I. Emmerling: Die DDR und Chile (1960–1989)

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Titel
Die DDR und Chile (1960–1989). Außenpolitik, Außenhandel und Solidarität


Autor(en)
Emmerling, Inga
Erschienen
Anzahl Seiten
523 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Joachim Scholtyseck, Historisches Seminar, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

Chile gehört heute zu den wirtschaftlich erfolgreichsten Ländern Lateinamerikas. Obwohl sich sein Blick zunehmend auf China und den pazifischen Raum richtet, ist das Land immer noch stark von seinen europäischen Verbindungen geprägt und stolz auf seine demokratischen Traditionen, die mit guten Gründen auf die vergleichsweise starke Stellung einer bürgerlichen Mittelschicht zurückgeführt werden. Das wirtschaftliche und soziale Gefälle war und ist weniger ausgeprägt als in den meisten anderen Staaten Lateinamerikas. Die stärker als in Europa nach links orientierte chilenische Christdemokratie, gestützt auf die vatikanische Soziallehre und die philosophischen Überlegungen von Jacques Maritain, vermochte mit ihrem Programm die Mittelschicht und weite Teile der Landbevölkerung gleichermaßen an sich zu binden. Die Christdemokraten bildeten – jenseits des traditionell ebenfalls starken konservativen Lagers – in enger Zusammenarbeit mit der katholischen Kirche eine Alternative zu den aufkommenden sozialrevolutionären Tendenzen der Nachkriegszeit. Besonders intensiv waren die Beziehungen zur Bundesrepublik, die in den 1950er- und 1960er-Jahren zu einem der wichtigsten Geberländer wurde. Entwicklungshilfe und Aufbauunterstützung sicherten der Bundesrepublik unter Bundeskanzler Konrad Adenauer einen bevorzugten Platz, was sich nicht nur in Staatsbesuchen, sondern auch in einem regen kulturellen Austausch niederschlug.

Daher war es für die Bonner Politik beunruhigend, dass sich auch der „zweite deutsche Staat“ zunehmend für den Andenstaat interessierte. Dieser Aspekt ist in den letzten Jahren immer stärker in den Blick der Historiker geraten. Georg Dufner hat im Jahr 2008 eine – in der vorliegenden Studie allerdings nicht berücksichtigte – wichtige globalgeschichtliche Untersuchung veröffentlicht, mit der die Chile-Politik der DDR vor allem vor der Folie des Kalten Krieges plausibel erklärt wird.1

Über die Grundzüge des verbissenen, vorübergehend erfolgreichen und letztlich doch kläglich gescheiterten Versuches der SED-Diktatur, das eigene ideologische Modell „weltrevolutionär“ auf einen südamerikanischen Staat zu übertragen, ist die Forschung daher inzwischen recht gut informiert. Neue Aspekte vermittelt jetzt die Dissertation von Inga Emmerling. Sie hat nicht nur die entsprechenden Vorgänge in den Akten der DDR (im Bundesarchiv vornehmlich die Akten des Ministerrats und der Liga für Völkerfreundschaft, im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes die Akten des Außenministeriums der DDR, daneben umfangreiche Bestände der BStU und der SAPMO) recherchiert. Der Vorzug ihrer Studie besteht nicht zuletzt darin, dass sie die Akten des chilenischen Außenministeriums und weitere Bestände eingesehen, chilenische Periodika ausgewertet sowie Interviews mit politischen Protagonisten geführt hat. Durch die multiarchivalische Vorgehensweise ergeben sich tiefe Einblicke in das facettenreiche Geflecht der Beziehungen zwischen Chile und der DDR über einen Zeitraum von fast dreißig Jahren.

Mit gutem Grund beginnt der Erzählstrang ihrer Studie mit dem schon früh einsetzenden Werben der DDR um Anerkennung: Wie in zahlreichen ähnlichen Ländern der „Dritten Welt“ begann dieses Werben mit einer bescheidenen Handelsvertretung, die in diesem Fall in Santiago de Chile angesiedelt war. Zu Beginn der 1960er-Jahre entwickelte sich dann der Anspruch, auch in der südlichen Hemisphäre als gleichberechtigter diplomatischer Partner anerkannt zu werden.

