P. Lundgreen: Datenhandbuch zur deutschen Bildungsgeschichte XI

Cover
Titel
Die Lehrer an den Schulen in der Bundesrepublik Deutschland 1949–2009.


Herausgeber
Lundgreen, Peter
Reihe
Datenhandbuch zur deutschen Bildungsgeschichte 11
Erschienen
Göttingen 2013: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
350 S.
Preis
€ 89,99
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Thomas Ruoss, Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Zürich

Mit der Publikation des Bandes: „Lehrer an den Schulen in der Bundesrepublik Deutschland 1949–2009“ haben die Datenhandbücher zur deutschen Bildungsgeschichte ihren zehnten Sozius erhalten. Das seit 1977 durch die DFG geförderte Projekt nimmt damit zusehends die Gestalt einer umfassenden Inventarisierung historisch-bildungsstatistischer Daten an. Unter der Leitung Peter Lundgreens sind in den letzten Jahren gleich drei DHB-Bände erschienen. Mit diesem Band legen Lundgreen und Schallman das zweite Datenhandbuch in Folge vor, das sich ausdrücklich dem Schulpersonal widmet.

Der Band ist in drei Teile gegliedert. In der Selbstbeschreibung der Autoren wurden „die verfügbaren statistischen Daten benutzerfreundlich aufbereitet, in langen Zeitreihen dokumentiert und sparsam analysiert“ (S. 15). Die sorgfältige Inventarisierung und Aufbereitung historischer Daten in statistischen Langzeitreihen ist bemerkenswert und bildet das Kernstück auch dieses Datenhandbuches. Die Langzeitreihen werden den Lesenden in drei unterschiedlichen Publikationsformaten zur Verfügung gestellt: als gedruckte Tabellen mit zusammenfassenden, auf Bundesebene aggregierten Daten, in vollem Umfang als beiliegende CD-ROM sowie als digitale Datenbank mit eingeschränktem Umfang auf den Servern des GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften.1

Als zweiter, qualitativ eigenständiger Teil des Bandes sind die vier methodischen Anhänge zur Datenerfassung zu verstehen. An dieser Stelle wird deutlich gemacht, dass die Erstellung von Langzeitreihen sich keinesfalls in der Transkription jährlich erschienener statistischer Berichte erschöpft, sondern im Gegenteil einer eigenen interpretativer Leistung bedarf. Die Datenhandbücher orientieren sich zeitlich an den großen Systemzäsuren der deutschen Geschichte. Doch auch innerhalb des Untersuchungszeitraumes des vorliegenden Bandes haben Brüche in der Schulsystementwicklung sowie in der Entwicklung der schulstatistischen Praktiken (unter anderem durch sich wandelnde Erfassungskategorien) stattgefunden. Den Lesenden wird dabei verständlich vor Augen geführt, wie die Autoren aus dem stellenweise inkongruenten statistischen Material quellennahe „tabellarische Konkordanz“ (S. 157) hergestellt haben. Während die Langzeitreihen und deren Analyse eine Geschichte in Daten erlauben, wird in den Anhängen eine Geschichte von Daten ersichtlich, in welcher auch die Statistik produzierenden Akteure eine wesentliche Rolle spielen.2 Dass die Kontexte der statistischen Institutionen und ihre Praktiken im Rahmen des Bandes eine marginale Rolle einnehmen, erklärt sich aus dem Arbeitsschwerpunkt der Datenhandbücher.

