H. Blomqvist u.a. (Hrsg.): Efter guldåldern

Titel
Efter guldåldern. Arbetarrörelsen och fordismens slut


Herausgeber
Blomqvist, Håkan; Schmidt, Werner
Erschienen
Stockholm 2012: Carlsson Bokforlag
Anzahl Seiten
Preis
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael März, Gotha

Unter dem Kürzel „Arioso“1 wird an der Stockholmer Södertörns Högskola seit 1997 ein zeithistorisches Forschungsprojekt zur Arbeiterbewegung im Ostseeraum vorangetrieben. Ausgehend von Eric Hobsbawms Charakterisierung des kurzen 20. Jahrhunderts als „Zeitalter der Extreme“, widmen sich Historiker wie Kjell Östberg und Lars Ekdahl der Frage, wie Sozialismus und Kommunismus, als ideologische Strömungen der Arbeiterbewegung, zwischen dem Ersten Weltkrieg und dem Zusammenbruch des Ostblocks die gesellschaftliche Entwicklung in Schweden und anderen Ostseeanrainerstaaten prägten.

In dem Sammelband „Efter guldåldern“ haben Håkan Blomqvist, als Geschäftsführer der Samtidshistoriska Institutionen (Institution für Zeitgeschichte), und Werner Schmidt, als einer der Initiatoren Ariosos, sechs Aufsätze zusammengetragen, die die ersten beiden Projektphasen zusammenfassen und zugleich die Überleitung zu einer dritten bilden. Der Titel des Bandes greift bereits auf diese Phase vor: Zwischen 2013 und 2014 werden im Rahmen von Arioso vier Teilstudien zur „Arbeiterbewegung im Ostseeraum – in einer neuen Welt von Krisen und Unsicherheit (1970 bis 2010)“ entstehen. Damit wird das gesamte Projekt am Ende drei Epochen abdecken – einschließlich des „Zeitalters der Katastrophen“ von 1914 bis 1945 und des „Goldenen Zeitalters“ (schwed. „guldålder“) der sozialen Revolution von 1945 bis 1975.

Die grundlegende Frage des Bandes lautet: Spiegelt sich die übergreifende Periodisierung Hobsbawms in der Geschichte der schwedischen Arbeiterbewegung und des Wohlfahrtsstaats wider? Und im Speziellen: Bestätigt sich die These, wonach das Goldene Zeitalter des Kapitalismus mit der Ära des Fordismus2 zusammenfiel, am Beispiel Schwedens? Bildeten die 1950er bis 1970er Jahre im Hinblick auf die wirtschaftliche, industrielle und soziale Entwicklung eine exzeptionelle Phase der neueren schwedischen Geschichte?

Die Beiträge von Håkan Blomqvist, Samuel Edquist, Lars Ekdahl, Mats Lindqvist, Werner Schmidt und Kjell Östberg nähern sich der Fragestellung aus verschiedenen Perspektiven an, zum Teil tragen sie leider sehr wenig zu ihrer Aufhellung bei. Insbesondere Blomqvists Destillat einer umfassenden Studie zum sowjetischen Kinderheimsystem weist kaum erkennbare Bezüge zu den Ausgangsfragen auf, wenn man von sporadisch eingestreuten Vergleichen zwischen der sowjetischen Wirtschafts- und Konsumpolitik und dem westlichen Fordismus absieht. Sie kommen aber letztlich nicht über die wenig überraschende Schlussfolgerung hinaus, dass die Annäherung beider Systeme in den 1970er Jahren einen unterminierenden Austausch mit sich brachte, der eher Verschiedenheit als Ähnlichkeit illustriert.

Einen substantiellen Beitrag zum gesamten Projekt wie zur Historisierung des Schwedischen Modells liefert Werner Schmidt, der das Abkommen von Saltsjöbaden zwischen dem Schwedischen Gewerkschaftsdachverband und dem Schwedischen Arbeitgeberverband noch einmal gründlich kontextualisiert und die direkte Linienziehung zwischen der sozialdemokratischen Politik der 1930er Jahre und dem Wohlfahrtsprojekt der Nachkriegsjahrzehnte kritisch hinterfragt. Entgegen der etablierten Selbsterzählung der schwedischen Sozialdemokratie sieht er das Abkommen nicht als Ergebnis eines von Staats wegen beschworenen korporativen Geistes, der bruchlos bis in die 1960er Jahre fortdauerte. Vielmehr sei das Abkommen als Meilenstein im Prozess der Formierung einer bürgerlichen Hegemonie zu bewerten. Denn es war die Arbeitgeberseite und somit die finanzielle und ökonomische Elite, die das Abkommen zuließ, während die Gewerkschaften der Verlockung nachgaben, sich von ihrem politischen Zwillingsbruder zu emanzipieren, und ein korporatives System ohne staatliche Eingriffe akzeptierten.

