Titel
Bildungsrevolution 1770–1830.


Autor(en)
Bosse, Heinrich
Reihe
Reihe Siegen. Beiträge zur Literatur-, Sprach- und Medienwissenschaft 169
Erschienen
Anzahl Seiten
396 S.
Preis
45,00 EUR
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Simone Austermann, Fakultät 12 Erziehungswissenschaft und Soziologie, TU Dortmund

Heinrich Bosse begreift Bildung als Erlernen von Kulturtechniken. Diese Einschränkung und gleichzeitige Vereinfachung des Begriffs gegenüber beispielsweise eines neuhumanistischen, klassischen Bildungskonzepts, ermöglicht einen faszinierenden Einblick in die Lebenswelt des Bürgertums, in der die gravierenden Veränderungen, die sich im Kontext der Aufklärung im Bereich von Erziehung, Ausbildung und pädagogischer Kommunikation ereignen, zum kulturellen Wandel führen.

Ungewöhnlich, aber gut passend, beginnt Bosse sein Buch nicht mit einem einleitenden Kapitel, sondern mit einem Interview, das Nacim Ghanbari mit ihm geführt hat. Im Rahmen dieses Interviews werden die Hauptthesen des Buches kurz skizziert. Bosse fordert eine veränderte Forschungsperspektive im Kontext der Bildungsgeschichte. Aus seiner Sicht ist die Verzahnung von Bildungs- und Sozialgeschichte noch nicht hinreichend erfolgt. So würden Forschungslücken nicht aufgedeckt und Chancen zur Erkenntnisgewinnung verpasst. Die Lebenswelt des Gelehrten und seine soziale Stellung müsse – so Bosse – neu durchdacht werden, denn nur so könne die Selbstreflexion moderner Akademikerinnen und Akademiker in Bezug auf ihre professionsgeschichtliche Herkunft gelingen.

Ausgehend von der Beobachtung, dass im ausgehenden 18. Jahrhundert das Bedürfnis nach Wissen und damit auch nach Weiterbildung ansteigt und – nicht nur aufgrund fehlender Angebote – autodidaktisch befriedigt wird, zeigt Bosse die sich so verändernde Lebenswelt der Gebildeten an ausgewählten Beispielen. Sieben der zehn Kapitel wurden bereits zwischen 1978 und 2008 vom Autor veröffentlicht. Obwohl zwischen der Entstehung der einzelnen Artikeln viele Jahre liegen, stehen sie nicht – wie man vermuten könnte – lose nebeneinander, sondern sie sind inhaltlich miteinander verbunden und wurden – wo sinnvoll – mit Verweisen aufeinander versehen. Mit den drei ergänzenden, neuen Kapiteln, rundet Bosse seine Forschung zum Wandel der Lehr-Lernkultur in der sogenannten Sattelzeit ab.

Das Kapitel „Der Lehr- und Lernmarkt des Ancien Régime“ zeichnet den Lebensweg von Karl Heinrich (1764–1817), Sohn des protestantischen Pastors Konstantin Lang (1732–1770), anhand unterschiedlicher Quellen nach und hebt dabei verschiedene Lern- und Erfahrungssituationen als spezifische Bildungsstationen hervor. Eingebunden in diesen Lebenslauf zeigt Bosse anhand von weiteren regionalen Beispielen, wie typisch die einzelnen Bildungsmomente waren. Gleichsam nebenbei entfaltet der Autor so ein historisch genaues Bild der damaligen Bildungslandschaft. Er geht dabei auf die Bedeutung sozialer Beziehungen und das Patronat, die Umsetzung des Hausunterrichts im Gelehrtenhaushalt, Unterricht an der Universität, die finanziellen Verpflichtungen im Kontext einer Ausbildung, die Bildungslandschaft in Frankfurt am Main, typische Bildungsbiographien und auf die Relevanz einzelner ausgewählter Erziehungs- und Bildungstexte ein.

Das zweite Kapitel „Die moderne Bildungsreform“ behandelt die verschiedenen Aspekte, die den Wandel in der Bildungslandschaft und die Wahrnehmung von Bildungschancen und –wegen bedingten. Bosse geht dabei auf die Veränderung der schulischen und universitären Lerninhalte, die Alphabetisierung, die Anfänge der Nationalerziehung, die neuen pädagogischen Anforderungen an die (auch dadurch neu entstehenden) Schulen, die Bedeutung der Genies und die (Un-)Möglichkeit ihrer Ausbildung, die sokratische Lehrart, unterschiedliche Lebenssituationen der Gesitteten Stände, verschiedene Bildungsprogramme dieser Stände, ebenso auf die Bildung von Frauen und die sich wandelnden Lern- und Bildungssituationen innerhalb von Familien ein. Spannend sind die in diesem Kapitel angeführten globalen Verknüpfungen. Als Beispiel nennt Bosse eine Grenzregulierung in Uruguay, die in Europa Veränderungen im Ausbildungsprogramm des Jesuitenordens bewirkte.

