K.-S. Rehberg u.a. (Hrsg.): Abschied von Ikarus

Titel
Abschied von Ikarus. Bildwelten in der DDR – neu gesehen. Begleitband zur Ausstellung im Neuen Museum Weimar, 19. Oktober 2012 bis 3. Februar 2013


Herausgeber
Rehberg, Karl-Siegbert; Holler, Wolfgang; Kaiser, Paul
Anzahl Seiten
440 S.
Preis
€ 34,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Monica Rüthers, Historisches Seminar, Universität Hamburg

Mit der DDR ging auch ihr von dem Staatsmäzen dominiertes Kunstsystem unter. Die Nachlassverwaltung verlief zunächst chaotisch und auch längerfristig höchst emotional. „Staatskünstler“ aller Sparten, Musiker, Schriftsteller, Maler, wurden von den westdeutschen Medien abgeurteilt. Aber auch die nonkonformen, kritischen Künstler verloren mit der DDR ihren Echoraum – und wurden bald schlicht vergessen, wie im hier zu besprechenden Band „Abschied von Ikarus“ am tragischen Beispiel von Klaus Hähner-Springmühl (1950–2005) vor Augen geführt wird. Bildnerische Kunstwerke, die zuvor in öffentlichen Räumen, in Bildungsstätten und Betrieben allgegenwärtig gewesen waren, verschwanden in Depots, Kellern und Magazinen. Museumsausstellungen wurden umgehängt.

Der gewichtige Sammelband „Abschied von Ikarus“ entstand im Rahmen eines groß angelegten Verbundprojektes mit dem Titel „Bildatlas: Kunst in der DDR“, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanziert wurde und an welchem das Institut für Soziologie der Technischen Universität Dresden, die Galerie Neue Meister in den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, das Kunstarchiv Beeskow sowie das Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam beteiligt waren.1 Ziel dieses Dachprojekts war die Erstellung eines digitalen Bildatlasses der DDR, der 20.000 der archivierten und somit unsichtbaren Bilder und ihre „Biografien“, ihre Entstehungs- und Präsentationskontexte bis zum Weg ins Depot, nun der Forschung und der interessierten Öffentlichkeit online zugänglich macht. Der Band war zugleich der Katalog zur Weimarer Ausstellung „Abschied von Ikarus“, die von Oktober 2012 bis Februar 2013 zu sehen war. In der Ausstellung war ein Querschnitt aus dem Bildbestand zu sehen, der in den „Bildatlas“ aufgenommen wird. Die Herausgeber sind Beteiligte, Chronisten und kritische Reflekteure des deutsch-deutschen Bilderstreits um die DDR-Kunst, der die letzten 20 Jahre bewegte und dabei in gleitendem Übergang selbst zum Gegenstand der Forschung geworden ist. Dieser Streit um den Status der „DDR-Kunst“ als Auftrags- und Funktionskunst und um die Stars unter den „Staatskünstlern“ zog sich über zahlreiche Stationen hin. Ehemalige Oppositionelle und Ausgebürgerte, Opfer des Kunstbetriebs, beglichen alte Rechnungen mit den „Malerfürsten“. Doch auch diese hatten nicht immer bruchlose Karrieren gehabt, wie etwa das Beispiel von Werner Tübke zeigt. Die Ausstellungen zur „DDR-Kunst“ markierten Stationen der Debatte. Sie wurden, wie der Fall der 1999 in Weimar kuratierten Schau „Aufstieg und Fall der Moderne“ zeigte, von den Medien gerne zu Skandalausstellungen stilisiert. Die Weimarer Ausstellung verfolgte das Anliegen, im Ausstellungsgeschehen um den Bilderstreit einen differenzierenden wie integrierenden Schlusspunkt zu setzen.

Karl-Siegbert Rehberg bezeichnet in seiner Einleitung zum Katalog den deutsch-deutschen Bilderstreit als Stellvertreterdiskurs, dessen Analyse Aufschlüsse über die tiefer gehenden Konflikte zwischen den beiden deutschen Ländern geben könne. Das erscheint plausibel und passt auch zur fortgeschrittenen Historisierung des Diskurses, die von den Herausgebern in einem fast zeitgleich mit dem besprochenen Ausstellungskatalog erschienenen Sammelband zum Bilderstreit vorgenommen wird.2 „Heute wird ein anderer, durch Forschungen und den zeitlichen Abstand erweiterter Blick auf die Vielschichtigkeit künstlerischen Schaffens in der DDR, aber auch auf die sich wandelnde Funktion der Künste während der vierzig Jahre ihres Bestehens möglich“, schreiben die Herausgeber im Vorwort zum Ausstellungskatalog.

