J.-H. Meyer u.a. (Hrsg.): Societal Actors in European Integration

Cover
Titel
Societal Actors in European Integration. Polity-Building and Policy-Making 1958–1992


Herausgeber
Meyer, Jan-Henrik; Kaiser, Wolfram
Reihe
Palgrave Studies in European Union Politics
Erschienen
Anzahl Seiten
296 S.
Preis
£ 60.00 / € 76,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jens Ruppenthal, Historisches Institut, Abteilung für Didaktik der Geschichte und Geschichte der Europäischen Integration, Universität zu Köln

Es käme einem wahrscheinlich seltsam vor, wenn ein im Jahr 2013 erscheinendes Buch zur europäischen Integration nicht zumindest mit einem Verweis auf die aktuelle Finanzkrise in der EU beginnen würde. Das ist auch in dem vorliegenden Sammelband der Fall – doch bei dem Verweis bleibt es. Im weiteren Verlauf ihrer Einleitung stellen die Herausgeber vielmehr klar, worin die Stärken einer geschichtswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem europäischen Integrationsprozess über längere Zeiträume hinweg liegen. Wolfram Kaiser, seit vielen Jahren Professor of European Studies in Portsmouth, und Jan-Henrik Meyer, Post-doctoral Research Fellow in Aarhus, konzentrieren sich zusammen mit neun weiteren Autorinnen und Autoren in elf Beiträgen, einschließlich Einleitung und Schlussbetrachtung, auf die Jahre 1958 bis 1992. Sie interessieren sich für langfristige Entwicklungen und die sie kennzeichnenden Veränderungen und Brüche, die sich ohne eine gewisse zeitliche Distanz nicht erfassen lassen. Ihre Entscheidung für das Ende dieses Zeitraums begründen Kaiser und Meyer mit dem Hinweis auf die umfangreiche, vor allem politikwissenschaftliche Forschung zum Geschehen nach 1992, und so wirft in diesem Buch lediglich ein Aufsatz einen Blick auf die gesellschaftlichen Akteure in der Zeit nach dem Vertrag von Maastricht.

Die societal actors sollen im Rahmen des Bandes als bewusst unscharf umrissene Gruppe von kollektiven Akteuren verstanden werden. So soll die Problematik von Dichotomien – öffentlich/privat, staatlich/nicht-staatlich – vermieden werden, deren analytisches Potenzial durch holzschnittartige Kategorisierung eingeschränkt wird. Kaiser und Meyer verstehen die gesellschaftlichen Akteure als Vertreter gemeinschaftlicher Interessen, die im nationalen Rahmen entstehen und auf der zunehmend relevanten Ebene einer transnationalen europäischen Gesellschaft wirksam werden. Nach dieser Maßgabe können politische Parteien oder Gewerkschaften ebenso zu ihnen zählen wie unternehmerische Lobbygruppen oder organisierte Protestbewegungen. Diese relative Zurückhaltung in der Definition soll es den Autorinnen und Autoren ermöglichen, gerade die personellen und institutionellen Verflechtungen in der und durch die Tätigkeit der societal actors aufzuzeigen. Die für alle Beiträge leitenden Fragen beziehen sich dabei zum einen auf die Beweggründe für das europäische Engagement und die Organisationsformen von gesellschaftlichen Akteuren und zum anderen auf deren konkrete Ziele und die Vorgehensweisen zur Erreichung derselben. Zudem formulieren Kaiser und Meyer die Hypothese, dass sich im Untersuchungszeitraum nicht nur die Anzahl und die Vielfalt der societal actors erhöht haben, sondern auch eine Schwerpunktverlagerung in den Aktivitäten von der strukturellen Ebene des polity-building zur inhaltlichen Ebene des policy-making zu beobachten ist.

