U. Pfister: Konfessionskirchen, Glaubenspraxis, Konflikt in Graubünden

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Titel
Konfessionskirchen, Glaubenspraxis und Konflikt in Graubünden, 16.–18. Jahrhundert.


Autor(en)
Pfister, Ulrich
Reihe
Religion und Politik 1
Erschienen
Würzburg 2012: Ergon Verlag
Anzahl Seiten
543 S.
Preis
€ 78,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Klueting Harm, Historisches Institut und Institut für katholische Theologie der Philosophischen Fakultät, Universität zu Köln / Département de patristique et d'histoire de l'église de la Faculté de théologie, Université de Fribourg (Schweiz)

Ulrich Pfister, Inhaber eines Lehrstuhls für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in Münster, kennt als Schweizer die für damit weniger gut vertraute Historiker schwer entwirrbare Regionalgeschichte des heutigen Kantons Graubünden: den Freistaat der Drei Bünde – des Gotteshausbundes, des Grauen Bundes, auch Oberer Bund genannt, und des Zehngerichtenbundes. Die drei Bünde waren seit 1498 als Zugewandte Orte mit der Eidgenossenschaft verbunden und beherrschten seit 1512 die südlichen Untertanengebiete Cleven, Veltlin und Bormio. Sie bildeten eine „landständische Verbindung von etwa fünfzig meist ländlichen Gerichtsgemeinden“ (S. 31) mit dominantem Kommunalismus und mit den Tagungen der Drei Bünde seit 1461 (später dem Bundestag) sowie mit dem Bischof von Chur, dem Landesherrn des Gotteshausbundes, dessen politische Rolle und kirchliche Leitungsfunktionen im zweiten Viertel des 16. Jahrhunderts „weitgehend zum Erliegen“ (S. 91) kamen, der aber gleichwohl Fürstbischof des Reiches blieb – „In der Realität war der Bischof eher Haupt einer konfessionell definierten politischen Faktion der Drei Bünde denn Reichsfürst“ (S. 172) –, obwohl sich der Freistaat der Drei Bünde, wie die Eidgenossenschaft, 1499 faktisch vom Reich getrennt hatte.

Die Reformation war in den Drei Bünden mit der seit dem 15. Jahrhundert gegen den Bischof gerichteten kommunalen Bewegung verschränkt, die 1524 kulminierte. In diesem Jahr floh Bischof Paul Ziegler aus Chur, ohne je zurückzukehren. Gleichzeitig gaben sich die Drei Bünde mit dem Bundesbrief eine Bundesverfassung. 1526 folgten die – zweiten – Ilanzer Artikel, die „noch nicht als Ausfluss der Reformation zu bezeichnen“ (S. 83f.) sind, aber reformatorische Elemente enthielten und „eine vorkonfessionelle, stark individualistisch geprägte Gemeindekirche“ (S. 84) etablierten, die politische Stellung des Bischofs beseitigten, den Klöstern die Novizenaufnahme verboten und den Gemeinden das freie Pfarrerwahlrecht verbrieften. Gemeinsam mit der vom Bundestag 1526 eingeführten Religionsfreiheit wurden die Ilanzer Artikel zum Vehikel für das Eindringen reformatorischer Lehren, nachdem Johannes Comander, den die Stadtgemeinde Chur 1523 gegen den Widerstand des Domkapitels zum Pfarrer bestellt hatte, spätestens seit 1525 reformatorisch predigte. Die Ausbildung einer reformierten Konfessionskirche kam in den Drei Bünden aber „erst in den 1640er Jahren parallel zur katholischen Konfessionalisierung zu einem gewissen Abschluss“ (S. 73), mit dem Ergebnis der konfessionellen Spaltung in reformierte und katholische Landesteile.

Pfister positioniert sein Werk, dem ausgedehnte Archivforschungen zugrunde liegen, im Kontext des Konfessionalisierungsparadigmas. Er wirft der Konfessionalisierungsforschung Mangel an komparativer Perspektive und Fixierung auf konfessionell homogene Einzelterritorien vor und nimmt für sich in Anspruch, ein inhomogenes, gemischtkonfessionelles Gebiet erforscht zu haben. Dabei streckt er den Zeitrahmen vom späten 15. bis ins frühe 18. Jahrhundert, in dem er das Ende des konfessionellen Zeitalters sieht, bezieht auch Theologie- und Frömmigkeitsgeschichte ein und unterscheidet mit Philip Benedict zwischen der „‚starken‘, d.h. politischen, Konfessionalisierung“ und einer „sich vor allem in der Strukturveränderung und Differenzierung der Frömmigkeit niederschlagenden ‚schwachen‘ Konfessionalisierung“ (S. 19), eine Unterscheidung, die an den Unterschied von Konfessionalisierung und Konfessionsbildung erinnert, aber stärker die Veränderungen der Laienfrömmigkeit berücksichtigt als Ernst Walter Zeedens Begriff „Konfessionsbildung“.