Dominante Kunstdoktrinen gab es in beiden deutschen Staaten. Sie lassen sich nur aus dem Systemwettstreit des Kalten Krieges heraus verstehen. Daraus ergab sich jedoch keineswegs automatisch auch Einheitskunst. Ausstellung und Katalog eröffnen eine äußerst differenzierte Sichtweise auf die Kunst, die in der DDR geschaffen wurde, nicht zuletzt durch den genauen Blick auf ganz unterschiedliche Künstlertypen und Haltungen. Die Weimarer Ausstellung sollte weniger die Einzigartigkeit jedes Werkes, sondern vor allem dessen Einbettung in die Kunstentwicklung in der DDR zeigen. Sie präsentierte Bilder aus der vierzigjährigen Geschichte der DDR, und zwar die inoffizielle Kunst neben derjenigen offiziell anerkannter und geförderter Maler, Autodidakten neben Akademikern, Randfiguren neben international erfolgreichen Künstlern. Die Hängung war nicht hierarchisch, mit offenen Grenzen: Hier wurden keine Urteile über Kunst und Nichtkunst gefällt, sondern es entstand ein Bilderteppich, eine visuelle Grundierung der DDR, ein Abbild nicht nur des Zentrums des Kunstsystems, sondern auch von dessen Nischen und ausgefransten Rändern. Die Kuratoren waren sich wohl der Unmöglichkeit bewusst, es allen recht zu machen. Den Bilderstreit und seine Positionen konnten sie nicht hinter sich lassen: Die nonkonformen Künstler mussten die Ausstellung der Werke ehemals privilegierter Staatskünstler wie Werner Tübke, Bernhard Heisig, Wolfgang Mattheuer und Willi Sitte als Affront, wenn nicht Rehabilitierung betrachten, während die Ausstellungsmacher weder in die pauschale Aburteilung der „DDR-Kunst“ als „Staatskitsch“ einstimmen, noch den Staat als erfolgreichen Kunstmäzen feiern wollten. Man musste als Besucher allerdings über viel Vorwissen verfügen, um die Schau verstehen, die Hängung nachvollziehen zu können.

