K. Maase: Die Kinder der Massenkultur

Cover
Titel
Die Kinder der Massenkultur. Kontroversen um Schmutz und Schund seit dem Kaiserreich


Autor(en)
Maase, Kaspar
Erschienen
Frankfurt/M. 2012: Campus Verlag
Anzahl Seiten
424 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Karl Christian Führer, Universität Hamburg

Kaspar Maase beginnt sein Buch über den Kampf gegen kulturellen „Schmutz und Schund“ im Kaiserreich in der Gegenwart. Die Debatten über die Motive des jugendlichen Amokläufers von Winnenden im Jahr 2009 dienen ihm als aktuelles Beispiel für einen Diskurs, dessen Ursprung er im späten 19. Jahrhundert ansiedelt: Produkte einer kommerziellen Unterhaltungsindustrie, die besonders von Kindern und Jugendlichen rezipiert werden (in diesem Fall die „Ego-Shooter“-Computerspiele), gelten Erwachsenen als Quelle einer „Verrohung“, die zu antisozialem Verhalten führt. Versuche, die populären Medien im Interesse des „Jugendschutzes“ zu regulieren, so Maases zentrale These, speisen sich im Kaiserreich wie auch heute aus der gleichen Sorge: der Furcht, „dass unsere Kultur abstürzt, dass ihre Weitergabe an die nächste Generation scheitern könnte“ (S. 14). Daher strebt die Elterngeneration nach „Regelung des Wissenzugangs Heranwachsender“ durch Kontrolle gerade neuer medialer Angebote (S. 16) – was die Neugier von Kindern jedoch vielleicht eher beflügelt als eindämmt. Im „Schundkampf“ der wilhelminischen Gesellschaft sieht Maase mithin ein Modell versuchter sozialer Regulierung, das über politische Systemwechsel hinweg bis in die Gegenwart weiterwirkt.

Anders als der Untertitel es suggeriert, bietet das Buch allerdings keinen Überblick über solche Regulierungsversuche im 20. Jahrhundert. Maase beschränkt seine Sachdarstellung, die Ergebnisse einer jahrzehntelangen Beschäftigung mit dem Thema synthetisiert, ganz auf das Kaiserreich und den Ersten Weltkrieg. Er beschreibt dabei sowohl den negativen, mit Restriktionen arbeitenden Kampf gegen „Schmutz und Schund“ als auch dessen positive Variante, deren Protagonisten sich bemühten, den für gefährlich gehaltenen Produkten der kommerziellen Kulturindustrie pädagogisch wohlüberlegte, „wertvolle“ Alternativen entgegen zu setzen. Staatlichen Restriktionen unterlag vor allem die Filmwirtschaft, die sich seit 1905 rasant entwickelte. Die Filmzensur prüfte jeden öffentlich gezeigten Film genau auf „jugendgefährdende“ Momente. In einigen Großstädten sollten Kinder, die nicht von Erwachsenen begleitet wurden, darüber hinaus von den Kinos grundsätzlich nur in besonderen Kindervorstellungen zugelassen werden. Die Praxis sah allerdings anders aus, sei es nun, weil der Jugendschutz den Kinobesitzern doch weniger wichtig war als ihre tägliche Kasse, oder weil Kinder und Jugendliche das Verbot trickreich umgingen.

Noch schwieriger gestaltete sich der Kampf gegen populäre Heftserien wie „Nick Carter“ oder „Buffalo Bill“, die von den gefährlichen Abenteuern ihrer Helden an exotischen Schauplätzen erzählten. Verbote waren nicht möglich, weil diese Geschichten, die man wohl als Vorläufer späterer Superhelden-Comics bezeichnen könnte, nichts enthielten, was gegen Gesetze verstieß. Hier behalfen sich die Jugendschützer mit Druck auf die Pächter von Bahnhofskiosken und Zeitungsständen, solche Serien nicht zu verkaufen; ähnlich agierten Schulleiter, die Buchhändlern drohten, den Schülern werde der Besuch des Ladens verboten, wenn die Hefte nicht aus dem Angebot verschwänden. Überhaupt spielten die Lehrer eine zentrale Rolle im wilhelminischen „Schundkampf“. Auch in den vielen lokalen und überregionalen Vereinen, die sich dem Kampf gegen die angeblich ‚verrohende‘ moderne Unterhaltungskultur verschrieben, stellten Pädagogen einen großen Teil der Mitglieder und Aktivisten.

Quellenbedingt lässt sich die Sicht der Kinder und Jugendlichen auf das, was ihnen verboten wurde, kaum authentisch beschreiben. Maase kann jedoch immerhin einige schöne Funde präsentieren, die beispielhaft zeigen, wie Heranwachsende eigensinnig auf ihre Gängelung reagierten. So zitiert er ausführlich aus einem autobiografischen Roman des 1902 geborenen Schweizer Schriftstellers Paul Wehrli (1942 publiziert), in dem dieser retrospektiv über seine kindliche Freude an Heftromanen mit Titeln wie „Die Rache des Mulatten“ oder „Das Geheimnis der Todesuhr“ berichtet. Verbote bleiben bei Wehrlis Held wirkungslos: Er versteckt die Hefte, die das „Verehrungsbedürfnis von uns Knaben“ befriedigen, und liest sie im Verborgenen. An anderer Stelle beschreibt ein längerer Zeitungsartikel den kollektiven Tumult, den Leipziger Kinder im November 1910 am Totensonntag veranstalteten, als das Kino ihnen wegen des Feiertages statt der erwarteten Filme einen naturkundlichen Lichtbildvortrag über „Die Sonne und ihr System“ bot. Durch Johlen, Pfiffe, Zischen und Geschrei sabotierten sie den Vortrag.