Der zentrale Teil des gedruckten Bandes besteht aus einer Analyse der aufbereiteten Daten im Hinblick auf ausgewählte Themenbereiche. Der Aufbau dieser Analysen ist in einer Art und Weise konzipiert, dass auch Lesende ohne statistische Expertise die datengestützten Thesen nachvollziehen können. Der Differenzierungsgrad der Aussagen und die Komplexität der tabellarischen und grafischen Darstellungen nehmen im Verlaufe des Bandes stetig zu. Die Analysen folgen einem einheitlichen Muster: Erst werden die Daten möglichst hoch aggregiert dargestellt, jeweils mit einer Differenzierung nach erworbener Qualifikation (Lehrämter) oder beschäftigten Lehrpersonen (nach Schulart). Die „Passung“ von Qualifikation und Unterrichtstätigkeit wird dann gleich selbst zu einer analytischen Kategorie. Auf einer zweiten Ebene werden die analysierten Merkmale jeweils nach Bundesgebiet (alte oder neue Bundesländer) und nach Segment (allgemeinbildende oder berufliche Schulen) dargestellt. Schließlich kommen auf einer dritten Ebene die eigentlichen Merkmale zum Tragen: Geschlecht, Trägerschaft, Beschäftigungsumfang, Zu- und Abgänge, Altersstruktur, Bundesländer und Lehrernachwuchs (Etappen der Ausbildung, usw.). Dabei werden einzelne Merkmale auch mehrfach zueinander in Beziehung gesetzt.

Die Ergebnisse des Bandes sind vielseitig, an einigen Stellen überraschend, jedoch weitgehend deskriptiv gehalten. Vier Beispiele seien hier genannt:

Über die deskriptive Ebene hinaus wird die „Zyklustheorie vom Wechsel zwischen Überfüllung und Mangel“ einerseits für die Entwicklung des Lehrpersonals seit der Gründung der BRD bestätigt (S. 45), andererseits auch für nichtgymnasiale Lehrkräfte erweitert (S. 109). Die metaphorischen „Wellen“ dieser Entwicklung werden dabei mittels dreidimensionaler Visualisierungen plastisch greifbar dargestellt (S. 110f.).

Die Autoren rekonstruieren, um ein zweites Beispiel aufzuführen, das Studienwahlverhalten in Relation zu den Karriereaussichten des staatlich regulierten Lehrerarbeitsmarktes: „Lehrergenerationen lösen einander ab, solche mit glänzenden Karriereaussichten, andere mit düsteren, die sich in den Zahlen für nicht eingestellte Bewerber drastisch und auf abschreckende Weise niederschlagen.“ (S. 131)3 Daran anschließend zeigen die Autoren, dass sich die Entwicklung der Zahl der Lehramtsstudienanfänger seit den 1980er-Jahren von der Nachfrage des Arbeitsmarktes "entkoppelt" (S. 139). Die Entscheidung, in den Lehrberuf einzusteigen, hängt demnach weniger von den objektiven Rahmenbedingungen, als vielmehr von der „Generationenlagerung“ ab, wobei die Risiken eines Lehramtsstudiums zunehmend Teil einer „kollektiven Einschätzung“ geworden sind (S. 144).

In vergleichender Betrachtung von Lehrpersonen an allgemeinbildenden und beruflichen Schulen zeigt sich ein über die Zeit stabiles quantitatives Verhältnis, was insofern auch für die Autoren unerwartet war, da das System der Berufsausbildung „nach oben offen“ sei, den allgemeinbildenden Schulen dagegen offenbar „keine inneren Grenzen“ gesetzt sind (S. 24). Gleichzeitig veränderte sich die Struktur innerhalb der Segmente relativ umfassend (S. 49).

Mit umfangreichem Datenmaterial wird, um ein letztes Beispiel anzuführen, die These einer „Feminisierung“ des Lehrberufs dargestellt; allerdings mit wenig Bemühen um eine kritische Kontextualisierung der normativ konnotierten Darstellung von Frauen als „Hauptgewinner“ und zwar „auf Kosten der Männer“ (S. 55). Zur These der Feminisierung, wie sie von Lundgreen bereits an anderer Stelle datengestützt diskutiert worden ist4, gelingt den Autoren die Veranschaulichung eines Geschlechterbias’ teilzeitbeschäftigter Lehrkräfte (Mehr-als-50-Prozent-Pensum) über alle Schulstufen hinweg, bei gegenteiligen Verhältnissen der stundenweise beschäftigen Lehrkräfte (Weniger-als-50-Prozent-Pensum und Referendare) (S. 92).

