A. Kappeler: Russland und die Ukraine

Titel
Russland und die Ukraine. Verflochtene Biographien und Geschichten


Autor(en)
Kappeler, Andreas
Erschienen
Anzahl Seiten
395 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Bohn, Historisches Institut, Justus-Liebig-Universität Gießen

„Russland als Vielvölkerreich“ ist ein Standardwerk, mit dessen erster Auflage der emeritierte Wiener Professor für Osteuropäische Geschichte Andreas Kappeler 1992 einen Perspektivwechsel auf die Tagesordnung setzte, der mit dem Untergang der Sowjetunion überfällig geworden war.1 In seinem vielfach verlegten Buch „Kleine Geschichte der Ukraine“ deutete er 1994 zwar eine Schwerpunktverlagerung seiner eigenen Forschungen an, widersetzte sich aber der Versuchung des nationalgeschichtlichen Paradigmas.2 Vor dem Hintergrund der Debatten um die Imperiengeschichte und die Transnationale Geschichte verschrieb sich Kappeler statt dessen der „histoire croisée“. Am makrohistorischen Konzept einer russisch-ukrainischen Verflechtungsgeschichte ist er allerdings gescheitert, wie er im Vorwort zu seinem neuen Buch bekennt (S. 10f.). Was er stattdessen exemplarisch vorlegt, ist die mikrohistorisch angelegte Biographie eines Ehepaares, das sich seit den 1860er-Jahren jenseits der etablierten Wissenschaft um die Erforschung der ostslavischen Volkskultur verdient gemacht hat. Es handelt sich um die gebürtige Russin Alexandra Jefymenko-Stawrowskaja (1848–1918) und den gebürtigen Ukrainer Petro Jefymenko (1825–1908), der allerdings seine Muttersprache zugunsten des Bekenntnisses zur bürgerlichen Öffentlichkeit des Zarenreiches vernachlässigte (S. 58, 85, 329). Dem nicht nur an politischen wie sozialen Bewegungen, sondern auch an Geschlechterverhältnissen interessierten Kappeler (S. 30f.) hat es indes insbesondere Alexandra Jefymenko angetan, die 1910 im Alter von 62 Jahren bei den Petersburger Höheren Kursen für Frauen „zur ersten habilitierten Historikerin und Geschichtsprofessorin nicht nur Russlands, sondern ganz Ost- und Mitteleuropas“ avancierte (S. 34/Zitat, 291, 345). Als Problem von Kappelers Recherchen erwies sich der Mangel an persönlichen Nachlässen. Zu den Ego-Dokumenten zählen allenfalls Autobiographien, die für Nachschlagewerke konzipiert wurden, und Briefe, in denen es zumeist um publizistische Belange oder wissenschaftliche Aktivitäten geht (S. 36–40). Im Fokus der Betrachtung steht daher neben dem Oeuvre der Eheleute vor allem Alexandra Jefymenkos russischsprachige „Geschichte des ukrainischen Volkes“ (Istorija ukrainskogo naroda) aus dem Jahre 1906 (ukrainische Übersetzung: 1922).

