T.G. Otte: The Foreign Office Mind

Cover
Titel
The Foreign Office Mind. The Making of British Foreign Policy, 1865–1914


Autor(en)
Otte, T. G.
Erschienen
Anzahl Seiten
xiii, 437 S.
Preis
€ 84,85
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Markus Mößlang, Deutsches Historisches Institut London

T.G. Otte, Professor of Diplomatic History an der University of East Anglia und einer der besten Kenner der Geschichte britischer Außenpolitik, legt mit „The Foreign Office Mind“ keine Diplomatiegeschichte im traditionellen Sinne vor. Wie er seinem Buch vorausschickt, geht es ihm nicht um das Ausloten bilateraler Beziehungen mit einem bestimmten Land oder um die Rekonstruktion von Entscheidungsprozessen während einer bestimmten diplomatischen Krise (S. ix). In der Tat: Ottes Hauptanliegen ist nicht die Neubewertung der wechselhaften britischen Staatenbeziehungen im halben Jahrhundert vor dem ersten Weltkrieg, sondern ein Blick hinter die Kulissen britischer Außenpolitik. Der Fokus liegt dabei auf den Diplomaten und höheren Beamten des Foreign Office, also jener Personengruppe, die in der Geschichte der internationalen Beziehungen zwar ihren angestammten Platz hat, doch oftmals in die zweite Reihe hinter die jeweiligen Außenminister und Kabinettsentscheidungen tritt. An ihrer Bedeutung lässt Otte keinen Zweifel: „Senior diplomats were not merely clerical underlings or superannuated telegraph boys in gold lace.“(S. 395) Die Diplomaten schufen und verkörperten vielmehr das Repositorium auf das das Foreign Office als „knowlegde-based organization“ (S. 5) zurückgreifen konnte und waren als „guardians of the national interest“ (S. 194) auch über die einzelne Person hinaus wirkungsmächtige Gestalter. Der Schlüssel zu ihrer Bedeutung liegt, so Otte im Anschluss an frühere Autoren, die in ihren Erklärungen britischer Außenpolitik ein handlungsleitendes ‚official mind‘ anführen, in den „underlying principles and the élite perceptions that shaped British foreign policy during the second half of the long nineteenth century.“ (S. ix)

Thomas Otte geht diesem von den Diplomaten und Beamten getragenen ‚Foreign Office mind‘ auf Grundlage eines beeindruckenden Quellenkorpus, insbesondere der Auswertung umfangreicher Privatkorrespondenzen, erstmals detailliert nach. Das ‚Foreign Office mind‘, ein zeitgenössischer Begriff, den nicht zuletzt Kritiker des diplomatischen Arkanums verwandten, fußte, so die zugrundeliegende Annahme, auf der sozialen Homogenität der Foreign-Office-Angehörigen und ihrer insbesondere durch die Public Schools vermittelten Gentleman-Mentalität. Ohne sich allzu sehr mit der methodischen Problematik dieses schwer durchdringbaren Amalgams aus Wertvorstellungen, Korporationsgeist und institutioneller Binnenlogik aufzuhalten, wird das stets in Anführungszeichen gesetzte ‚Foreign Office mind‘ zur Hauptfigur des Buches, deren Wesen und Wandel Otte in einem dichten Parforceritt durch die internationalen Beziehungen zwischen dem Tod Lord Palmerstons im Jahr 1865 und der Julikrise 1914 verfolgt. Zu den ausgesprochenen und unausgesprochenen ‚Grundannahmen‘ des ‚Foreign Office mind‘, die die Bewertungen außenpolitischer Konstellationen durchziehen, gehörten unter anderem die Überzeugung von britischer Vormachtstellung, National Honour und Prestige, der globale Charakter britischer Interessen, die Bedeutung des europäischen Gleichgewichts, der Nutzen von Geschichte und historischen Präzedenzfällen, die Wichtigkeit fiskalischer und innenpolitischer Stabilität sowie die Exklusivität der diplomatischen Sphäre jenseits von Parteipolitik, Öffentlichkeit und Presse.

Die Schilderungen der internen Debatten verdeutlichen, dass es bei alldem Raum für Widersprüche und unterschiedliche Meinungen gab. So ist etwa auffällig, dass Diplomaten tendenziell mit ihrem Gastland sympathisierten und entsprechend gefärbte Empfehlungen gaben. Dies trifft unter anderem für die britischen Botschafter in Berlin zu, etwa für Odo Russel während der Krieg-in-Sicht-Krise 1875 oder den vergleichsweise entspannten Frank Lascelles nach Kaiser Wilhelms Krüger-Depesche im Jahr 1896. Für den Bewertungshorizont des ‚Foreign Office mind‘ wichtiger als derartige ‚individuelle‘ Dispositionen waren die unterschiedlichen Generationserfahrungen der Diplomaten – sie stellen zugleich ein Organisationsprinzip der chronologischen Gliederung des Buches dar. Bis in die 1870er-Jahre waren so Diplomaten aktiv, deren außenpolitische Weltsicht durch Lord Palmerston geprägt war. Im Unterschied zu der nachfolgenden Generation, den ‚high-Victorians‘, die ab Mitte der 1870er-Jahre auf die hohen Botschafter- und Beamtenposten nachrückten, waren die ‚Palmerstonians‘ Anhänger einer strikten non-interference-Politik. Die auf die ‚high Victorians‘ folgenden ‚Edwardians‘ wiederum hatten ihre formative Phase in der Zeit des Wandels europäischer Mächtekonstellationen in den 1890er-Jahren. Laissez faire war ihre Sache nun nicht mehr. Ihr beruflicher Werdegang war überdies von den innenpolitischen Debatten um ‚National Efficiency‘ geprägt, in deren Zusammenhang auch die institutionellen Reformen des Foreign Office 1905/6 zu sehen sind.

