H. Albrecht u.a. (Hrsg.): Revolution und Regimewandel in Ägypten

Titel
Revolution und Regimewandel in Ägypten.


Herausgeber
Albrecht, Holger; Demmelhuber, Thomas
Reihe
Weltregionen im Wandel 14
Erschienen
Baden-Baden 2013: Nomos Verlag
Anzahl Seiten
282 S.
Preis
€ 46,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nadine Kreitmeyr, Universität Tübingen

Der Sammelband von Holger Albrecht (American University in Cairo) und Thomas Demmelhuber (Universität Hildesheim) behandelt die Ereignisse in Ägypten während des ‚Arabischen Frühlings‘ im Jahr 2011 und 2012. Die Beiträge bieten den aktuellen Forschungsstand der deutschen Sozialwissenschaften über die ägyptische Revolution und ordnen die dortigen Ereignisse in den weiteren regionalen Kontext ein. Dabei stehen die Wandlungsprozesse in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft im Mittelpunkt der Betrachtung und werden anhand von zentralen Akteuren und Institutionen diskutiert. Strukturen, Handlungslogiken und die Neuaushandlung von Machtbeziehungen in Ägypten werden in den einzelnen Beiträgen angesprochen.

Gegliedert ist der Sammelband in zwei Teile mit insgesamt zehn Beiträgen, denen ein Überblick über die Ereignisse in Ägypten seit dem Frühjahr 2011 (Thomas Demmelhuber/Holger Albrecht) sowie konzeptionelle Überlegungen zur Einordnung der Revolution in Ägypten (Christoph Schumann) vorangestellt sind. Im ersten Teil ‚Regime- und Institutionenwandel‘ werden Regime, Militär, Parteien und Wirtschaft näher untersucht, während sich der zweite Teil ‚Revolution und Gesellschaft‘ den Auswirkungen auf Medien, Religion und verschiedene Akteure wie beispielsweise Studenten oder Arbeitern widmet.

Der erste Teil wird von Thomas Demmelhuber mit dem Thema Elitenwandel und Machtbeziehungen eröffnet. Darin arbeitet er die vertikalen und horizontalen Machtbeziehungen innerhalb der Herrschaftselite seit Ende der 1990er-Jahre heraus und befasst sich insbesondere mit dem Aufstieg der Wirtschaftselite in den frühen 2000er-Jahren. Daran anknüpfend diskutiert er den Aufstieg des Militärs in die Kernelite nach dem erzwungenen Rücktritt Mubaraks. Den Militärrat als zentralen Akteur im Machtgefüge und damit in der Politik untersucht auch Holger Albrecht. Er stellt heraus, wie das Militär seit dem Beginn der Proteste im Januar 2011 in die Politik eingriff und eine ‚strukturierende Machtposition‘ (S. 84f.) erlangen konnte. Kevin Köhler betrachtet im darauf folgenden Beitrag die ersten Parlamentswahlen in der Post-Mubarak-Ära und das sich herausbildende Parteiensystem. Er kommt zu dem Schluss, dass die Institutionalisierung der Parteien von Fragmentierung, Polarisierung und einer Fokussierung auf einzelne Persönlichkeiten geprägt sei. Torsten Matzke wiederum beschreibt die Staat-Wirtschaft-Beziehungen im Vorfeld der ägyptischen Revolution und veranschaulicht anhand der zentralen Leitlinien und Akteure, wie die Wirtschafts- und Sozialpolitik in einen Verteilungskonflikt und letztlich in eine Legitimitätskrise des Systems mündete. Diese Krise bildete einen Hintergrund der Proteste in 2011, kann seiner Ansicht nach jedoch nicht als alleinige Erklärung für die Ereignisse angesehen werden.

Der zweite Teil des Sammelbandes widmet sich den Medien und zentralen zivilgesellschaftlichen Akteuren in Ägypten. Die ersten beiden Beiträge von Carola Richter und Christian Wolff untersuchen die Nutzung der Medien im Kontext der Demonstrationen im ägyptischen bzw. arabischen Frühling. Carola Richter stellt die Liberalisierung des ägyptischen Mediensystems in der vorrevolutionären Zeit in den Vordergrund und betont, dass vor allem das Internet als Massenmedium von marginalisierten Gruppen wie der Muslimbruderschaft oder der 6. April-Bewegung zur Mobilisierung genutzt werden konnte. Sie führt dies unter anderem darauf zurück, dass das Regime mit der Kontrolle dieses Mediums überfordert war und sich so Freiräume eröffneten. Christian Wolff legt seinen Schwerpunkt ganz auf Internet und Öffentlichkeit. Er diskutiert die Rolle das ‚Web 2.0‘ in der Strukturierung von Öffentlichkeit und Kommunikationsprozessen und positioniert sich kritisch zur Darstellung der Revolution als ‚Facebook-‘ bzw. ‚Twitter-Revolution‘ (S. 174).

