Th. Raithel: Jugendarbeitslosigkeit in der Bundesrepublik

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Titel
Jugendarbeitslosigkeit in der Bundesrepublik. Entwicklung und Auseinandersetzung während der 1970er und 1980er Jahre


Autor(en)
Raithel, Thomas
Reihe
Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 105
Erschienen
München 2012: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
VII, 158 S.
Preis
€ 24,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Albrecht Franz, Historisches Seminar, Universität Heidelberg

Thomas Raithels Studie über die Jugendarbeitslosigkeit in der Bundesrepublik der 1970er- und 1980er-Jahre entstand im Rahmen eines Forschungsprojektes zur „Krise der Arbeitsgesellschaft 1973–1989“ am Institut für Zeitgeschichte. Das Projekt steht im Kontext der noch verhältnismäßig jungen Auseinandersetzung mit dem wirtschaftlich-gesellschaftlichen Wandel „nach dem Boom“.1 Nach wie vor gilt es diesen Umbruch wirtschaftshistorisch erst näher zu bestimmen, der in zeitgenössischer Sicht als „Strukturwandel“ von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft beschrieben wurde. Die Jugendarbeitslosigkeit ist ein Aspekt dieses Wandels. Infolge des Ölpreisschocks 1973 und der darauf folgenden Wirtschaftskrise erreichten die Arbeitslosenzahlen ihren stärksten Anstieg seit 1949, was auch für die bis dato kaum vorhandene Jugendarbeitslosigkeit galt. Da das Thema bislang nur ansatzweise historisch bearbeitet wurde, legt Raithel eine Studie vor, die in erster Linie einen Überblick über das Phänomen und dessen Facetten gibt.

Zunächst legt Raithel die Entwicklung, die Ursachen und Formen der Jugendarbeitslosigkeit im westeuropäischen Kontext dar. Dabei geht er auch der Frage nach, weshalb sie in Deutschland vergleichsweise gering ausfiel. Dennoch fand das Thema öffentlich und politisch große Beachtung. Daher fragt Raithel im dritten Kapitel, das den Schwerpunkt der Studie darstellt, nach der Wahrnehmung des Phänomens Jugendarbeitslosigkeit. Im Vordergrund stehen dabei die „grundlegenden Wahrnehmungs- und Handlungsmuster innerhalb der politischen Eliten und der politischen Öffentlichkeit“ (S. 8).

Auf der Grundlage zeitgenössischer sozialwissenschaftlicher Studien stellt Raithel fest, die Arbeitslosigkeit der 1970er- und 1980er-Jahre habe „nur eine schwach ausgeprägte jugendspezifische Krisendimension“ gehabt (S. 15). Die Jugendarbeitslosigkeit unterschied sich in Deutschland nicht deutlich von der allgemeinen Arbeitslosenquote und lag weit unter derjenigen anderer europäischer Staaten. Anhand eines Vergleichs mit Frankreich werden mögliche Ursachen der nationalen Unterschiede in Ausmaß und Wahrnehmung der Jugendarbeitslosigkeit sichtbar. Deren Ausmaße waren in Frankreich weitaus größer als in Deutschland, selbst wenn man die statistischen Effekte des unterschiedlichen Ausbildungssystems berücksichtigt. Die Ursache hierfür vermutet Raithel im positiven Effekt des dualen, praxisnahen Ausbildungssystems in Deutschland, hebt aber auch die unterschiedliche Bewertung von Jugend hervor: Im Frankreich der 1970er- und 1980er-Jahre habe das Thema „Jugend“ nur einen „beschränkten gesellschaftlichen Stellenwert“ besessen, sodass auch die öffentliche Sensibilität für das Thema geringer gewesen sei (S. 56).

Leider tritt die Rolle einer spezifischen Wahrnehmung von Jugend und Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland in diesem Teil der Arbeit hinter dem Anspruch zurück, das Phänomen auf ein umfassendes statistisches Fundament zu stellen. So erfährt die Leserschaft zwar, dass schlecht ausgebildete Frauen, ausländische Jugendliche oder die Standorte der chemischen Industrie besonders betroffen waren – welche Rolle das für die Wahrnehmung des Problems oder die politische Steuerung spielte, wird aber nicht mehr aufgegriffen. Hier deutet sich ein Manko der Studie bereits an: Über die durchaus umfassende und differenzierte Darstellung hinaus mangelt es an einer Einordnung und Bewertung der einzelnen Aspekte im Hinblick auf ihre Bedeutung für das empfundene Ausmaß des Problems, aber auch hinsichtlich des Zusammenhangs mit dem wirtschaftlichen Wandel der 1970er-Jahre insgesamt. Dieser erste Teil der Studie geht über die Analysen der zeitgenössischen Sozialforscher daher kaum hinaus, die historische Dimension ihrer Ergebnisse bleibt vage.2

Auch im darauf folgenden Hauptteil gibt Raithel der umfassenden Darstellung der einzelnen Dimensionen der öffentlichen und politischen Auseinandersetzung mit der Jugendarbeitslosigkeit den Vorzug vor einer wirtschaftshistorischen Einordnung. Die verschiedenen Diskursebenen der Debatte um die Jugendarbeitslosigkeit werden hingegen detailliert herauspräpariert. Diese war Teil eines allgemeinen Krisendiskurses, der auf einen „langwierigen Prozess der Desillusionierung“ aufgrund des wirtschaftlichen Umbruchs zurückzuführen sei, stand aber auch im Kontext des deutschen Terrorismus und eines sich entwickelnden ökologischen Krisenbewusstseins (S. 71). Die Bewertung des Problems unterschied sich jedoch durchaus. So stand in den 1970er-Jahren die in der Presse von Experten und der politischen Opposition geäußerte pessimistische Einschätzung einer recht optimistischen der Regierung gegenüber.