Der Katalog bietet vor allem Vertiefung, aber auch Orientierung innerhalb des 40-jährigen Kunstbetriebs der DDR. Er gliedert sich nach Rehbergs Einleitung in thematisch-chronologische Abschnitte: „Aufstieg und Fall des Ikarus“, „Neu erstanden aus Ruinen“, „Vom Ich zum Wir“, „Die technokratische Utopie“, „Die Mühen der Ebene“ und „Absturz des Ikarus“. Drei bis sechs Beiträge zur Kunstpolitik, zu exemplarischen Künstler- oder Werkbiografien, zu Motivgeschichten und zu Institutionen des Kunstlebens der DDR erzeugen in den einzelnen Abschnitten jeweils eigene thematische Spannungsbögen. Diese Bögen umfassen den Aufbruch in die Utopie und die Versuche, die ostdeutsche Bevölkerung und die Künstler für das sozialistische Projekt zu mobilisieren, aber auch das ambivalente Verhältnis der Kulturpolitik zur Nachkriegs-Moderne zwischen Anknüpfen an die Traditionen der Weimarer Zeit, Abgrenzung vom „Westen“ und sowjetischem Stilvorbild. Eindrücklich wird diese Kunstpolitik an Biografien von Künstlern nachgezeichnet, die ihre Karriere in der Weimarer Zeit begonnen hatten. Dazu gehörte Hermann Glöckner (1889–1987), der sich als abstrakter Künstler seine Unabhängigkeit bewahrte. Ein weiteres Beispiel war Curt Querner (1904–1976), Arbeiterkind und Vertreter der Neuen Sachlichkeit. Doch die Werktätigen sollten sich den bürgerlichen Bildungskanon der deutschen Klassik aneignen, die Künstler in die Welt der Arbeiter eintauchen. Auf dem Bitterfelder Weg absolvierten die Künstler nicht nur Praktika und diskutierten ihre Skizzen mit den Werktätigen, den neuen Auftraggebern der Kunst, sondern gingen häufig langfristige Bindungen zu Betrieben ein. Manchen Arbeitern wie Willi Neubert (1920–2011) eröffneten sich Wege zur Kunst als Beruf. Die DDR wurde in den 1950er- und 1960er-Jahren im sozialistischen Vergleich ein erfolgreiches Musterland mit bescheidenem Wohlstand und wachsenden Ansprüchen. Auf die technokratische Utopie, die Schalttafeln und das Kosmosfieber in den Bildwelten der frühen 1960er-Jahre folgte jedoch bald der Abschied von den hochfliegenden Plänen der revolutionären Avantgarde. Die Verschiebungen in den Darstellungen von Heldinnen und Helden der Arbeit dokumentieren diesen Prozess. Deren Entheroisierung ging einher mit der Trivialisierung des sozialistischen Projektes. Die DDR rieb sich nicht zuletzt durch den ständigen Vergleich mit der anderen Hälfte Deutschlands und die wachsende Kluft zwischen Erfolgsversprechen und Alltagsrealität auf. In der Spätzeit waren die künstlerischen Bildwelten – im spannungsvollen Gegensatz zu den Jubeldiskursen in den DDR-Medien – bevölkert von Wartenden mit oder ohne Koffer, von Resignierten, Mutlosen oder aber von ekstatisch Feiernden. Die Ikarus-Figur ist eine mit Bedacht gewählte Metapher, denn mythische Figuren boten zu DDR-Zeiten beliebte Muster für Selbststilisierungen, aber auch für hintergründige Kritik.

Wenige Leerstellen fallen auf: Die Arbeiterinnen und Arbeiter sind im Band als Auftraggeber, Zielgruppe und Helden der Kunst allgegenwärtig, dennoch bleiben sie als Kunstkonsumenten seltsam ausgeblendet. Rezeptionsgeschichte bezieht sich auf die offiziellen Organe der Kunstpolitik, nicht auf die Besucherbücher der Ausstellungen. Eine weitere Leerstelle sind, abgesehen von Josep Renau, Künstlerkontakte ins sozialistische Ausland. War dies kein Referenzraum, gab es keine Reisen? Schließlich müsste man bei der Darstellung künstlerischer Gegenkulturen und informeller Galerien darauf hinweisen, dass die DDR kritische Künstler brauchte und förderte, weil diese im Westen besonders wahrgenommen wurden und dem internationalen Prestige förderlich waren. Dass reine Staatskunst und ein Kulturleben ohne „Untergrund“ provinziell wären, hatte man auch in der DDR bemerkt. Auch im Land selbst dienten die informellen Ateliergemeinschaften und ihre Ausstellungen als kontrollierte Ventile, aber auch als Beweise der Freiheit und Weltläufigkeit.

Insgesamt ist der Band ein Meilenstein. Den durchweg fundierten und differenzierten Beiträgen, die von ausgewiesenen Kennerinnen und Kennern der Materie verfasst wurden, gelingt weit mehr als nur „das Spannungsverhältnis von unüberwindbarer Stagnation und unabwehrbarem Wandel“ (S. 25) verständlich zu machen. Sie durchleuchten die hinter den Bildern liegenden Prozesse und Herrschaftsverhältnisse, auf welche die Bilder verweisen.

Anmerkungen:
1 Mehr dazu auch bei Anna Littke / Anja Tack, Das Forschungsprojekt „Bildatlas“. Entstehungskontext und Ziel des Projekts, in: Zeitgeschichte-online, Oktober 2011 (<http://www.zeitgeschichte-online.de/kommentar/das-forschungsprojekt-bildatlas> [16.05.2013]) sowie auf der Webseite <http://www.bildatlas-ddr-kunst.de/> (16.05.2013).
2 Klaus-Siegbert Rehberg / Paul Kaiser (Hrsg.), Bilderstreit und Gesellschaftsumbruch. Die Debatten um die Kunst der DDR im Prozess der deutschen Wiedervereinigung, Kassel 2012.

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