Im Ersten Weltkrieg verschärfte sich zwar der deutsche „Schundkampf“ selbst gegenüber patriotischem „Kriegsschund“. Maase sieht insgesamt allerdings doch eine „eher zurückhaltende, eher symbolisch-demonstrativ eingesetzte Verbotspraxis“ (S. 217). Dringliche Appelle der „Schundkampf“-Aktivisten, die populäre Unterhaltungskultur rigoros nach moralischen und ästhetischen Kriterien zu säubern, verhallten wirkungslos. Eine Geschmacksdiktatur sollte es nach dem Willen von Militär und Bürokraten nicht geben; die preußische Innenbehörde warnte sogar ausdrücklich vor dem ästhetischen „Terrorismus“ der vielen Volksbildungs- und Sittlichkeitsvereine (S. 228). Diese Haltung verdankte sich selbstverständlich auch pragmatischen Überlegungen: In Maßen und in bestimmten Formen war eine patriotische Populärkultur der wilhelminischen Elite als Instrument der ideologischen Integration durchaus willkommen. Zugleich aber zeigt sich hier auch so etwas wie ein bewusster kultureller Liberalismus, den man dem preußisch-deutschen Staatsapparat mitten im Krieg nicht zugetraut hätte.

In seinen Schlussüberlegungen wirft Maase auch die Frage auf, ob sich der deutsche „Schundkampf“ in den letzten Dekaden des langen 19. Jahrhunderts von den zeitgleichen Auseinandersetzungen um die kommerzielle Unterhaltungsindustrie in anderen westlichen Nationen unterscheidet. Der starke Staatsbezug der deutschen Debatte gilt ihm dabei ebenso als Besonderheit wie auch die Furcht, die Populärkultur untergrabe Bildung und Kultur. In Großbritannien wie auch in Frankreich sorgte man sich hingegen eher um die Moral der unteren Klassen. Maase erklärt diese spezielle Sicht mit der großen Bedeutung der Pädagogen unter den selbsternannten deutschen Kulturkämpfern: Lehrer und Lehrerinnen, die nach Maase „keineswegs zum Bürgertum zählten“, nutzten den „Schundkampf“, um ihre eigene soziale Bedeutung zu betonen. Daher spielten auch Versuche, den Geschmack der einfachen Leute „zu heben“, im Kaiserreich eine deutlich größere Rolle als außerhalb der deutschen Grenzen (S. 315).

Maase behandelt sein Thema ebenso kenntnisreich wie differenziert; die farbige und stets abgewogen argumentierende Darstellung liest sich exzellent. Wenn Fragen bleiben, dann ergeben sie sich zum einen aus Maases strikt kulturwissenschaftlicher Perspektive. Über die Kulturindustrie, die im Kaiserreich „Schmutz und Schund“ in so bemerkenswert großem Umfang und in so vielen Varianten produzierte, erfahren wir wenig. En passant erwähnt Maase „große Schundverlage“ (S. 215), doch nähere Informationen zu diesen Unternehmen fehlen. Über den angeblich unterbürgerlichen Status der deutschen Lehrer ließe sich streiten: Zumindest die Gymnasiallehrer dürften sich nicht so gesehen haben. Zum anderen geht die Darstellung kaum einmal über das Kaiserreich hinaus. Maases Überlegungen zu den deutschen Besonderheiten bleiben daher zwangsläufig thesenhaft.

Für gewichtiger halte ich aber eine Lücke, die sich nur indirekt aus Maases Titel ergibt: Wenn schon die im Zeitraum zwischen 1890 und 1914 Geborenen „Kinder der Massenkultur“ waren, wie ist es dann zu erklären, dass sich der „Schundkampf“ als kulturelle und medienpolitische Konstante durch das ganze 20. Jahrhundert zieht? Wieso entwickelten die Angehörigen dieser Generation als Eltern und Erzieher keine gelassenere Haltung gegenüber der kommerziellen Unterhaltungskultur, wenn sie doch selbst schon von ihr geprägt waren? Auf diese Fragen geht Maase nicht ein. Dabei wird die Geschichte der „Kontroversen um Schmutz und Schund seit dem Kaiserreich“, so scheint mir, hier doch eigentlich erst richtig spannend.

Ganz grundsätzlich ließe sich auch fragen, ob man Maases Darstellung nicht mit dem Versuch eines Historikers vergleichen könnte, die Geschichte des deutschen Weihnachtsfestes mit den Akten der Feuerwehr zu schreiben: Quellenbedingt zeichnet sie ein Bild der allumfassenden Furcht und Sorge. Den Spaß, den auch Erwachsene im Kaiserreich an trivialen Unterhaltungsangeboten gehabt haben mögen, oder auch nur deren Gleichgültigkeit gegenüber solchem „Trash“ kann sie hingegen nicht erfassen. Trotz solcher Einwände tut aber jeder, der sich über das kulturelle Klima des wilhelminischen Kaiserreichs, dessen Populärkultur und Medienpolitik informieren will, gut daran, in Zukunft Maases Buch zu rezipieren.