Auch die Topoi, mit denen die Jugendarbeitslosigkeit thematisiert wurde, unterschieden sich. Die Vorstellung von einer Verantwortung der älteren gegenüber der jüngeren Generation wurde ebenso verhandelt wie der Zusammenhang von Jugendarbeitslosigkeit und Jugendkriminalität. Sogar die politische Gefahr, die von heranwachsenden vermeintlichen „Systemgegnern“ ausging, wurde diskutiert. Hier verbanden sich die Debatte um Jugendarbeitslosigkeit und eine Veränderung der Wahrnehmung von „Jugend“. Der Eintritt ins Berufsleben erfolgte immer später, es bildeten sich jugendspezifische Milieus, bestehende Vorbilder für den Verlauf einer Erwerbsbiographie verloren an Verbindlichkeit. Auch diese Entwicklung wurde als krisenhaftes Phänomen diskutiert, wobei die Jugend gleichzeitig zunehmend als eigenständige Lebensphase akzeptiert wurde. Bereits Ende der 1980er-Jahre verlor das Thema Jugendarbeitslosigkeit jedoch an politischer und öffentlicher Beachtung.

Nach dieser Aufschlüsselung der Akteure, Diskussionsebenen und thematischen Felder der Debatte legt Raithel abschließend die politischen „Handlungsfelder und Handlungsmuster“ im Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit dar. Mit Akribie stellt er die Maßnahmen zusammen, die innerhalb der Politikfelder Wirtschaft, Arbeitsmarkt, Bildung und Sozialpädagogik ergriffen wurden. Damit deutet sich schon an, auf welch breiter Ebene nach politischen Lösungen für die Jugendarbeitslosigkeit gesucht wurde. Konkrete Maßnahmen bestanden etwa in der Deregulierung des Arbeitsrechts, in der Schaffung von Vorruhestandsregelungen oder einer Verlängerung der Hauptschulausbildung von acht auf bis zu zehn Schuljahre. Letztere Maßnahme sollte nicht allein die Qualität der Schulbildung erhöhen, sondern auch den Andrang der Absolventen auf den Arbeitsmarkt verzögern. Vor einer Bewertung der konkreten Wirkung dieser Maßnahmen hütet sich Raithel zu Recht; die Spielräume seien ohnehin beschränkt gewesen. In der ökonomischen Situation und strukturellen Faktoren, wie dem dualen Ausbildungssystem, sieht Raithel die wichtigeren Ursachen für die Entwicklung der Jugendarbeitslosigkeit.

Raithel leistet eine breit angelegte historische Bestandsaufnahme des Phänomens der Jugendarbeitslosigkeit als einem Teilaspekt des Wandels der Arbeitsgesellschaft seit den 1970er-Jahren. In diesem Unterfangen reißt er zwangsläufig zahlreiche Problembereiche nur an, die der weiteren Forschung bedürfen. Das gilt vor allem für die These des Zusammenhangs zwischen der Wahrnehmung von Jugend und dem besonderen Stellenwert der Jugendarbeitslosigkeit in der öffentlichen Debatte. Anzunehmen, dass die parallel stattfindende Debatte um die Phase der Jugend diejenige um die Jugendarbeitslosigkeit verstärkte, scheint durchaus plausibel. Inwieweit es sich dabei um eine speziell deutsche Jugend-Wahrnehmung handelte – eine mögliche Erklärung, auf die der Autor immer wieder hinweist – bleibt freilich erst zu belegen.

Ein weiterer offener Problembereich, den Raithel andeutet, betrifft die sich verändernde Wahrnehmung dessen, was eine „normale“ Erwerbsbiographie ausmacht. Der Krisendiskurs um die Jugendarbeitslosigkeit schwächte sich ja bereits Ende der 1980er-Jahre wieder ab. Obwohl die Jugendarbeitslosigkeit nicht mehr sank, setzte eine „Normalisierung“ des Phänomens ein (S. 135f). Im Zuge des Wandels der Arbeitsgesellschaft bildeten sich also neue „Normalitäten“ heraus, die etwa ein neues Verständnis von flexiblen Arbeitsverhältnissen beinhalteten. Auch die Diskrepanz zwischen den Ausmaßen der Jugendarbeitslosigkeit und der empfundenen Krise wäre ein wichtiger Ansatzpunkt zur näheren Bestimmung des Wandels. Sie verweist insbesondere auf die prinzipielle Notwendigkeit, bei der Analyse ökonomischer, in diesem Fall arbeitsmarktpolitischer, Zusammenhänge die Wahrnehmung der Zeitgenossen nicht nur ergänzend zu thematisieren, sondern sie als erklärenden Faktor in den Vordergrund zu rücken – schließlich entscheidet sie allein über den Unterschied zwischen „Krise“ und „Normalität“. Eine Anregung hierfür hat Thomas Raithel mit der vorliegenden Studie geliefert.

Anmerkungen:
1 Vgl. Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008.
2 Dieses Problem haben etwa Kim Priemel und Rüdiger Graf intensiv diskutiert. Sie verweisen dabei unter anderem auf die Gefahr, die zeitgenössische Deutung eines „Strukturwandels“ unhinterfragt zu übernehmen. Vgl. Rüdiger Graf / Kim Christian Priemel, Zeitgeschichte in der Welt der Sozialwissenschaften. Legitimität und Originalität einer Disziplin, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 59 (2011), S. 479–508, hier S. 495ff.

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