Pfister setzt mit den Kollaturverhältnissen ein, beschreibt den Paradigmenwechsel von vorkonfessionellen zu konfessionellen Konfliktlösungen, untersucht das Eindringen der Reformation in Chur, im Zehngerichtenbund und im deutschsprachigen Nordbünden, aber auch im Unterengadin. Festzuhalten ist der Einfluss italienischer reformatorischer oder heterodoxer Glaubensflüchtlinge in den Untertanengebieten, aber auch in den italienischsprachigen Tälern des Bergell und des Puschlav sowie im Oberengadin, der zur Bildung reformierter Gemeinden führte. Großen Raum widmet Pfister der in drei Phasen gegliederten Entstehung des Bündner Protestantismus: „[1.] Die sich in den Ilanzer Artikeln von 1526 kristallisierende, gegen den Bischof gerichtete, noch weitgehend vorkonfessionelle Bauernbewegung, [2.] die von humanistisch gebildeten Geistlichen und Laien getragene evangelische oder reformatorische Bewegung […] sowie schließlich [3.] die Ausbildung eines territorial organisierten reformierten Kirchenverbandes“ (S. 73). Was das Bistum betrifft, so fällt die These auf, dass die „geringe konfessionelle Fixierung der Bischöfe“, die nicht durch Gläubigkeit auffielen, „möglicherweise letztendlich auch zum Überleben des Hochstifts beitrug“ (S. 89). Pfister geht auf die Trägerschichten der reformatorischen Bewegung ein und spricht von einer „Revolte des niederen Diözesanklerus gegen die Bischofskirche“ (S. 99), doch wurden auch Ordensgeistliche, darunter Benediktiner aus Disentis, zu reformierten Prädikanten. Er richtet seine Aufmerksamkeit auch auf die tridentinische Reform, die Rekatholisierung und die katholische Konfessionalisierung, die Visitationen durch päpstliche Nuntien seit 1578 und später auch durch die Bischöfe sowie auf die Wirksamkeit von Kapuzinern und Jesuiten. Pfister untersucht Ämterpatronage und Nepotismus bei der Besetzung des Bischofsstuhls und bei der Vergabe der Domkapitelspfründen sowie die Professionalisierung und Disziplinierung der reformierten Prädikanten wie der katholischen Priester. Hier findet sich der wichtige Hinweis, dass die Klerusdisziplinierung schon im 15. Jahrhunderts einsetzte und in das Anforderungsprofil der „Admonitio“ der Churer Agende von 1503 einging. Er widmet sich auch der Klerikerbildung, wobei seine Feststellung hervorzuheben ist, dass wahrscheinlich „der Bildungsstand der Prädikanten geringer als derjenige der katholischen Weltgeistlichkeit“ (S. 238) war und dass die katholischen Priester „vergleichsweise häufiger aus der Oberschicht“ (S. 239) kamen als die reformierten Prädikanten. Man hatte bisher zumindest für Deutschland eher das Gegenteil angenommen.

Quellenbasis des Abschnitts über die Glaubenspraxis, in den die reformierte Kirchenzucht ebenso einbezogen ist wie die katholische Barockfrömmigkeit, sind die Akten der reformierten Kolloquien und der bischöflichen Visitationen, aber auch religiöse Gebrauchsliteratur, auch in rätoromanischer Sprache. Berücksichtigung finden die Hexenprozesse und Simultaneen sowie die damit verbundenen, teilweise noch im 18. Jahrhundert gewaltsam ausgetragenen Konflikte. Besondere Hervorhebung verdient der Anhang mit einer 204 Positionen umfassenden Aufstellung aller historischen Pfarreien Graubündens samt Angaben zu den Patronatsverhältnissen um 1500, zum Übergang zur Reformation, bei katholischen Pfarreien zum Einsatz von Kapuzinern, ferner zu Kaplaneien sowie zu Abpfarrungen zwischen 1500 und 1800.

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