Die Systemkonkurrenz war zunächst kaum ernst zu nehmen: Die Bundesrepublik war im christlich-demokratisch regierten Santiago stets mit angesehenen und ebenfalls dem Gedanken eines „christlichen Abendlandes“ verbundenen Botschaftern vertreten, die sich der eisernen Verteidigung der Hallstein-Doktrin verpflichtet fühlten. Der DDR-Handelsvertreter Harry Spindler hingegen, ein ehemaliger Konditormeister, der nur auf Umwegen in die oberen Ränge des sich erst allmählich professionalisierenden diplomatischen Diensts der DDR aufgestiegen war, schuf sich bald ein eigenes Netzwerk innerhalb der chilenischen Linken. Die Kontakte zur chilenischen KP waren dabei durchweg enger als zur Sozialistischen Partei, an deren unbedingter ideologischer Verlässlichkeit in Ostberlin immer wieder Zweifel aufkamen.

Die Stunde der DDR kam mit dem Machtantritt Salvador Allendes im Herbst 1970. Unter dem bürgerlichen Sozialisten und Bonvivant, der sich gegen die Hardliner in seiner Volksfrontregierung kaum durchsetzen konnte, wurde die DDR ein privilegierter Partner. Trotz allen Antichambrierens wurde die DDR jedoch aus Rücksicht auf die Bundesrepublik erst nach einer gewissen Schamfrist im Frühjahr 1971 von der Volksfront offiziell anerkannt. Die Regierung Allendes achtete auch in den folgenden Jahren sorgsam darauf, die unverändert wichtigen Beziehungen zur Bundesrepublik nicht zu beschädigen. Es wäre sicherlich kein Fehler gewesen, wenn Frau Emmerling auf diese Aspekte noch stärker hingewiesen hätte: Die Regierung Brandt/Genscher war sich der neuen Konkurrenz durchaus bewusst und intensivierte nach einer Übergangsphase ihre wirtschaftlichen, entwicklungshilfepolitischen und kulturellen Anstrengungen, um der auf südamerikanischen Boden selbstbewusst auftretenden DDR Paroli zu bieten.

Deren Versuche, außenwirtschaftlich in Chile zu reüssieren, blieben weitgehend in Absichtserklärungen stecken. Die Vision eines bilateralen „Kupferprojekts“ hatte sich bis 1970 ohnehin nicht verwirklichen lassen und in Unmengen von Papieren und Expertisen erschöpft, die heute die Archive füllen, aber das Papier nicht wert waren, auf dem sie gedruckt waren. Unter Allende, dessen Prestigeprojekt darin bestand, die von US-amerikanischen Konzernen beherrschte Kupferindustrie zu „chilenisieren“, blieb das Land auf den Handel mit dem Westen angewiesen. Der Export in die sozialistischen Länder betrug selbst im Jahr 1973 erst bescheidene 6,3 Prozent des chilenischen Gesamthandels; die Importe machten 7,7 Prozent aus. Allende konnte und wollte die Verbindungen zu den westeuropäischen Industriestaaten, ja selbst zu den USA, nicht zu Gunsten der sozialistischen Staaten aufgeben und blieb auf ein gewisses Maß an Kooperation mit dem Westen angewiesen. Die Bundesrepublik war bei Amtsantritt Allendes mit knapp 35 Prozent noch vor den USA der Hauptabnehmer der chilenischen Kupferproduktion.

Allende war für den ökonomischen Niedergang des Landes in den folgenden Jahren wesentlich mitverantwortlich. Die erhofften Produktionseinnahmen durch Kupfer stellten sich aus mannigfachen Gründen nicht ein. Die notwendigen Kapitalinvestitionen aus dem Ausland blieben angesichts der fortwährenden Rechtsunsicherheit aus; die Arbeitsdisziplin in den von radikalen Gewerkschaften dominierten Minen ließ nach; die Lohnerhöhungen verteuerten die Produktion und entsprachen dennoch nicht den hochgesteckten Erwartungen der Arbeiter, was zu kaum noch zu kontrollierenden legalen und zunehmend auch wilden Streiks führte. Dies trug zu einem rapiden Rückgang der Minenerträge und zur Qualitätsverschlechterung des geförderten Metalls bei: ein wahrer Teufelskreis von Missmanagement und fehlgeleiteter Revolutionsideologie. Die Produkte, die von der technologisch hoffnungslos retardierten DDR angeboten wurden, waren hingegen mit den westlichen Standards nur in den seltensten Fällen kompatibel. Die Schwerfälligkeit des Planwirtschaftssystems und die logistischen Probleme, die der lange Seeweg über den halben Globus aufwarf, verstärkten nur noch die Schwierigkeiten einer effektiven ökonomisch-technologischen Zusammenarbeit.