Es gehört zu den großen Stärken des Buches, dass das ‚Foreign Office mind‘ und die zugrundeliegenden Generationserfahrungen mit den inneren Entwicklungen des Außenministeriums und des diplomatischen Dienstes verknüpft werden. Wenn auch für den mit den institutionellen Gegebenheiten des Foreign Office weniger vertrauten Leser nicht immer ganz leicht zu durchdringen, ist die Souveränität, mit der Otte durch Interna führt, beeindruckend. Hervorzuheben sind hier etwa die Ausführungen zu den in ihrer Bedeutung kaum zu überschätzenden Permanent und Assistant Under-secretaries oder die Schilderungen zu den innenpolitischen Konstellationen, denen sich die Angehörigen des Foreign Office ausgesetzt sahen. Besonders deutlich wird so etwa das Beharren auf parteipolitische Unabhängigkeit und außenpolitische Kontinuität während der letzten Gladstone Administration (1892–1994).

Im Zusammenhang mit dem von Otte entworfenen Generationenkonzept nicht weniger wichtig sind die einführenden Abschnitte der sechs Hauptkapitel, in denen die zentralen Personalentscheidungen im diplomatischen Dienst geschildert werden. Phasen, wie zwischen 1891 und 1896, als alle bedeutenden Botschafterposten neu besetzt wurden, waren dabei die Ausnahme. Das Nachrücken der neuen außenpolitischen Eliten war in erster Linie von demographischen Faktoren und dem Senioritätsprinzip bestimmt. Die Abgrenzungen zwischen den von Otte veranschlagten Generationen bleiben damit zwangsweise fluide und vermischen sich auch in der Darstellung. Dies gilt umso mehr, als die Blütezeit der einen Generation die Formationsphase der nächsten war – zu grundlegenden Brüchen kam es dabei nicht. Die Unterschiede zwischen den Generationen waren, so fasst Otte zusammen, vielmehr „nuances within a broader stream of continuity in foreign policy thinking.”(S. 407)

Wenn Otte vor diesem Hintergrund von grundsätzlichen Überlegungen zur Existenz einer spezifischen Diplomatie der Generationen absieht1, so spiegelt dies die Binnenperspektive, die er über das gesamte Buch hinweg einnimmt. Es geht ihm weniger darum, das ‚Foreign Office mind‘ zu dechiffrieren oder nach ‚seinen‘ Grenzen zu fragen, als ‚seine‘ Haltung zu außenpolitischen Prozessen und Ereignissen über das halbe Jahrhundert vor dem Ersten Weltkrieg hin zu präsentieren. Dass ihm dies mit großem Gewinn für den Leser gelingt, ist nicht zuletzt auch auf die analytische Klarheit und die bemerkenswerte Offenheit der zitierten Diplomaten zurückzuführen. Das reichlich und vielfach erstmals verwendete Quellenmaterial macht das Buch zu einer unverzichtbaren Fundgrube für jeden, der sich mit der Gedankenwelt britischer Diplomaten vor 1914 befasst.

Für die Suche nach dem ‚Foreign Office mind‘ ist die Konzentration auf die Zeugnisse der diplomatischen Elite dennoch nicht unproblematisch: weniger weil die selbstaffirmativen Positionen der inneren Logik eines auf Konsens beruhenden Ministeriums entsprechen, sondern weil sie – zumindest tendenziell – den Blick auf diskursive Zusammenhänge britischer Außenpolitik verstellen. Fragen nach fehlenden Anpassungsleistungen, wie sie etwa in der Geringschätzung von Konferenzdiplomatie oder der reflexhaften Abwehr von öffentlicher Meinung offenbar wurden, werden in der Darstellung eher beiläufig behandelt. Ein systematischerer Zugriff hätte hier dem Phänomen des ‚Foreign Office mind‘ zusätzliche Tiefenschärfe geben können. Entsprechendes gilt auch für die Auswirkungen zunehmender Bürokratisierung im Inneren oder die Rolle informeller Netzwerke. Der Travellers Club – „the haunt of diplomats in Clubland“ (S. 328) – wird etwa nur an einer Stelle erwähnt. Trotz der akteurszentrierten Perspektive, dem Interesse an mentalen und kulturellen Prädispositionen, an Erfahrungshintergründen und Perzeptionsmustern, dem Trend einer kulturgeschichtlichen Erweiterung der Geschichte der internationalen Beziehungen folgt Otte damit nicht. „The Foreign Office Mind“ ist viel eher die konsequente – und spezifisch britische – Fortschreibung eines traditionellen offical-mind-Ansatzes, in der außenpolitische Ereignisse und nicht die gesellschaftsweltliche Kontextualisierung internationaler Beziehungen im Mittelpunkt des Interesses stehen. Als Leser tut man gut daran, sich darauf einzulassen.

Anmerkung:
1 Vgl. dazu unlängst Sönke Neitzel, Diplomatie der Generationen? Kollektivbiographische Perspektiven auf die Internationalen Beziehungen 1871–1914, in: Historische Zeitschrift 296 (2013), S. 84–113.