N. Grüne: Dorfgesellschaft - Konflikterfahrung - Partizipationskultur

Cover
Titel
Dorfgesellschaft - Konflikterfahrung - Partizipationskultur. Sozialer Wandel und politische Kommunikation in Landgemeinden der badischen Rheinpfalz (1720–1850)


Autor(en)
Grüne, Niels
Reihe
Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte 53
Erschienen
Stuttgart 2011: Lucius & Lucius
Anzahl Seiten
532 S.
Preis
€ 68,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christine Fertig, Universität Münster

Niels Grüne untersucht in seiner im Wintersemester 2008/09 an der Universität Bielefeld eingereichten Dissertation die im Titel angedeuteten Themenkreise dörfliche Gesellschaft, lokale und herrschaftliche Konflikte und religiöse wie politische Partizipation in der badischen Rheinpfalz. Angelegt ist die Untersuchung als komparative Regionalstudie, indem sie zwanzig Dorfgemeinden in den Blick nimmt. Zum Teil stützt der Autor sich dabei auf über alle Gemeinden verfügbares Quellenmaterial, zum Teil verfährt er, je nach Quellenlage, exemplarisch.

Auf eine ausführliche Einleitung und eine detaillierte Vorstellung der natürlichen und institutionellen Rahmenbedingungen folgt das erste inhaltliche Kapitel (Kap. 3) zu den demographischen und sozioökonomischen Entwicklungsprozessen der pfälzischen Dorfgesellschaften. Zunächst werden das erhebliche Bevölkerungswachstum und der zunehmende Druck auf die verfügbaren Ressourcen dargestellt. Dann diskutiert Grüne die Konsequenzen der demographischen Expansion für die sozioökonomische Entwicklung. Im Unterschied zu anderen, etwa nordwesteuropäischen Regionen entwickelte sich hier keine exportorientierte ländliche Warenproduktion, und auch agrarischer Tagelohn spielte keine größere Rolle. Das Zusammenspiel von Realerbteilung, erleichtertem Zugang zu grundherrlichen und kommunalen Flächen und Vordringen von Pacht ermöglichte Kleinbesitzern die Erzielung eines ausreichenden agrarischen Einkommens durch intensivierten Anbau. Im Ergebnis wurden die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts virulenten Klassenkonflikte durch eine Verbreiterung und Reagrarisierung der Kleinbesitzerschicht beruhigt. Für das 19. Jahrhundert konstatiert Grüne eine ländliche Zwei-Drittel-Gesellschaft, die durch eine von weitgehender sozialer Integration und relativer Interessenhomogenität gekennzeichnete dörflich-bäuerliche Lebenswelt geprägt war. Damit kontrastiert diese Region nicht nur mit nordwestdeutschen Gebieten mit Anerbenrecht, in denen sich im gleichen Zeitraum oftmals ländliche Klassengesellschaften entwickelten, sondern auch mit anderen süddeutschen Regionen, in denen ländliche Kommunen trotz Realteilung ebenfalls ausgeprägte Klassenstrukturen herausbildeten.

Im folgenden Kapitel 4 wird gezeigt, dass sich ab der Mitte des 18. Jahrhunderts herrschaftlich-kommunale Konflikte nicht von innergemeindlichen, sozialen Konflikten trennen ließen. Dabei wird deutlich, dass ab 1750 zunächst soziale Konflikte an Bedeutung gewannen, innerhalb derer die Kleinst- und Kleinbesitzer auf die Autorität einer reformfreudigen staatlichen Verwaltung zurückgriffen. Überzeugend betont Grüne, dass die Obrigkeit dadurch bei den ländlichen Mittel- und Unterschichten grundlegendes Vertrauen erwarb, das den staatlichen Zugriff auf die dörfliche Gesellschaft im weiteren Verlauf beträchtlich erleichterte. Nachdem die meisten Auseinandersetzungen um die Verteilung der Allmendeflächen und um grundherrliche Abgaben ausgefochten worden waren, kamen den besitzlosen Tagelöhnern allerdings die Verbündeten abhanden. Im Ergebnis bildete sich zum einen die erwähnte Zwei-Drittel-Gesellschaft einer integrierten Bauern- und Kleinbesitzerschicht heraus, zum anderen drehten sich die Konflikte zwischen Dorf und Obrigkeit im 19. Jahrhundert eher um Fragen von dörflicher Selbstverwaltung, in denen innergemeindliche soziale Konflikte kaum noch eine Rolle spielten.

Im fünften Kapitel wird der Zusammenhang zwischen politischer Mobilisierung und Konfessionsbeziehungen untersucht. Auseinandersetzungen um Ressourcen wurden nur selten mit religiösen Motiven aufgeladen, und heftige Konfrontationen kamen ebenso regelmäßig vor wie das Bemühen um friedliche Koexistenz. Die obrigkeitlichen Versuche der Einflussnahme, etwa auf die Besetzung von Schultheißenämtern mit katholischen Kandidaten, boten eine Bühne für innerdörfliche Auseinandersetzungen, in denen konfessionelle Motive neben sozialen Beweggründen und solchen, die Klientelbeziehungen betrafen, standen. Im 19. Jahrhundert hatten sich die konfessionellen Beziehungen durchweg entspannt, was vor allem auf ein um Annäherung bemühtes Verhalten der dörflichen Pfarrer zurückzuführen ist. Damit widersprechen Grünes Befunde der Vorstellung, dass in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine ‚Rekonfessionalisierung‘ eingeleitet wurde. Die Untersuchung der Petitionskampagnen zeigt, dass die liberale Mobilisierung der ländlichen Bevölkerung auf einer ausgeprägten Verschränkung von agrar- und allgemeinpolitischen Anliegen beruhte. In der badischen Rheinpfalz blieb es jedoch bei einem an städtischen Vorbildern orientierten Liberalismus. Die gegen Ende des 18. Jahrhunderts gelungene Pazifizierung und Integration der dörflichen Schichten trug einen erheblichen Teil dazu bei, dass ein gemäßigter Liberalismus im ländlichen Bereich eine recht breite Anhängerschaft fand, revolutionäre Spielarten aber kaum auf Resonanz stießen.

Das Buch von Niels Grüne überzeugt sowohl durch die intensive Auseinandersetzung mit den Quellen als auch durch eine systematische Ausbreitung der Ergebnisse. Die zahlreichen geschilderten Fälle bieten immer wieder interessante Erkenntnisse; zuweilen kann die Präsentation der vielen Einzelbeispiele den Leser aber auch ermüden. Dass die Diskussion der Ereignisse auf der Mikroebene sich auf zwanzig verschiedene Gemeinden bezieht, trägt nicht immer zur Klarheit bei, auch wenn jeweils nur einzelne Beispiele erzählt werden. Hier kann man fragen, ob die Anlage der Arbeit als regionale Studie, die Schlaglichter auf viele verschiedene Gemeinden wirft, ganz glücklich gewählt ist. Dem Autor ist es aber gelungen, die vielen Einzelergebnisse in konzisen und systematisch argumentierenden Kapitelabschlüssen überzeugend und einleuchtend zu diskutieren. Kritisch angemerkt sei auch, dass sich sowohl die Konzeption der Arbeit als auch die Einordnung der Ergebnisse stark an der agrargeschichtlichen Forschung in Deutschland orientiert, die sehr lebendige und äußerst ertragreiche internationale Forschung aber wenig einbezogen wird. Insgesamt handelt es sich bei dem Buch um eine anregende und lesenswerte Studie, die der Erforschung der ländlichen Gesellschaft in Deutschland sicherlich neue Impulse geben wird.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension