück des zehnten Abschnitts bilden Engelbergs bereits früher publizierte „Bemerkungen zu Männern, die Geschichte machen“, mit denen er sich im April 1989 auf einem ihm gewidmeten Ehrenkolloquium an der Akademie der Wissenschaften der DDR von der spätstalinistischen Geschichtsdeutung, wonach die Sowjetgeschichte im Wesentlichen eine Erfolgsgeschichte sei, öffentlich lossagte. Vor einer ost- und westdeutschen Zuhörerschaft prangerte er damals „die Methoden jenes Terrorsystems“ an, das „zur völligen Liquidierung der in der Oktoberrevolution errungenen Arbeiterdemokratie und zur Austilgung der revolutionären Kader“ führte. Doch seine damalige Hoffnung, dass sich der Sozialismus in der Sowjetunion dennoch als „reformfähig“ erweise, erfüllte sich nicht (S. 166f.). Zehn Jahre später schrieb er: „Aber wo sind die Kräfte, die verändernd wirken könnten? Das ist in der Tat die Frage, die bislang noch vor jedem gestanden hat, der sich nicht in spießerhafter Selbstgenügsamkeit mit dem Status quo abfinden will und kann.“ (S. 174) Mehr als in sonstigen mündlichen oder schriftlichen Äußerungen seiner letzten Jahre verweist die Frage auf eine schmerzliche Erkenntnis marxistischer Geschichtssicht: auf die Tatsache, dass wohl das Industrieproletariat nicht – oder nicht mehr – das historische Subjekt revolutionärer Veränderung in dem Maße sein kann, wie die Gründerväter des Marxismus meinten: nachdem es sich in „spießerhafter Selbstgenügsamkeit“ mit dem Status quo des Kapitalismus abgefunden, ja, ihn herbeigeführt hat.

Resignation war aber Engelbergs Sache nicht, wie auch die letzten beiden Abschnitte zeigen. Sichtbar gewordene historische Grenzen einer Klasse, die ihre Fesseln nicht zu sprengen vermag, bedeuten nicht, dass diese Fesseln nicht weiter existieren. Unter den Ausgebeuteten und Ausgegrenzten entstehen neue Führungsklassen, so eine revolutionäre Mittelklasse, was Engelberg jedoch nur andeutet. Doch bleibt, daran hält er fest, der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit bestehen. Diesen sich historisch wandelnden Klassengegensatz als Grundelement des Kapitalismus in seinen allgemeinen wie spezifischen Erscheinungsformen zu untersuchen, bleibt dem marxistischen Historiker weiter auferlegt, nicht nur vom Politischen her, sondern auch als der „methodische Bezugspunkt der Analyse der Geschichte der menschlichen Gesellschaft“ (S. 193). Dabei sollten Historiker auf sprachliche Schemata verzichten, stattdessen „Begrifflichkeit und Anschaulichkeit, Wissenschaftlichkeit und Wirksamkeit“ miteinander zu verbinden suchen (S. 196). Wenn es einen Sinn der Geschichte gebe, dann bestehe er darin, dass der Mensch zunehmend über seine Menschenrechte verfügt, nicht mehr im Sinne eines historischen Determinismus, aber doch als Möglichkeit in den sozialen Auseinandersetzungen angelegt. Das wollte Engelberg begreifbar machen, und auch wer dies mit Skepsis sehen mag, wird die innere Kohärenz, die analytischen Anregungen und die humane Kraft, die in diesen Texten steckt, kaum herunter buchen können.

Anmerkungen:
1 Ernst Engelberg, Theorie, Empirie und Methode in der Geschichtswissenschaft, Berlin [DDR] 1980.
2 Horst Barthel u.a. (Hrsg.), Evolution und Revolution in der Weltgeschichte. Ernst Engelberg zum 65. Geburtstag, 2 Bde., Berlin [DDR] 1976.

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