Ungeachtet dessen spannt Kappeler in der Einleitung mit grundsätzlichen Überlegungen einen weiten Bogen um die Geschichte der russisch-ukrainischen Verschränkungen, ohne jedoch damit einen Beitrag zu aktuellen Methodendebatten leisten zu wollen (S. 17). Er geht von einem asymmetrischen Verhältnis aus. Während die Ukrainer im Zarenreich bis zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert noch als „Kleinrussen“ oder „Südrussen“ bezeichnet und als Bestandteil der „all-russischen“ respektive ostslavischen Nation betrachtet worden seien, hätten die Russen in der Sowjetunion im Rahmen des Mythos von der Völkerfreundschaft eine Stilisierung zu „älteren Brüdern“ der anderen Nationen erfahren. Vor diesem Hintergrund könne sich das russische historische Narrativ auf eine jahrhundertlange Tradition der Staatlichkeit stützen, während das ukrainische historische Narrativ lediglich auf das Kosaken-Hetmanat des 17. Jahrhunderts und die Ukrainische Volksrepublik der Jahre 1918–1920 verweisen mochte (es sei denn, es werde eine Mythologisierung des mittelalterlichen Kiewer Reichs betrieben). Ukrainische Geschichte werde daher gewöhnlich als die Geschichte eines Volkes geschrieben, das im russischen Gegenpart einen Herrschaftsträger oder Unterdrücker gefunden habe (S. 15f.). Alle diesbezüglichen Debatten zusammenfassend unterscheidet Kappeler vier russische von vier ukrainischen nationalen Projekten. Russischerseits zu verzeichnen seien das sich auf die Autokratie und die Orthodoxie stützende „russländische“ Imperium, die Weißrussen und Ukrainer einverleibende „all-russische“ Nation, der im Zeichen der Assimilation stehende ethno-nationale russische Staat sowie die „Ukrainisierung“ einzelner Lebensbereiche von Russen. Ukrainischerseits festzuhalten seien die Option der administrativen und kulturellen „Russifizierung“, der zwischen Integration und Regionalbewusstsein schwankenden „kleinrussischen“ Identifikation, der Formierung einer ethnischen ukrainischen Nation innerhalb eines „russländischen“ Staates sowie des ukrainischen Nationalstaats (S. 23–27). Eine praktische Rolle spielen diese Erörterungen im Hauptteil vor allem dann, wenn es darum geht, die von Alexandra Jefymenko verwendeten Chiffren „Südrussen“ und „südrussisch“ mit den sprachlichen Konventionen der Zeit zu erklären. Unter den Bedingungen der Zensur konnte das Thema „Ukraine“ nur in verschleierter Form auf die Tagesordnung gesetzt werden (S. 226).

Im ersten Kapitel wird geschildert, wie der aufgrund seiner Beteiligung an studentischen Geheimzirkeln 1860 aus der Ukraine zunächst in den Nordural und dann an das Weiße Meer verbannte Petro Jefymenko auf seine dreizehn Jahre jüngere Frau Alexandra Stawroskaja traf, die zu dieser Zeit noch an einer Volksschule unterrichtete. Das zweite Kapitel problematisiert die aus Petros Materialsammlungen und Alexandras Auswertungen resultierende Kooperation der Eheleute bei der Erforschung des bäuerlichen Alltags im russischen Norden. Im dritten Kapitel wird die Übersiedlung des Paares, das zunächst noch von Petros Beschäftigung in diversen Amtsstuben lebte, 1873 in das südliche Russland und 1876 in die Ukraine geschildert. In Charkow (ukrainisch Charkiw, 1879–1907) verschlimmerte sich Petros Gesundheitszustand, während Alexandra Aufnahme in die Diskursgemeinschaft der „dicken Journale“ fand. Das vierte Kapitel würdigt die Arbeiten zur Geschichte der Ukraine vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Im fünften Kapitel folgt eine Auseinandersetzung mit Alexandra Jefymenkos „Geschichte des ukrainischen Volkes“, die auf ein Preisausschreiben von 1896 beziehungsweise 1898 zurückging und wegen Querelen um vermeintlich „zentralistisch-moskowitische“ Sentenzen (S. 217) oder konzeptionelle Abgrenzungen von der Kiewer „dokumentarischen Schule“ (S. 222) erst mit fünfjähriger Verspätung 1906 erschien. Das sechste Kapitel hat Alexandra Jefymenkos Tätigkeit bei den Höheren Frauenkursen in St. Petersburg von 1907 bis 1917 zum Inhalt, zunächst als „Lehrerin“ und mit der Verleihung eines Ehrendoktortitels der Universität Charkow ab 1910 als Professorin. Im siebten Kapitel wird schließlich mit einem Ausblick die Wirkungsgeschichte der Schriften des Ehepaars Jefymenko in der Sowjetunion dargelegt.