In seinem Essay zur Demokratisierungsstrategie der schwedischen Arbeiterbewegung greift Lars Ekdahl den Kerngedanken Schmidts auf und erinnert daran, dass das korporative Zusammenwirken zwischen Arbeitnehmern und Gewerkschaften den Staat in eine neue Rolle gedrängt hatte: So war er seit den 1930er Jahren nicht länger das Instrument der Arbeiterbewegung, um die Machtverhältnisse zu ihren Gunsten zu verändern. Er bildete vielmehr eine „Arena für korporative Kontakte“3.

Ekdahl nimmt diese Beobachtung zum Anlass, die in der Nachkriegszeit formulierte dreistufige Strategie der Arbeiterbewegung zur politischen, sozialen und wirtschaftlichen Demokratisierung zu hinterfragen. Zwar habe die Sozialdemokratie ihr politisches Übergewicht in den 1950er Jahren genutzt, um mit der „starken Gesellschaft“ einen wichtigen Schritt zur Verwirklichung der sozialen Demokratie zu vollziehen. Die Demokratisierung des Arbeitslebens sei ihr jedoch aus den Händen geglitten. Ekdahl sieht eine entscheidende Ursache darin, dass die Stärkung der Arbeitnehmerposition weitgehend dem Verhandlungsgeschick der Gewerkschaften überlassen worden sei, welche das korporative System vor allem dazu genutzt hätten, Vollbeschäftigung zu schaffen. Die Sozialdemokraten hätten dieses Vorhaben ihrerseits mit dem Ausbau des öffentlichen Sektors unterstützt – mit der ungünstigen Folge, dass man sich unglaubwürdig und angreifbar gemacht habe: Die Kehrseite der Vergesellschaftung eines Großteils des Wirtschaftslebens waren Rationalisierungs- und Zentralisierungstendenzen, die in administrativen und gewerkschaftlichen Strukturen vorangetrieben wurden. In den 1960er und 1970er Jahren sah sich die Arbeiterbewegung deshalb der liberalen Kritik ausgesetzt, dass der öffentliche Sektor weniger demokratisch kontrollierbar sei als das „freie“ Wirtschaftsleben. Der antiautoritäre Zeitgeist lag mit einem Staatswesen über Kreuz, das sich nach außen abschottete und vor den Bürgern zurückzog.

Als weiteres Hindernis für die soziale und wirtschaftliche Demokratisierung sei Mitte der 1970er Jahre das Ende des Fordismus angebrochen, mit dem sich die Machtverhältnisse zwischen Staat, Gewerkschaften und Wirtschaft veränderten und der Handlungsspielraum der Arbeiterbewegung schwand. Innere Widersprüche, die sich in endlosen programmatischen Diskussionen äußerten – immer wieder genanntes Beispiel sind die Arbeitnehmerfonds –, hätten die Bewegung schließlich gespalten. In den 1980er Jahren hätten sich die Sozialdemokraten schließlich mit ihrer „Politik des Dritten Weges“ von vielen alten Grundsätzen verabschiedet und die Demokratisierung des Wirtschaftslebens praktisch aufgegeben. Am Ende des Goldenen Zeitalters stelle sich deshalb die Frage, ob das gesamte Demokratisierungsprojekt der Arbeiterbewegung weitgehend gescheitert sei. Ekdahl regt sogar dazu an, in zukünftigen Studien die Prägekraft der sozialdemokratischen Ära zu hinterfragen: Konnte sie die Entwicklung der schwedischen Gesellschaft entscheidend beeinflussen? Was haben Politik und Gewerkschaften überhaupt aus eigener Kraft erreicht?

Einen ähnlich kritischen Blick auf die sozialdemokratische Ära wirft Kjell Östberg in seinem Beitrag zum Umgang der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SAP) mit der intellektuellen Elite. Habe die Partei sich in den Aufbruchsjahren noch gezielt mit „Arbeiterintellektuellen“ verstärkt, sei es in den späten 1960er Jahren zu einem klaren Bruch mit dieser Strategie gekommen, als sich die SAP öffentlich-verbal wie intern-organisatorisch gegenüber der Studentenbewegung abschirmte. Wie bei den bundesdeutschen Sozialdemokraten gab es Parteiausschlussverfahren gegen Mitglieder vom äußersten linken Flügel. Die SAP-Spitzen hätten aus ihrer Abneigung gegen die jungen Intellektuellen kein Geheimnis gemacht. Eine ideologische Auseinandersetzung mit ihnen, gleich in welcher Form, sei für sie nicht infrage gekommen. Östberg betont, dass es sich dabei um einen Dauerzustand handelte: Selbst die Anfänge der Neuen Sozialen Bewegungen, an denen nicht wenige Nachwuchsakademiker teilhatten, betrachtete die Partei als radikales Aufbegehren und diskreditierte Protestaktionen mit schlichter antikommunistischer Rhetorik.

