Titel
Voices of the People in Nineteenth-Century France.


Autor(en)
Hopkin, David
Reihe
Cambridge Social and Cultural Histories 18
Erschienen
Anzahl Seiten
XII, 296 S.
Preis
£60.00 / € 78,32
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Silke Mende, Seminar für Zeitgeschichte, Philosophische Fakultät, Eberhard Karls Universität Tübingen

Als Plädoyer für einen „folkloric turn“ (S. 1) in den Geschichtswissenschaften versteht der in Oxford lehrende Historiker David Hopkin sein Buch über ‚die kleinen Leute‘ im Frankreich des 19. Jahrhunderts. Seine von historischer Anthropologie und Mikrogeschichte beeinflusste „Geschichte von unten“ nimmt Fischer und Seefahrer, Bauern und Textilarbeiter in den Blick und versucht, diesen eine Stimme zu geben. Da diese Gruppen nur selten umfangreiche schriftliche Aufzeichnungen hinterlassen haben, die Auskunft über ihr Leben und Erleben geben, konzentriert sich Hopkin auf volkskundliche Sammlungen, die in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts angelegt worden sind und zum Ziel hatten, das unter dem Eindruck wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Transformationsprozesse zunehmend verschwindende folkloristische Erbe des Landes aufzuzeichnen und zu konservieren. Von französischen Volkskundlern (avant la lettre) wie Paul Sébillot, Achille Millien oder Victor Smith zusammengetragene Märchen und Sagen, Lieder, Rätsel und Reime bilden die hauptsächliche Quellenbasis der Studie.

In sechs Kapiteln nimmt Hopkin den Leser mit auf eine Reise in die französische Provinz des (späten) 19. Jahrhunderts und versucht anhand folkoristischer Texte den informellen sozialen Systemen der Landbevölkerung auf die Spur zu kommen. Seine Quellen, so der Autor, spiegeln zum einen zeitgenössische Selbstbeschreibungen und Abgrenzungsversuche wider. Zum anderen aber, und weit wichtiger, machten sie soziale Hierarchien nicht nur sichtbar, sondern konstruierten und bestätigten diese fortwährend. So sind die ersten beiden Kapitel Fischern und Seeleuten in der Bretagne gewidmet, deren Art und Weise Geschichten zu erzählen beispielhaft die Funktionsweise kleiner maritimer Gemeinschaften an Land oder auf See beschreibt. Ob etwa jemand an Bord der ebenso legendenumwobenen wie wirtschaftlich bedeutsamen Neufundlandschoner selbst erzählen oder zumindest zuhören durfte, verriet, so Hopkin, viel über die Zusammensetzung und soziale Praxis der terre-neuvas: „Stories were a form of cultural capital with which to buy one’s entry into a crew.“ (S. 104) Dass Erzählen nicht bloßer Zeitvertreib war, sondern eine Art „operating system within a face-to-face community“ (S. 107), unterstreichen ebenfalls das dritte und vierte Kapitel. Darin geht es zum einen um die Offenlegung familiärer Strategien bei der Anbahnung von Hochzeiten in Lothringen, bei der traditionelle, für diese Region spezifische Reim- und Ratespiele (dâyemans) eine herausgehobene Rolle spielten. Zum anderen werden die Machtverhältnisse und innerfamiliären Dynamiken einer burgundischen Großfamilie anhand ihrer Praxis des Geschichtenerzählens nachvollzogen: „Storytelling offered peasant men and women the cultural space of self-definition, but also, through the interaction between narrator and audience, the possibility to negotiate their discrepant views on courtship, marriage and gender roles.“ (S. 183) Die letzten beiden Kapitel betrachten schließlich Fallbeispiele aus dem im Zentralmassiv gelegenen Velay: Mithilfe von Arbeitsliedern wird versucht die Sozial- und Arbeitsbeziehungen von Bauern und Spitzenklöpplerinnen zu erhellen sowie die Selbstbeschreibungen der ländlichen Bevölkerung herauszuarbeiten.