In der Zusammenfassung zieht Kappeler für drei, weniger auf die ukrainisch-russische Verflechtungsgeschichte als vielmehr auf das Lebenswerk seiner Protagonisten bezogene Untersuchungsfelder eine Bilanz. Im Hinblick auf die Biographien kommt er zu dem Ergebnis, dass das Ehepaar sich gleichermaßen von der Aufrichtigkeit der Intelligenzija, der oppositionellen Diskursgemeinschaft des Zarenreichs, wie von dem Enthusiasmus der Narodniki, den Protagonisten eines Agrarsozialismus, leiten ließ. Allerdings müsse zwischen dem schwerfälligen und kränkelnden Kompilator Petro und der scharfsinnigen und energischen Analytikerin Alexandra unterschieden werden. Insbesondere bei Letzterer hätten Ehrlichkeit und Geradlinigkeit in der persönlichen Lebensführung mit der Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen korrespondiert. Der Einsatz für die Familie sei mit dem Glauben an die Wissenschaft und den Fortschritt vereinbart worden (S. 326–337). Bezüglich der wissenschaftlichen Leistungen macht Kappeler darüber hinaus deutlich, dass die orts- und situationsgebundene Identifikation mit dem Quellenmaterial zugleich für eine Affinität mit dem Untersuchungsgegenstand, d.h. mit dem Schicksal der lokalen Bevölkerung, gesorgt habe. In ihrer Arbeit zur bäuerlichen Gemeinde habe Alexandra Jefymenko 1882/83 mit dem Hinweis auf einen spezifischen Anteilbesitz im nördlichen Russland zwischen den gängigen Auffassungen vermitteln können, denen zufolge es sich bei der periodischen Landumteilung entweder um eine urslavische Gepflogenheit oder um ein Instrument des frühneuzeitlichen Staates gehandelt habe. Relevanter sei hingegen ihre „Geschichte des ukrainischen Volkes“ von 1906 gewesen, die Kappeler nicht zuletzt aufgrund ihres sozioökonomischen Impetus als „die beste russischsprachige Geschichte der Ukraine“ bezeichnet (S. 337–341, 340/Zitat). Obgleich sich bei Alexandra Jefymenko weder ein nennenswertes politisches Engagement noch ein ausgeprägter feministischer Aktivismus feststellen lasse und der Studie zur nordrussischen Bäuerin von 1873 keine weiteren Beispiele folgten, meint Kappeler, sie als Protagonistin der Geschlechter- und Frauengeschichte würdigen zu können. In Bezug auf ihre Person lässt er sich hin und wieder vom Standpunkt der Parteilichkeit übermannen: „Sie lebte die Emanzipation“, lautet sein Fazit mit Blick auf Alexandras wissenschaftlichen Interessen. Schließlich habe sie in der akademischen Welt die Hürden nehmen müssen, die von Männern gesetzt worden seien. Weil ihr der Zugang zu Hochschulbildung verwehrt geblieben war, hatte sie sich als Autodikaktin betätigen müssen. Wegen der Heirat mit einem politisch Verbannten hatte sie ihre Stellung als Volksschullehrerin aufzugeben. Dennoch sei es ihr gelungen, durch ihre Veröffentlichungen und die spät begonnene Lehrtätigkeit für den Unterhalt ihres kränkelnden Mannes und ihrer fünf Kinder zu sorgen (S. 342–348, 342/Zitat). Während Petro Jefymenko in mancherlei Hinsicht demontiert wird, angefangen von der Offenlegung seiner Syphilis (S. 298) bis hin zur Anzweifelung der Autorenschaft eines ihm zugeschriebenen Pamphlets (S. 180), scheint Alexandra Jefymenko in Kappelers Buch außerhalb jeglicher Kritik zu stehen. So bleibt der Eindruck stehen, hier hätten sich eine „große“ Russin und ein „kleiner“ Ukrainer zusammengefunden.

Wissenschaftlich gesehen folgte Alexandra Jefymenko mit ihren sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Interessen offenbar dem „männlichen Blick“ der Moskauer Schule. Auf die Tatsache, dass sich in Gestalt Alexandra Jefymenkos „eine ukrainische Historikerin“ in die Phalanx der „russischen Historiker“ einreihte, die an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert den Historismus hinter sich ließ, weist Kappeler allerdings nicht hin. Seinen Referenzpunkt bildet in diesem Zusammenhang der maßgebliche ukrainische Historiker Mychajlo Hruschewskyj, dem wissenschaftstheoretisch gesehen immer ein wenig vorschnell Innovativität beigemessen wird. Obgleich Hruschewskyj 1898 im ersten Band seiner „Geschichte der Ukraine-Rus‘“ (Istorija Ukrainy-Rusy) das Kiewer Reich als Gründungslegende herangezogen und sich damit zur Nationalgeschichte bekannt hatte (S. 228), meinte er in einem vielzitierten Artikel aus dem Jahre 1904 „Das übliche Schema der russischen Geschichte“ mit Bezug auf die sogenannte „Staatliche Schule“ der russischen Historiographie in Frage stellen zu müssen (S. 188). Hruschewskyj war offensichtlich entgangen, dass der Moskauer Historiker Wassili Kljutschewski, dessen vierbändiger „Kurs der russischen Geschichte“ (Kurs russkoj istorii) just im Jahre 1904 zu erscheinen begann, bereits seit der Veröffentlichung seiner Doktordissertation „Die Bojarenduma der alten Rus‘“ (Bojarskaja duma drevnej Rusi, 1882) einen Paradigmenwechsel vom Historismus zur Historischen Soziologie betrieb.3 Erst in diesem Kontext erschließt sich Alexandra Jefymenkos Sonderrolle. Kappeler zufolge setzte sie im Gegensatz zu Hruschewskyj nicht nur auf die Gleichrangigkeit zwischen russischer und ukrainischer Geschichte, sondern nahm bereits das Anliegen der postmodernen „histoire croisée“ vorweg (S. 230), indem sie sich vom Primat der politischen Geschichte abwendete (S. 233).

Alles in allem handelt es sich bei Kappelers Arbeit um ein ungewöhnliches Buch, auf das man sich wegen seines biographischen Ansatzes einlassen muss, von dem man sich aber gerade wegen der Fokussierung auf randständige Figuren aus dem gesellschaftlichen Leben und dem Wissenschaftsbetrieb des vorrevolutionären Russland gefangen nehmen lässt. Im Schlussteil wären weitere Überlegungen zur Verflechtungsgeschichte angebracht gewesen, die das Verhältnis Russlands und der Ukraine direkt betreffen. Ungeachtet dessen ist Kappelers Versuch als Appell zu verstehen, die Zwischenräume des westlichen und östlichen Europa weiter auszuloten. Dafür wäre eine Übersetzung der „Geschichte des ukrainischen Volkes“ ins Deutsche sehr wünschenswert.

Anmerkungen:
1 Vgl. Andreas Kappeler, Rußland als Vielvölkerreich. Entstehung, Geschichte, Zerfall, München 1992, 2. Aufl. 1993, 3., aktualisierte, Aufl. 2001, 4. Aufl. 2008.
2 Vgl. Andreas Kappeler, Kleine Geschichte der Ukraine, München 1994, 2., aktualisierte, Aufl. 2000, überarbeitete und aktualisierte Aufl. 2009.
3 Vgl. Thomas M. Bohn, Historische Soziologie im vorrevolutionären Rußland, in: Historische Zeitschrift 265 (1997), S. 343–372; ders., Historismus im Zarenreich? Zum Standort der vorrevolutionären Geschichtswissenschaft, in: Beruf und Berufung. Geschichtswissenschaft und Nationsbildung in Ostmittel- und Südosteuropa im 19. und 20. Jahrhundert, hrsg. v. Markus Krzoska u. Hans Christian Maner, Münster 2005, S. 41–57.