Das Scheitern Allendes wird heute ebenso auf das Versagen der gesamten politischen Klasse Chiles zurückgeführt, die orientierungslos in Passivität verharrte, wie auf die strategischen und politischen Fehler seiner Unidad Popular. Der Kalte Krieg an der Peripherie hatte zudem unerbittliche Konsequenzen: Die USA orientierten sich gegenüber Allende auch in der letzten Phase seiner Amtszeit an ihrer schon klassisch zu nennenden konterrevolutionären Politik gegenüber den mittel- und südamerikanischen Klientelstaaten. Washington war zwar nicht am Coup des Jahres 1973 gegen die Volksfrontregierung beteiligt, tat aber nichts, um ihn zu verhindern.

Die DDR war bei diesen Vorgängen wenig mehr als nur ein Zaungast. Nach dem Sturz Allendes traten die ideologischen Aspekte der Chile-Politik wieder stärker hervor. Die Mystifizierung Allendes erhielt durch seinen gewaltsamen Tod einen neuen Schub. Im sowjetischen Herrschaftsbereich wurde der gestürzte Präsident zur Ikone stilisiert, als ein Symbol für Verbrechen „faschistischer“ Kräfte, die bei jeder passenden Gelegenheit sozialistische Regierungen zu Fall brachten. In Europa bildeten sich zahlreiche Initiativen, die sich für die emigrierten sozialistischen und kommunistischen Exil-Chilenen einsetzten und zum Kampf gegen das Regime von Augusto Pinochet aufriefen. Zahlreiche Flüchtlinge fanden in der DDR Aufnahme, standen jedoch im Gastland unter ständiger Kontrolle der misstrauischen Behörden. Frau Emmerling zeigt akribisch das Netz der Überwachung, das auch eine „Verhaltenseinschätzung“ durch die VEB-Beauftragten beinhaltete.

Etwas stärker hätten in diesem Zusammenhang noch die „transnationalen“ Aspekte des Exils der Chilenen betrachtet werden können. Gerade den aus der bürgerlichen Mitte der Gesellschaft stammenden Chilenen fiel die Integration in das graue „Arbeiterparadies“ ausgesprochen schwer. Für viele von ihnen war die DDR nur ein Transitland, dem sie zu entkommen versuchten, weil sie wussten, dass das Leben als Exilant in der Bundesrepublik, Schweden und Großbritannien erträglicher war. Seit Ende der 1970er Jahre wurde, wie Frau Emmerling zeigen kann, die Rückkehr nach Chile wieder möglich, nachdem die Junta eine entsprechende Amnestie erlassen hatte.

Bemerkenswerterweise fanden sowohl das Pinochet-Regime wie die SED-Diktatur fast zeitgleich ihr verdientes Ende. Wenige Wochen nach dem Fall der Mauer ermöglichten freie Wahlen im Dezember 1989 die Rückkehr Chiles auf den Pfad der Demokratie. Damit waren auch die Beziehungen der DDR zu Chile endgültig Geschichte. Sie stellten insofern einen Sonderfall dar, als sie bis 1973 als vergleichsweise erfolgreich eingeschätzt werden können. Letztlich entscheidend waren allerdings, wie im Fazit plausibel ausgeführt wird, die Rahmenbedingungen, die der „Mangelgesellschaft“ DDR auch in ihrer Außenpolitik anhafteten: „Mangel an internationaler Anerkennung, Mangel an innerer Legitimation, um nach außen die eigene Bevölkerung vertreten zu können, vor allem aber Mangel an Geld, um eine der Bundesrepublik gleichwertige Außenpolitik bewerkstelligen, und Mangel an Wirtschaftskraft, um lukrativen Außenhandel betreiben zu können“ (S. 482).

Anmerkung:
1 Georg Dufner, Chile als Bestandteil des revolutionären Weltprozesses. Die Chilepolitik der DDR im Spannungsfeld von außenpolitischen, ökonomischen und ideologischen Interessen 1952–1973, Saarbrücken 2008.