H. Best u.a. (Hrsg.): Aufbruch der entsicherten Gesellschaft

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Titel
Aufbruch der entsicherten Gesellschaft. Deutschland nach der Wiedervereinigung


Herausgeber
Best, Heinrich; Holtmann, Everhard
Erschienen
Frankfurt am Main 2012: Campus Verlag
Anzahl Seiten
491 S., ca. 50 Abb.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Arnd Bauerkämper, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Der Sammelband „Aufbruch der entsicherten Gesellschaft“ vermittelt einen instruktiven Überblick über die Befunde des im Jahr 2001 an den Universitäten Halle und Jena eingerichteten Sonderforschungsbereiches (SFB) „Gesellschaftliche Entwicklungen nach dem Systemumbruch. Diskontinuität, Tradition, Strukturbildung“. Die Einzelprojekte sollten variierende Akteurs-Institutionen-Konstellationen im Transformationsprozess in Deutschland nach 1989 in vergleichender Perspektive untersuchen. Der Fokus lag vor allem auf der Bewältigung mentaler und struktureller Unsicherheit im Kontext des Institutionentransfers aus Westdeutschland und eines tief greifenden, obgleich in den gesellschaftlichen Sektoren unterschiedlich umfassenden Elitentransfers. Dabei ist der Umbruch in Deutschland von einer „doppelten Transformation“ (S. 11) geprägt worden, in der „die institutionelle Transformation Ostdeutschlands nach westdeutschem Vorbild unter den Bedingungen sich weltweit verflechtender und verändernder politischer und ökonomischer Verhältnisse erfolgte, die ihrerseits auch die überlieferten institutionellen und kulturellen Rahmenbedingungen des Westens unter Reformdruck setzen“ (S. 417).

Im Anschluss an die Einleitung der Herausgeber Heinrich Best und Everhard Holtmann bilanzieren 18 Beiträge die Entstehung des SFB und die Arbeit in den Teilprojekten. Dort werden der Verlauf ebenso wie die Konstellationen und Folgen des Transfers von fünf zentralen Komponenten der westdeutschen Institutionenordnung in die neuen Bundesländer analysiert: das föderale politische System (1), die kommunale Selbstverwaltung (2), der Rechts- und Wohlfahrtsstaat (3 und 4) sowie die korporative Struktur der Sozialen Marktwirtschaft (5), die auch als „rheinischer Kapitalismus“ gilt. Inhaltlich behandeln die einzelnen Studien die Karrieren und Einstellungen von Eliten, die Entwicklung der Betriebe und Arbeitsmärkte in den neuen Bundesländern und im vereinigten Deutschland wie auch individuelle Strategien der Bewältigung des Strukturbruches. Die Ähnlichkeiten und Unterschiede im Umgang mit der doppelten Transformation in den neuen und alten Bundesländern verdeutlicht paradigmatisch die von Michael Beetz, Michael Corsten, Hartmut Rosa und Torsten Winkler durchgeführte Untersuchung bürgerschaftlichen Engagements. Letzteres spiegelt zwar unter den West- und Ostdeutschen gleichermaßen eine Distanz und Skepsis gegenüber Institutionen wider, die allerdings in den alten Bundesländern durch Partizipation „von unten“ geöffnet werden soll. Dementgegen konstituiert zivilgesellschaftliche Aktivität aus der Sicht vieler Ostdeutscher offenbar vorrangig ein „von institutioneller Künstlichkeit gereinigtes Feld authentischer Praxis“ (S. 345). Diese differenten Motivationen müssen allerdings noch durch weitere Befragungen bestätigt werden.

Alle Aufsätze fassen die Transformation als dynamischen und anhaltenden Umbauprozess, der die ungleichen Ausgangsbedingungen und Ressourcen der west- und ostdeutschen Akteure seit 1990 weitgehend verfestigt und unter den Ostdeutschen die Aufstiegsmobilität gebremst hat. So ist der neue Arbeitsmarkt seit 1990 vor allem durch Externalisierungsprozesse gekennzeichnet, die sich zum Beispiel in der Entlassung von Beschäftigten und der Ausgliederung sozialer Dienstleistungen aus den Betrieben niedergeschlagen haben. Jedoch wird diese Deutung nur unzureichend auf den von Holle Grünert, Thomas Ketzmerick, Burkart Lutz und Ingo Wiekert festgestellten Tendenzwechsel auf dem Arbeitsmarkt seit 2002 bezogen. Denn in den letzten zehn Jahren hat der Nachwuchskräftemangel die Beschäftigungschancen für die Angehörigen geburtenschwacher Jahrgänge wieder erhöht.

Nicht zuletzt haben der Institutionentransfer und der damit einhergehende Wechsel des Führungspersonals zu einer Kluft zwischen den Eliten und der Bevölkerungsmehrheit geführt. Die verbliebenen ostdeutschen „Kader“ – so in der Wirtschaft – vermochten sich auf die neue institutionelle Ordnung erheblich schneller einzustellen als die Bevölkerungsmehrheit, wie Bernd Martens und Ralph-Elmar Lungwitz am Beispiel mittelständischer Unternehmer herausstellen, die in der DDR als Führungskräfte in Kombinaten bzw. in „volkseigenen“ Betrieben leitende Stellungen eingenommen hatten.