Das letzte und dritte neue Kapitel „Die Verstaatlichung des Lernens“ beschreibt das nach 1800 beginnende flächendeckend staatlich organisierte Schulwesen. Die Planung und Durchführung akademischer Prüfungen und Zeugnisse sind dabei genauso Thema wie Wilhelm von Humboldts und Stuves Vorstellungen von Schule. Spannend ist Bosses Blick in die Gegenwart. Hier verlässt er seinen Forscherpfad und lässt seine persönliche Weltsicht zur Bildungslandschaft (eher –misere) durchscheinen. Ein Vorgehen, das diskussionswürdig ist, zumal der Durchmarsch durch die Entwicklungsgeschichte der deutschen Bildungslandschaft beim ungeübten Leser eher zur Verwirrung und normativen Beeinflussung denn zur objektiven Erkenntnisgewinnung führen kann.

Die anderen Kapitel zu den Themen „Die Einrichtung der Schiefertafel“, die „ Veränderung der Schulrhetorik nach 1770“, der „Autor als abwesender Redner“, ein „Erlaß des Ministers“ „zum Selbstdenken“, „Die Stunde der Autodidakten“ sowie „Gelehrte und Gebildete“ wurden bereits andernorts veröffentlicht. Die Titel sind dabei Programm: Besonders hervorzuheben ist der Artikel zur Schiefertafel, der ein lebendiges Bild der historischen Schulsituation zeichnet, das sich im Kontext der universitären Lehre hervorragend als ergänzendes Anschauungsmaterial eignet.

Bosses Forschungen und Kenntnisse sind detailliert und umfassend. Wie schon in den älteren Artikeln gewinnt er seine Erkenntnisse durch eine intensive Erforschung des Materials und setzt dabei auf umfassende Informationen. Er zeigt dabei nicht einfach, wie teuer ein Brot im Jahre XY war, sondern setzt den Preis in Bezug zu Lebenserhaltungskosten, Arbeitsstunden, Vergleichen zu anderen Berufen, Landstrichen. So entsteht ein lebendiges, manchmal alternativ interpretierbares Stück Geschichte. Gleichzeitig wird der Bedeutungswandel von Bildung, Bildungserwerb und Bildungsgütern deutlich und in Einzelfällen sogar messbar. Durch den – auch im Interview mit Ghanbari angesprochenen – narrativen Erzählstil ist das Buch einerseits eine spannende Geschichtsstunde für Laien, andererseits ein Fundus an historischen Informationen und Quellen für kenntnisreiche Leser.

Zunächst gewöhnungsbedürftig ist die Verwendung moderner Begriffe. Hier kann mindestens in Einzelfällen über die Passung diskutiert werden. So werden beispielsweise Erfahrungen, die Karl Heinrich (s.o.) durch biografische Umstände – eher zufällig – macht und erst in der Rückschau als Lernmoment ausmacht, als „learning by doing“ bezeichnet. Auch die Bezeichnung „Erziehungsunternehmer“ für Johann Bernhard Basedow und Joachim Heinrich Campe ist ebenso nachvollziehbar wie irreführend. Offen bleibt die Frage – sie wird im Kapitel über die moderne Bildungsrevolution als Widerspruch angerissen – wie das an Brauchbarkeit orientierte Erziehungsprogramm der Aufklärung (sowohl im pragmatischen Sinne Villaumes als auch im metatheoretischen Sinne Kants) mit einem genuinen Selbstlernkonzept zusammenpasst. Anders gefragt: Handelt es sich um eine autodidaktische Erlernung von Kulturtechniken, die aber nicht mit der freien Wahl der Kulturinhalte einhergeht? Und weiter: Ist dies dann Bildung?

Wie selbstverständlich integriert Bosse die Innovationen, Institutionen und Leitideen von Rousseau, Basedow, Goethe, Lessing, Zedlitz und anderen, ohne dabei ihre Bedeutung zu überhöhen. Sie stehen gleichberechtigt neben unbekannteren Personen und Ereignissen. So überzeugt das von Bosse gezeichnete Bild auf erfrischende Weise, ohne die üblichen (ausgetretenen) Argumentationspfade zu nutzen. Insgesamt ein aufschlussreiches Buch, das die Forschungsschwerpunkte des Autors dokumentiert und so einerseits die Möglichkeit zum Perspektivwechsel auf die Bildung um 1800 gibt und andererseits Ausgangspunkt für weitere Studien sein kann.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/