Einige weitere Aspekte des Bandes bedürfen der kritischen Begutachtung:

Was im Vorwort als sparsame Analyse bezeichnet wird, tritt bereits am ersten Fallbeispiel sprachmächtig auf; die Lehrpersonen „expandieren gewaltig“ in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wohingegen die alten universitären Berufsgruppen (Mediziner und Juristen) zu „kleinen Minderheiten“ geworden seien (S. 19). Eine andere, weniger deutlich normativ konnotierbare Lesart legen die abgebildeten Daten der dazugehörigen Tabelle nahe. Die Senkung des relationalen Anteils der Lehrerprofession ist größer, deren absolutes Wachstum im Verhältnis kleiner als dasjenige der Mediziner und Juristen. Diese Gegenüberstellung von kleinen Minderheiten und gewaltigem Wachstum kann auf Grundlage der dargestellten Daten nicht überzeugen.5 An dieser Stelle wird deutlich, dass die Verfügbarkeit von Daten, deren Darstellung und deren Deutung nicht losgelöst voneinander verstanden werden können – und eine weiterführende Transparenz dieses Dreischrittes die Validität von Aussagen zusätzlich erhöhen würde.

Im Laufe des Analyseteils nimmt die referenzierte Datenmenge stetig zu. Dank der vielen internen Verweise bleiben die Analysen jedoch gut nachvollziehbar. Dadurch erinnert der Bande stilistisch je länger desto mehr an einen Bildungsbericht. Die anfangs noch vorzufindenden Bezüge auf historische, insbesondere sozial- und institutionengeschichtliche Kontextentwicklungen, werden zu Gunsten interner Verknüpfungen zusehends aufgegeben. Und vielleicht ist es sinnbildlich für diesen Stil der Bildungsberichterstattung, dass keine Fragen mehr gestellt, sondern vor allem Tatsachen festgestellt werden – eigentlich entgegen dem Selbstverständnis der Autoren, eine „problemgeschichtliche“ Arbeit vorzulegen (S. 17).

Die Datenhandbücher, der XI. Band fügt sich gut in die Reihe ein, sind nicht genuin das Ergebnis historischer Analysetätigkeit, sondern primär ein Arbeitsinstrument, dessen Wert und dessen Qualität im Grunde erst mittels intensiver Arbeit mit den bereitgestellten Daten beurteilt werden können. Die Voraussetzungen dazu – kritische Darstellung der Erhebungskategorien, der Schulsystementwicklungen sowie der Quellenlage – sind auch in diesem Band unbestritten gegeben.

Anmerkungen:
1 Vgl. <http://www.gesis.org/histat/> (29.08.2013).
2 Die Quellen des Bandes entstammen folgenden Institutionen: Statistisches Bundesamt, Kultusministerkonferenz, Bund-Länder-Kommission, Bundesanstalt für Arbeit.
3 Im „Spitzenjahr“ 1986 stehen 54.134 nicht aufgenommenen Bewerbern in den öffentlichen Schuldienst nur 7.261 eingestellte Bewerber gegenüber (Tab. 22, S. 134).
4 Peter Lundgreen, Die Feminisierung des Lehrerberufs: Segregierung der Geschlechter oder weibliche Präferenz? Kritische Auseinandersetzung mit einer These von Dagmar Hänsel, in: Zeitschrift für Pädagogik 45/1 (1999), S. 121–135.
5 Die Tabelle beschreibt Studienanfänger nach Berufsgruppen. Differenzierter dargestellt wird diese These an anderer Stelle: Peter Lundgreen, Berufliche Schulen und Hochschulen in der Bundesrepublik Deutschland 1949–2001, Datenhandbuch zur deutschen Bildungsgeschichte, Bd. VIII., Göttingen 2008, bes. S. 105–108.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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