Die Folge dieses konsequenten Unwillens, sich gegenüber den Reformvorschlägen einer neuen Generation von Bewegungsintellektuellen zu öffnen, war zum einen das Erlahmen des linken Flügels zugunsten des rechten, was sich darin äußerte, dass zu Beginn der 1980er Jahre zunehmend die „Kanzleihausrechten“ die politischen Leitlinien der SAP vorgaben – vor allem in persona der bürgerlichen Ökonomen um Klas Eklund. Zum anderen versiegte langfristig der intellektuelle Input von Geistes- und Staatswissenschaftlern, sodass die Partei seit den 1990er Jahren an in einer Ideen- und Profillosigkeit leidet, die selbst Kjell-Olof Feldt, als bekennender Pragmatiker und Erfolgspolitiker der 1980er Jahre, neuerdings kritisiert4.

Östberg sieht in dieser Entwicklung eine schwedische Besonderheit: Im Unterschied zu den meisten sozialdemokratischen Parteien in Europa habe die SAP die Kluft zu den Bewegungsintellektuellen niemals überbrückt. Auf die zwangsläufige ideologische Umorientierung zum Neoliberalismus sei in den 1990er Jahren eine marktangepasste staatliche Verwaltungspolitik gefolgt, die die SAP heute weitgehend ohne die Teilhabe Intellektueller zu reformieren sucht.

In der Gesamtschau lässt der Band ein deutlich resignatives Bild der schwedischen Zeitgeschichte entstehen – nach dem Muster einer klassischen Aufstieg-und-Fall-Geschichte. Dieses Bild bricht sich stark mit jenem, das die hierzulande quasi bis heute andauernde Erzählung vom schwedischen Erfolgsmodell schuf. Eine solche Diskrepanz in Selbst- und Fremdwahrnehmung sollte nachdenklich stimmen und bei der Forschung zur schwedischen und deutschen Geschichte nach 1990 unbedingt berücksichtigt werden.

Anmerkungen:
1 Die Abkürzung steht für: „Arbetarrörelsens roll i Östersjöområdet. Idéströmningar, vägar till inflytande och betydelse för samhällsutvecklingen under det ’korta’ 1900-talet“ [Die Rolle der Arbeiterbewegung im Ostseeraum. Ideeströmungen, Einflussmöglichkeiten und Bedeutung für die Gesellschaftsentwicklung während des ‚kurzen’ 20. Jahrhunderts].
2 Einleitend erklären die Herausgeber, dass der Begriff „Fordismus“ in der schwedischen Forschung hauptsächlich von Wirtschaftshistorikern verwendet werde, um ein technisch-ökonomisches Paradigma zu beschreiben. Innerhalb des Arioso-Projektes diene er jedoch dazu, die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit zu analysieren. Man gehe dabei von Antonio Gramscis Vorstellung von einem „atlantischen Fordismus“ aus, der sich nach dem Zweiten Weltkrieg unter der US-amerikanischen Hegemonie in räumlich getrennten, nationalen Konfigurationen formierte – so auch in Schweden.
3 Der Begriff „Harpsundsdemokratie“ ist eine Umschreibung dafür, dass entscheidende wirtschaftspolitische Fragen in einer Serie von informellen Spitzengesprächen zwischen Regierung und Verbänden beraten wurden. Harpsund ist eine Residenz der schwedischen Ministerpräsidenten in Mittelschweden.
4 Kjell-Olof Feldt, En kritisk betraktelse om Socialdemokratins seger och kris [Eine kritische Betrachtung über Sieg und Krise der Sozialdemokratie], Stockholm 2012, S. 150: „Auf der Jagd nach medialer Aufmerksamkeit wirft man mit Vorschlägen und Versprechen um sich und ist erst danach bemüht, sie mit Inhalten zu füllen. Eine Möglichkeit, diese Reihenfolge umzukehren, läge darin, die Zahl der Kommunikatoren zu verringern und die Zahl der Analytiker (mit kritischer Ader) in Partei und Fraktionskanzlei zu erhöhen.“ (Übersetzung M.M.)

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