In ihrem resümierenden Abschlussbeitrag kommen die Herausgeber unter anderem auf diese Hypothese zurück, um sie freilich zurückhaltend als zutreffend zu bezeichnen, denn da die im Band untersuchten gesellschaftlichen Akteure häufig in informellen Rahmen tätig waren, ist ihr Einfluss oft nicht leicht zu erforschen. Was Veränderungen in der Formierung und im Auftreten der Akteure über längere Zeiträume hinweg angeht, lässt sich ein Wandel seit den 1970er-Jahre konstatieren. Neben der zunehmenden Europäisierung intergouvernementaler Zusammenarbeit und der Einführung von Direktwahlen zum Europäischen Parlament ab 1979 bot insbesondere die Einbeziehung neuer Politikfelder auf europäischer Ebene verbesserte Zugangsmöglichkeiten für gesellschaftliche Akteure, beispielsweise im Umweltschutz oder in der Aufwertung der Regionen. Das Schlusskapitel verleiht im Übrigen der Publikation eine Kohärenz, die Sammelbänden grundsätzlich zu wünschen wäre.

Die Substanz des Bandes bilden neun historische Aufsätze zum Zeitraum 1958–1992 und ein anschließender Überblick von Karen Heard-Lauréote zur Entwicklung „Beyond Maastricht: Societal Actors in European Integration Since 1992“. Den Anfang machen zwei Texte zu politischen Parteien als Akteure, nämlich von Wolfram Kaiser zu Entwicklungen in der Europäischen Volkspartei mit Fokus auf die 1970er-Jahre und von Christian Salm zur transnationalen Zusammenarbeit unter sozialistischen Parteien zur Bildung einer europäischen Entwicklungspolitik. Die vier folgenden Kapitel thematisieren das unterschiedlich gelagerte Verhältnis von Wirtschaftsinteressen und europäischer Politik: Zunächst geht es um die Bemühungen nationaler Wirtschaftsverbände um Einfluss auf die Formierung einer europäischen Wettbewerbspolitik (Werner Bührer, Laurent Warlouzet) und um die Rolle industrieller Interessenvereinigungen in den Verhandlungen um das General Agreement on Tariffs and Trade (Lucia Coppolaro). Sodann widmet sich ein Beitrag dem besonders kontroversen Bereich der Gemeinsamen Agrarpolitik und hier konkret dem Widerstand der Agrarlobby gegen allzu weitreichende Reformen (Carine Germond) sowie ein weiterer – am Beispiel der Wasserversorgung der senegalesischen Hauptstadt Dakar – den Versuchen von nationalen Unternehmen und Wirtschaftsverbänden, auf die europäisch-afrikanische Entwicklungszusammenarbeit einzuwirken (Martin Rempe). Weitere drei Aufsätze befassen sich schließlich mit gesellschaftlichen Akteuren anderer Ausrichtung: mit dem Bestreben der Gewerkschaften, gemeinsam mit der Europäischen Kommission verbindliche Regelungen für die Arbeitsbedingungen in multinationalen Unternehmen einzuführen (Francesco Petrini), mit der Fédération internationale pour le droit européen (FIDE), einem Zusammenschluss nationaler Vereine von Europarechtlern, und ihrer Mitwirkung an der Entwicklung des europäischen Rechts (Morten Rasmussen), zu guter Letzt mit der Umweltbewegung und der Gründung des Europäischen Umweltbüros 1974 in Brüssel zum Zwecke umweltpolitischer Einflussnahme insbesondere auf dem Gebiet der Atomenergie (Jan-Henrik Meyer).

Alle Beiträge basieren auf außerordentlich soliden Quellen- und Literaturgrundlagen, die deutlich machen, dass die historische Erforschung gesellschaftlicher Akteure – wie zu erwarten – die Erschließung von Dokumenten unterschiedlichster, das heißt oft auch bisher wenig beachteter Provenienz erfordert. Zudem wird insgesamt deutlich, dass es für eine historische Analyse schwierig und wohl auch wenig sinnvoll ist, eine klare Grenze zwischen polity-building und policy-making als Gegenstände des Engagements verschiedener Gruppen von societal actors zu ziehen. Diese eher in ihrer Gesamtheit zu betrachten und auf die eingangs erwähnten gängigen, einschränkenden Zuordnungen etwa zu den Gruppen der staatlichen oder nicht-staatlichen Akteuren zu verzichten, kommt stattdessen der geschichtswissenschaftlichen Betrachtung entgegen, ganz wie von Kaiser und Meyer angedacht. Für eine fortgesetzte historische Erforschung der europäischen Integration, die sich gerade auch um andere als gewohnte politik- und wirtschaftshistorische Zugänge bemüht, bietet der Band kluge und anregende Gedanken und Beispiele.

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