Die nachfolgenden Beiträge untersuchen unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen und deren Beiträge während und nach den Protesten von 2011. Florian Kohstall zeichnet anhand des Aktivismus der Studenten und Professoren wichtige Konfliktlinien in der ägyptischen Gesellschaft und Politik nach. Insbesondere die Hochschule als ‚politische Ersatzarena‘ und die sich herausbildende Hochschulpolitik werden als Indikator für die politische Transformation Ägyptens herausgestellt (S. 204ff.). Irene Weipert-Fenner geht im anschließenden Beitrag auf die Merkmale und Strategien der Arbeiterbewegung in der vorrevolutionären Zeit ein und verdeutlicht deren Bedeutung in den Protesten von 2011. Dabei arbeitet sie heraus, inwiefern das Ansätze und Strategien der Arbeiterbewegung im Jahr 2011 denen früherer Demonstrationen und Streiks ähnelten. Die letzten Beiträge dieses Teils des Sammelbandes beschäftigen sich anschließend mit der Muslimbruderschaft und der neu entstandenen koptischen Bewegung als religiöse Gruppen, die an den Aushandlungsprozessen nach dem Rücktritt Mubaraks mitwirkten. Ivesa Lübben analysiert die Position und Selbstwahrnehmung der Muslimbruderschaft in der Transformation des politischen Systems. Dabei geht sie insbesondere auch auf die Beziehungen zum Militärrat ein. In seinem Beitrag über die Kopten Ägyptens thematisiert Sebastian Elsässer abschließend die latenten und sichtbaren religiösen Konfliktlinien. Diese sieht er als Grund für die deutliche politische Mobilisierung der Kopten sowie die Herausbildung einer koptischen Bewegung, die zudem mit einer stärkeren Vertretung koptischer Anliegen in der Öffentlichkeit einhergingen.

Der vorliegende Sammelband präsentiert dem Leser verschiedene Perspektiven auf die Revolution in Ägypten im Zeitraum von Januar 2011 bis Sommer 2012. Die Publikation zeichnet sich durch mehrere Aspekte aus: Im Gegensatz zu ersten Bestandsaufnahmen unmittelbar nach dem Beginn des Arabischen Frühlings löst sich der vorliegende Band von einer rein deskriptiven Ebene. Die Autoren kontextualisieren die aktuellen Veränderungen in Regime, Institutionen und Gesellschaft und verknüpfen ihre Analysen mit der Forschung der vergangenen Jahre. Weiterhin zeichnet sich der Sammelband durch seine Vielfalt an Quellen aus, die die Autoren heranziehen. Persönliche Interviews, Zeitungsberichte, Internetquellen sowie wissenschaftliche Arbeiten in englischer, deutscher und arabischer Sprache sind nur einige Beispiele. Insgesamt bieten die Beiträge zahlreiche Anknüpfungspunkte für eine kritische konzeptionelle und theoretische Auseinandersetzung mit der Autoritarismus- und Transitionsforschung nach den Ereignissen von 2011, wobei die Beiträge im Einzelnen unterschiedlich tief in die Diskussion eintauchen. Christoph Schumanns konzeptioneller Beitrag sowie Thomas Demmelhubers Analyse des Regime- und Elitenwandels stechen hier besonders positiv hervor. Mit ihren Analysen zweier besonderer Akteursgruppen geben Florian Kohstall (Hochschulpolitik) und Irene Weipert-Fenner (Arbeiterbewegung) Aufschluss über den Weg zur Revolution bzw. über kurz- und mittelfristige Entwicklungstendenzen. Ihre Arbeiten zeichnen sich dabei vor allem durch ihre detaillierte Darstellung und überzeugende Kontextualisierung aus; zudem verknüpfen sie gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Faktoren. So diskutiert Florain Kohstall in seinem Beitrag zur Hochschulpolitik nach dem Rücktritt Mubaraks am Beispiel der Präsidentschafts- und Dekanatswahlen an staatlichen und privaten Hochschulen das Spannungsverhältnis von Veränderungstendenzen und dem Festhalten an etablierten Verhaltensweisen. Angesichts eines nur partiell vorhandenen Reformwillen auf Seiten der zuständigen staatlichen Institutionen, der Wiederwahl bisheriger Amtsträger sowie der Unterrepräsentation der jungen Ägypter in Entscheidungsprozessen an Universitäten kommt er zu einer eher kritischen Einschätzung der politischen Transformation Ägyptens (S. 198f., 204–7).

Insgesamt handelt es sich um ein sehr empfehlenswertes Buch über den Arabischen Frühling in Ägypten, das dem eigenen Anspruch, über „reine politikwissenschaftliche ‚Brennpunktforschung‘ hinaus zu wirken“ (S. 9), gerecht wird.

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