Zahlreiche Beiträge in dem Band widmen sich auch dem Problem, dass die transferierten Institutionen in den neuen Bundesländern nicht zu den eingeschliffenen Verhaltensformen gepasst haben. Da diese Diskrepanz bis zur Gegenwart nicht vollständig überwunden werden konnte und die ostdeutsche Bevölkerung Kontingenz und Unsicherheit keineswegs akzeptiert hat, ist aus dem Zerfall vertrauter Lebenswelten eine „habituelle Irritation“ (S. 425) hervorgegangen. Sie hat – wie Steffen Schmidt und Hartmut Rosa zusammenfassend betonen – im vereinigten Land nach der anfänglichen Euphorie eine Entfremdung (besonders vieler Ostdeutscher) von der neuen politischen und gesellschaftlichen Ordnung verursacht.

Allerdings hatte diese Distanzierung von den politischen Eliten bereits in der DDR eingesetzt, wie Heinrich Best, Ronald Gebauer, Dietmar Remy und Axel Salheiser in ihrem Aufsatz über den Legitimitätszerfall des SED-Regimes (besonders in den 1980er-Jahren) zu Recht hervorheben. Entgegen dem Egalitätsanspruch wurde auch im „Arbeiter-und-Bauernstaat“ Ungleichheit reproduziert, obgleich die SED-Führung in der von ihr durchgesetzten zentralen Planwirtschaft den Stellenwert von Einkommen und Geld erheblich reduziert hatte. Politische Loyalität, das unterschiedliche Qualifikationsniveau und der Vererbungszusammenhang in Familien führten aber ebenso zu sozialen Differenzen wie die Milieu- und Geschlechtszugehörigkeit. Deutlich war vor allem die Ungleichheit hinsichtlich des Lebensstandards und der Konsummöglichkeiten. Zudem sanken die Aufstiegschancen für Angehörige der Arbeiterschaft in der Generationenfolge. Dagegen rückten Kinder und Enkel von – überwiegend in den ersten Jahren nach 1945 enteigneten – Unternehmern, Selbständigen und Großgrundbesitzern in den 1970er- und 1980er-Jahren zusehends in höhere Positionen auf. Offenbar hatten traditionale Eliten ihr „soziales“ und „kulturelles Kapital“ (Pierre Bourdieu) trotz der Enteignung und Entmachtung bürgerlicher Schichten und Gruppen bewahren können. Zugleich waren „Tendenzen sozialer Schließung und zunehmende[r] Selbstrekrutierung“ (S. 74) der Funktionseliten des SED-Staates in den letzten beiden Jahrzehnten der DDR unübersehbar. Die Arbeit des SFB hat damit Befunde von Studien, die in den 1990er-Jahren unter anderem von Heike Solga vorgelegt wurden1, bestätigt und differenziert.

Eine Kluft zwischen West- und Ostdeutschen ergab sich auch aus der etatistischen Mentalität, die in den neuen Bundesländern den Transformationsprozess beeinflusst hat. Ostdeutsche weisen zentralstaatlichen Institutionen bis in die Gegenwart eine signifikant stärkere intervenierende Rolle in der Wirtschaft, der Bildung und im Bereich der „inneren Sicherheit“ zu. Darüber hinaus machen Heinrich Best und Lars Vogel in ihrem instruktiven Aufsatz auf Ost-West-Unterschiede innerhalb der Parteien aufmerksam – beispielsweise hinsichtlich des Ausmaßes der Kirchenbindung. Da demgegenüber Konflikte zwischen den Parteien aber begrenzt geblieben sind, haben diese letztlich integrierend gewirkt. Ein ähnlich ambivalenter Befund ergibt sich hinsichtlich der Eingliederung der Führungsgruppen, deren Austausch im Anschluss an die staatliche Wiedereinigung 1990 weitaus höher war als nach der Reichsgründung 1871. Zwar gelang die gesellschaftliche Integration der Eliten im vereinigten Deutschland (auch der verbliebenen ostdeutschen „Kader“) weitgehend. Sie repräsentierten jedoch nur begrenzt die unter den Ostdeutschen vorherrschenden Orientierungsmuster, da sie sich hinsichtlich der Werte, Einstellungen und Erwartungen größtenteils den westdeutschen Leitungskräften angepasst haben. Auch dieser Befund spiegelt letztlich die „asymmetrische Konstellation der Wiedervereinigung“ (S. 101) wider.

Auch wenn die Beiträge in unterschiedlichem Ausmaß auf die leitenden Fragestellungen des Bandes bezogen sind, enthalten sie durchweg innovative Befunde und weiterführende Einsichten zum Spannungsfeld von Institutionenwandel, sozialstruktureller Entwicklung und habituell-mentalen Dispositionen. Die Fokussierung auf die doppelte Transformation zeigt letztlich, dass die unmittelbar nach 1990 weitverbreitete Vorstellung einer „nachholenden Modernisierung“2 verfehlt war, da sich auch die Zielgröße selbst – die Bundesrepublik – schnell veränderte. Bedauerlich ist aber, dass sich in den Aufsätzen allenfalls vereinzelt Bezüge zu den Transformationsprozessen finden, die sich nach 1989 in den Staaten Ostmitteleuropas vollzogen haben. Damit werden die instruktiven Befunde zum Umbruch in der DDR nur begrenzt vergleichend eingeordnet und hinsichtlich ihrer Spezifik konturiert.

Anmerkungen:
1 Vgl. besonders Heike Solga, Auf dem Weg in eine klassenlose Gesellschaft? Klassenlagen und Mobilität zwischen Generationen in der DDR, Berlin 1995.
2 Dazu, allerdings mit einschränkenden Bemerkungen zu neuen Problemen und Konflikten nach der Wiedervereinigung Deutschlands: Rainer Geißler, Nachholende Modernisierung mit Widersprüchen. Eine Vereinigungsbilanz aus modernisierungstheoretischer Perspektive, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“, B 40 (2000), S. 22–29.