F. Reichherzer: „Alles ist Front!“ Wehrwissenschaft in Deutschland

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Titel
„Alles ist Front!“. Wehrwissenschaften in Deutschland und die Bellifizierung der Gesellschaft vom Ersten Weltkrieg bis in den Kalten Krieg


Autor(en)
Reichherzer, Frank
Reihe
Krieg in der Geschichte 68
Erschienen
Paderborn 2012: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
515 S.
Preis
€ 44,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Helmuth Trischler, Deutsches Museum, München

Die großangelegten Forschungsverbünde des letzten Jahrzehnts zur Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, zur Deutschen Forschungsgemeinschaft und zu den Kontinuitäten und Brüchen im deutschen Wissenschafts- und Innovationssystems haben die Phase zwischen dem Ersten Weltkrieg und der Epochenwende um 1970 neu vermessen. Wenn es ein Themenfeld gibt, das bei dieser umfangreichen Neukartierung weitgehend ausgespart worden ist, dann ist dies die Verschränkung von Militär und Wissenschaft. Dieser Verknüpfung geht die Studie von Frank Reichherzer auf den Grund, die ebenfalls in einem Großvorhaben historischer Forschung, dem Tübinger SFB 437 zu Kriegserfahrungen in der Neuzeit, entstanden ist. Die Kernthese der fulminanten Arbeit lautet, in der naturwissenschaftlich-technischen wie auch in der sozial- und geisteswissenschaftlichen Forschung außerhalb der deutschen Universitäten zeige sich in der Zeit der Weltkriege eine durchgängige Signatur der Bellifizierung. Der Krieg sei zu einem Sinn stiftenden Fluchtpunkt der Wissenschaft geworden, und diese alles durchdringende Prägung habe sich auch noch bis in die ersten Phasen des Kalten Krieg bis in die 1970er–Jahre hinein gezogen.

Das analytische Konzept der Bellifizierung geht über die klassische Militarismusforschung hinaus und ermöglicht es Reichherzer, Bekanntes neu zu lesen und Neues zu entdecken. Im Unterschied zur Prägung von Wissenschaft durch die Orientierungs- und Handlungslogik des Militärs im Paradigma der Militarisierung eröffnet der bellizistische Blick eine erweiterte Perspektive auf die unauflösliche Verschmelzung von Zivilem und Militärischem in weiten Teilen der Wissensproduktion. Die Wehrwissenschaften markieren dabei nicht etwa eine Disziplin, die sich im komplexen Wissenschaftsgefüge ein abgesichertes Terrain zu erobern suchen. Vielmehr beabsichtigten die wehrwissenschaftlichen Akteure, das gesamte Wissenschaftssystem auf den Krieg als Leitkategorie auszurichten. Wehrwissenschaftler waren professionelle Experten des Krieges, denen es gerade nicht darum ging, eine eigene Disziplin zu etablieren, sondern wehrwissenschaftliche Aspekte in ihren jeweiligen Referenzdisziplinen zu verankern.

Ausgangspunkt der Studie ist der Erste Weltkrieg, dessen katalytische Rolle für eine enge Verknüpfung von Militär und Gesellschaft sowie Krieg und technisierter Wissenschaft Reichherzer in Übereinstimmung mit der jüngeren Weltkriegsforschung überzeugend herausarbeitet. Die zeitgenössische Deutung als »totaler Krieg« bereitete den Boden für eine Umformung von Teilen des Wissenschaftssystems in ein inter- und transdisziplinäres Feld von Wehrwissenschaften, ein Prozess der durch das „Wehrsyndrom“ (S. 96) der späten 1920er–Jahre verstärkt wurde und sich aus den Natur-, Technik-, Sozial- und Geisteswissenschaften gleichermaßen speiste. Geprägt durch Bibliothekare der Militärbüchereien Mitte der 1920er–Jahre umfasste der Begriff der Wehrwissenschaften vier eng verknüpfte Entwicklungsstränge: erstens die Deutung des Krieges als gesamtgesellschaftliches Ereignis, zweitens das daraus folgende Ziel einer wissenschaftsinternen und systemübergreifenden Vernetzung, drittens die Beratung und Ausbildung von Entscheidungsträgern und viertens die öffentliche Vermittlung von Wissen für und über den Krieg.

Die Stärke des Buches liegt in der ebenso dichten wie luziden Erzählung der institutionellen Herausbildung wehrwissenschaftlicher Institute und Organisationen sowie deren Kontinuitäten und Diskontinuitäten zwischen Weimarer Republik und Kaltem Krieg. Besonders instruktiv sind die beiden Fallstudien zum Institut für Wehrpolitik an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität, geleitet von dem Geografen Oskar Ritter von Niedermayer, und zum von Paul Schmitthenner gegründeten Seminar für Kriegsgeschichte der Universität Heidelberg. In einer Art close reading der Arbeiten der beiden Protagonisten werden divergierende kognitiv-konzeptionelle Muster wehrwissenschaftlicher Zielsetzungen und Ordnungsvorstellungen plastisch.

Reichherzer widersteht der Gefahr, sich im üppig wuchernden Dickicht wehrwissenschaftlicher Institutionen und Denkstile zu verlieren. Er zielt gerade nicht auf ein Gesamtpanorama des in seiner Vielgestaltigkeit schwer zu fassenden Wissenschaftsbereichs, sondern behält konsequent den analytischen Fokus auf der Verflechtung von Militär und Zivilgesellschaft sowie Krieg und Wissenschaft bei. Der lange Untersuchungszeitraum ermöglicht es ihm dabei, sich von der vorschnellen These einer Reduzierung des Phänomens auf die Epoche der beiden Weltkriege zu lösen und stattdessen deren prägende Kraft bis in die ersten beiden Jahrzehnte des Kalten Krieges hinein herauszuarbeiten. Erst der gesamtgesellschaftliche Umbruch der späten 1960er–Jahre entzog den Wehrwissenschaften den Nährboden.

Wie die beiden Fallstudien zu Berlin und Heidelberg unterstreichen, waren es vor allem die Sozial- und Geisteswissenschaften, in denen wehrwissenschaftliche Ordnungsvorstellungen besonders breit Fuß fassen konnten. Die Geschichte zuvorderst entwickelte sich in Form der Kriegsgeschichte zu einer Art Leitwissenschaft des wehrwissenschaftlichen Feldes.

Die Fokussierung der Studie auf die Rolle der Sozial- und Geisteswissenschaften in der Formierung, Entfaltung und Schrumpfung des wehrwissenschaftlichen Feldes hat freilich auch ihre Kosten. Sie liegen vor allem darin, dass deren Verknüpfung mit den natur- und ingenieurwissenschaftlichen Zentren des Feldes aus dem Blick geraten – die Gründung und Entwicklung der Wehrtechnischen Fakultät an der TH Berlin ab 1935, zumal sie zahlreichen anderen Technischen Hochschulen im Reich als Vorbild diente, etwa auch beim gescheiterten Versuche der TH Aachen, eine Wehrwissenschaftliche Fakultät aufzubauen, oder auch das Ausgreifen der Wehrwissenschaften auf die medizinische Forschung und damit auf die Lebenswissenschaften. Die Leitvorstellung der Totalität des Krieges, in der sich die Grenzen zwischen Militär und Zivilgesellschaft auflösen sollten, hatte in der alle Disziplinen erfassenden Totalität der Wehrwissenschaften ihr konzeptionelles Pendant. Diese Totalität geht mit der Konzentration des Buches auf die Sozial- und Geisteswissenschaften verloren. Zudem steht die starke These, die Signatur der Bellifizierung habe die gesamte „naturwissenschaftlich-technische Forschung außerhalb der Universitäten“ (S. 230) einschließlich der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft geprägt, dadurch auf recht wackeligen Beinen. Die KWG in toto während der Zwischenkriegszeit einer Ausrichtung auf den Krieg zu unterstellen, fällt hinter die Differenziertheit der jüngeren Forschung zur KWG-Geschichte weit zurück.

Diese Kritik kann das außerordentliche Verdienst der Studie kaum schmälern. Reichherzer hat eine von Anfang bis Ende überzeugende Analyse eines wissenschaftlichen Feldes vorgelegt, dessen enorme Bedeutung für das deutsche Wissenschaftssystem im kurzen 20. Jahrhundert bislang weitestgehend übersehen worden ist. Auf hohem Niveau geschrieben, wartet er mit einem Feuerwerk von innovativen Ergebnissen und klugen Erkenntnissen zur deutschen Wissenschafts- und Gesellschaftsgeschichte auf. Die Sonde der Wehrwissenschaften zu nutzen, um übergreifende Prozesse zur Bellifizierung der deutschen Gesellschaft zwischen Erstem Weltkrieg und Kaltem Krieg herauszuarbeiten, hat sich als sehr ertragreich erwiesen – Wissenschaftsgeschichte als Gesellschaftsgeschichte at its best.

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