Historiographiegeschichtlich versiert, methodisch reflektiert und umsichtig argumentierend lotet Hopkin Möglichkeiten und Grenzen einer solchen Konzentration auf folkloristische Texte aus. Er plädiert dafür, das 19. Jahrhundert als fremde Epoche und nicht als Vorgeschichte des 20. Jahrhunderts zu betrachten. Von der Modernisierungstheorie inspirierten Meistererzählungen wie der Geschichte der industriellen Modernisierung oder der Nations- bzw. Nationalstaatsbildung steht er dementsprechend kritisch gegenüber. Indem er sich hauptsächlich auf volkskundliche Sammlungen stützt, wendet er sich unter anderem gegen die vor allem von französischen Historikern gepflegte Tradition, die Geschichte einfacher Leute mithilfe von Quellen zu schreiben, die aus der Feder von Autoritäten oder Kontrollinstanzen stammen, Justiz- oder Verwaltungsakten etwa. Den Einwand, dass auch die von Volkskundlern vorgenommenen oder zumindest initiierten Aufzeichnungen unterschiedlichen Einflüssen unterlagen, bringt Hopkin selbst immer wieder vor (zum Beispiel S. 19 u. 41): So sei das Verhältnis zwischen „performer“ und „collector“ oftmals ein hierarchisches gewesen, was Zensur und Selbstzensur Tür und Tor öffnete. Zudem seien an den Manuskripten immer wieder Modifikationen vorgenommen worden, indem mundartliche Begriffe übersetzt, fehlerhaftes Französisch korrigiert sowie Beleidigungen und Kraftausdrücke mitunter gestrichen wurden. Inwiefern Lieder und Märchen überhaupt ein Abbild ‚realer‘ zeitgenössischer (bzw. in ihnen tradierter vergangener) Erfahrungen oder ‚lediglich‘ eine Kunstform waren, ist damit jedoch noch nicht geklärt. Obwohl Hopkin Volksmärchen als „a form of fictionalized autobiography“ begreift, liest er sie weniger als „reflection of the narrators’ personalities“ denn als „communicative strategies within specific social settings“: „To understand their meaning we need also to explore the communities in which narrators were formed, and to whom they spoke when they told their tales or sang their songs.“ (S. 32) Die untersuchten folkloristischen Texte und Sammlungen werden deshalb konsequent und überzeugend in den lokalhistorischen Kontext integriert und um sozialhistorische Quellen, wie zum Beispiel Kirchenbücher, Statistiken, Justiz- und Konskriptionsakten, ergänzt.

Dies entspricht dem übergeordneten Interesse des Autors, die Kluft zwischen Sozial- und Kulturgeschichte zu überwinden. Während er die Neigung von Sozialhistorikern kritisiert, historische Akteure mittels von außen auferlegter, scheinbar objektiver Maßstäbe bestimmten Kategorien, Gruppen oder Klassen zuzuordnen, ohne nach deren Selbstwahrnehmung und -verortung zu fragen (S. 7), wirft er der Kulturgeschichte „an obsession with the discourse at the expense of the subject“ vor: „[…] I would be disappointed if all cultural history offered to do was to replace the ‚iron cages‘ of socio-economic determinism with those of cultural determinism“ (S. 5).

David Hopkins gut lesbare Studie weiß über weite Strecken zu überzeugen und setzt einen wichtigen, wenn auch keinesfalls erstmaligen Kontrapunkt zu etablierten Darstellungen, welche die Konfrontation der französischen Landbevölkerung mit Moderne und Modernisierung zum Thema haben.1 Der auch hier immer wieder angeführte Kontext rasanter lebensweltlicher Veränderungen wäre bei dem einen oder anderen Fallbeispiel ausführlicherer Erläuterungen, gerade im lokalhistorischen Kontext, wert gewesen. Auch bezieht sich ein Großteil der Ausführungen auf das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts, in denen die folkloristischen Sammlungen entstanden sind. Positiv sticht hingegen hervor, dass die bereits angesprochenen, mit der Quellenart verbundenen methodischen Schwierigkeiten klar benannt und reflektiert werden. Auch wenn einige dieser aufgeworfenen Fragen und Probleme in dieser Studie noch nicht hinreichend gelöst werden können, gilt: „[…] if one does not make the attempt, then one condemns the peasant storyteller once more to silence and passivity, which would be the greater dereliction“ (S. 25).

Anmerkung:
1 Etwa der an der Modernisierungstheorie orientierte Klassiker von Eugen Weber, Peasants into Frenchmen. The Modernization of Rural France, 1870–1914, Stanford, Ca. 1976.