R. Kučera: Staat, Adel und Elitenwandel

Cover
Titel
Staat, Adel und Elitenwandel. Die Adelsverleihungen in Schlesien und Böhmen 1806–1871 im Vergleich


Autor(en)
Kučera, Rudolf
Reihe
Kritische Studien Zur Geschichtswissenschaft 205
Erschienen
Göttingen 2012: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
320 S.
Preis
€ 54,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Fahrmeir, Johann-Wolfgang-Goethe Universität

Dass sich die Adelsforschung eines wachsenden Interesses erfreut, ist inzwischen ein Allgemeinplatz. Der Fokus auf das Schicksal (alt-)adeliger Familien in der Moderne hat jedoch bisweilen die Frage in den Hintergrund treten lassen, wie sehr sich der Adel durch Nobilitierungen veränderte. Rudolf Kučeras Berliner Dissertation analysiert nun im preußisch-österreichischen Vergleich, ob Adelserhebungen dazu genutzt wurden, die Zusammensetzung der Elite monarchisch verfasster Staaten an soziale und ökonomische Veränderungen anzupassen oder nicht. Zu diesem Zweck untersucht er die Nobilitierungspraxis in zwei besonders stark von der Industrialisierung betroffenen Regionen: Schlesien und Böhmen.

Das erste Kapitel beschreibt den Untersuchungsraum, die administrativen Wege zur Adelsverleihung (wobei die beteiligten, zunehmend professionalisierten Behörden besonders beachtet werden) sowie das Ausmaß adeliger Vorrechte, die sich im Laufe der Zeit als stets bescheidener erwiesen: So hat über die revolutionäre Zäsur von 1848 hinaus neben dem gesellschaftlichen Prestige allenfalls der Zugang zu bestimmten Bildungsgängen und Stiftungen Bestand gehabt. Die Aufnahme in den Adel erfolgte auf Antrag. Dieser ging in der Regel von den unmittelbar Betroffenen aus und wurde von spezialisierten Bürokraten bearbeitet. Dabei hatte die zuständige Behörde in Preußen (seit 1854 handelte es sich um das Heroldsamt) rund 30, die nur teilweise mit Adelssachen beschäftigte Vereinigte Hofkanzlei in Österreich knapp 140 Mitarbeiter. Diese Experten entschieden darüber, ob der Antrag überhaupt bearbeitet werden sollte, und welche zusätzlichen Informationen erforderlich waren. Sie arbeiteten meist innerhalb eines Jahres eine Empfehlung aus, die dem König bzw. Kaiser zur abschließenden Bewilligung vorgelegt wurde. Im positiven Falle erfolgte nach Zahlung der entsprechenden Gebühren entweder individuell oder zu bestimmten Festtagen gebündelt die Aushändigung der Adelsdiplome. Im Falle einer Ablehnung war die Aussicht auf individuelle Rangerhöhungen erst einmal beendet. Mit entsprechendem zeitlichem Abstand konnte jedoch ein neuer Antrag gestellt werden, der manchmal durchaus erfolgreich war. In Preußen war die Nobilitierung prinzipiell Ermessenssache; in Österreich verliehen dagegen ein mehr als dreißig Jahre dauernder Militärdienst als Offizier beziehungsweise die Verleihung bestimmter Orden einen Rechtsanspruch auf die Nobilitierung.

Den Kern der hier anzuzeigenden Arbeit stellt die Analyse der Nobilitierungen in Schlesien und Böhmen dar. Für die großen Linien der Entwicklung bezieht sich der Autor auf die jeweiligen Gesamtstaaten. In Preußen blieben militärische Verdienste der zentrale Punkt; allerdings nahm ihre Bedeutung im Laufe der Zeit ab, und nach 1848 waren es überwiegend Zivilisten, die für ihre Unterstützung von König und Vaterland mit der Erhebung in den Adelsstand belohnt wurden. Im frühen 19. Jahrhundert handelte es sich dabei ganz überwiegend um Beamte, mit der Zeit immer häufiger um Rittergutsbesitzer. Am Anfang von Kučeras Untersuchungszeitraum waren rund 60% der in ganz Preußen Nobilitierten Offiziere; drei Viertel der Zivilisten waren Beamte. Am Ende hatten sich die Verhältnisse umgekehrt. Offiziere machten nun nur noch 40% der Nobilitierten aus, während 70% der Zivilisten Rittergutsbesitzer waren. Industrielle oder Wissenschaftler spielten praktisch keine Rolle. Kučera führt dies auf die bewusste Strategie Friedrich Wilhelms IV. zurück, den preußischen Adel nach dem Vorbild des englischen zu gestalten, der sich in der preußischen (Fehl-)Wahrnehmung vor allem durch die soziale Stabilität auszeichnete, die großen, durch die Einrichtung eines Fideikommiss über Generationen gesicherter Grundbesitz verlieh. Daher hatten die Anträge landloser Beamter oder armer Offiziere immer geringere Chancen, die von Gutsbesitzern (die ihr Vermögen aber zumindest teilweise in der Industrie erworben hatten) immer größere. Eine Erhebung polnischer Familien aus den preußischen Teilen Schlesiens in den Adel fand praktisch nicht statt.

Auch wenn man das in Berlin anders sehen mochte, so war das österreichische Modell der britischen Praxis einer Auszeichnung bedeutender Leistungen, die etwa Ged Martin1 detailliert rekonstruiert hat, sehr viel ähnlicher. Zwar verschob sich der Schwerpunkt ähnlich wie in Preußen im Laufe der Zeit von den Militärs zu den Zivilisten; unter den Zivilisten war aber rund die Hälfte der Neuadeligen nicht in der staatlichen Bürokratie, sondern im Handel, in der Industrie oder der Wissenschaft tätig gewesen. Die Praxis einer etwa doppelt so häufig wie in Preußen gewährten Zuerkennung von Adelstiteln sollte also eher eine Leistungs- als eine reine Vermögenselite schaffen. Dass die österreichische Nobilitierungspraxis darauf abzielte, alle herausragenden Persönlichkeiten an die Monarchie zu binden, wurde auch daran deutlich, dass tschechische nationalistische Agitation oder Zugehörigkeit zur jüdischen Religionsgemeinschaft die Verleihung eines Adelsprädikats keineswegs ausschlossen.

Das folgende Kapitel plausibilisiert diese Interpretation durch die detaillierte qualitative Analyse von Nobilitierungsgesuchen auf ihrem Weg durch die entweder wohlwollend oder ablehnend gesinnte Bürokratie. Im Untersuchungszeitraum sprach sich der Wandel der preußischen Erwartungen unter den Bewerbern um ein Adelspatent herum, so dass diese nun vor allem ihren großen Grundbesitz betonten und weniger Wert auf Leistungen in der Armee, im Staatsdienst oder für karitative Belange legten, die gleichwohl für die österreichischen Beamten entscheidend waren und blieben. Während in Preußen das Ausmaß des Grundbesitzes bald fast allein über die Aussichten eines Antrags entschied, war die österreichische Haltung auch im Umgang mit ärmeren Bewerbern flexibler. Die Gebühren (deren genaue Höhe man leider nirgends erfährt) konnten erlassen werden; die Aufnahme in den Adel erschien so als Möglichkeit, verdiente Personen durch den Zugang zu Leistungen aus Adelsstiftungen finanziell abzusichern.

Ob diese Unterschiede in der Nobilitierungspraxis Auswirkungen auf die böhmischen und preußisch-schlesischen Adelskulturen hatten, versucht Kučera abschließend durch die Untersuchung jeweils dreier „zivilgesellschaftlicher“ Institutionen zu ermitteln. Für Breslau wählt er das Spital zu Allerheiligen, die Akademie der bildenden Künste und den Gewerbeverein aus, für Prag die Kleinkindbewahranstalt, die Sophien-Akademie zur Förderung von Musik und Kunst sowie ebenfalls den Verein zur Ermunterung des Gewerbsgeistes. Diese Fallstudien bestätigen Kučeras Kontrastierung des Adels als einer Leistungselite in Böhmen und einer reinen Statuselite in Schlesien: „In Böhmen wurden [Handlungsmuster der Zivilgesellschaft…] aktiv als Adelsqualifikation herangezogen und fanden durch die staatliche Anerkennung Eingang in den Adelstugendkatalog. In Schlesien blieb dagegen das staatlicherseits forcierte Bild des Adels bestehen, das die Kulturpraktiken der Zivilgesellschaft ausschloss.“ (S. 268)

Kučeras stringente, klar formulierte Studie fügt sich in eine wachsende Literatur ein, welche die starke Wirkung aufklärerischer Traditionen in Österreich betont und die These eines prinzipiellen Modernitätsgefälles gegenüber Preußen in Frage stellt. Seine differenzierten Argumente sind plausibel und erweitern die Adelsforschung um eine wichtige Facette, indem sie den Blick auf unterschiedliche Nobilitierungsstrategien richten. Schade ist lediglich, dass der Versuch unterblieben ist, soziale und regionale Herkunft, Karrierewege, Vermögen und Perspektiven der erfolgreichen wie erfolglosen Bewerber um eine Nobilitierung in Breslau und Prag zumindest in Ansätzen zu quantifizieren, was vielleicht weitere Differenzierungen ermöglicht hätte – und eine Basis für einen Vergleich zwischen Neuadeligen, Altadeligen und Bürgern oder mit weiteren Regionen geboten hätte. Das ändert freilich nichts an der Bereicherung der Debatte um den Adel in der Moderne, die dieses Buch auch ohne diese als Desiderat erwähnte Dimension bewirken wird.

Anmerkung:
1 Ged Martin, Bunyip Aristocracy. The New South Wales Constitution Debate of 1853 and Hereditary Institutions in the British Colonies, Sydney 1986, S. 14–39.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension