J.F. Landau: Wir bauen den großen Kuzbass!

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Titel
Wir bauen den großen Kuzbass!. Bergarbeiteralltag im Stalinismus 1921–1941


Autor(en)
Landau, Julia Franziska
Reihe
Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa 80
Erschienen
Stuttgart 2012: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
381 S.
Preis
€ 57,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dietmar Neutatz, Historisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Die Stalinismusforschung hat schon seit geraumer Zeit den „sozialistischen Aufbau“ der frühen Sowjetunion entzaubert. „Wir bauen den großen Kuzbass!“ war eine derjenigen Parolen, mit denen die sowjetische Propaganda einen enthusiastischen Kraftakt der Bevölkerung suggerierte, eine gemeinsame Anstrengung, die das Land der angestrebten Verwirklichung der kommunistischen Utopie näher bringen sollte. Julia Landau nimmt diese Parole zum Ausgangspunkt einer profunden alltagsgeschichtlichen Analyse, die der propagandistischen Suggestion die ernüchternde Realität gegenüberstellt. Sie interessiert sich dafür, auf welche Schwierigkeiten und Widerstände die wirtschaftlichen Modernisierungsbestrebungen des Regimes auf der lokalen Ebene stießen, unter welchen Bedingungen die Menschen lebten, wie sie den gesellschaftlichen, ökonomischen und kulturellen Wandel der dreißiger Jahre wahrnahmen, welche Handlungsmöglichkeiten sie hatten, wie sich ihre Lebenswelt darstellte.

Die schon bestehende Forschung zu den Arbeitern in der Sowjetunion der dreißiger Jahre ergänzend, legt sie erstens besonderes Augenmerk auf die lokale Perspektive eines Fallbeispiels weit abseits der Hauptstadt. Zweitens möchte sie das bislang vernachlässigte Ineinandergreifen von Terror und Arbeitsalltag untersuchen, nach der Spezifik der Ausprägung des Terrors in der Untersuchungsregion fragen und drittens zwischen männlichen und weiblichen Lebenswelten stärker differenzieren. Die in Bochum als Dissertation angenommene Arbeit beruht auf einer breiten Quellengrundlage. Die Verfasserin hat nicht nur in den Moskauer Zentralarchiven recherchiert, sondern in großem Umfang Material aus den regionalen Archiven herangezogen und zusätzlich zahlreiche Interviews durchgeführt.

Das Kuzbass (Kuznecker Becken) in Westsibirien ist das größte Kohlerevier Russlands und zugleich eines der größten schwerindustriellen Zentren der Welt. Es wurde in einer bis dahin nur dünn besiedelten Gegend in den dreißiger Jahren aus dem Boden gestampft, so wie während der ersten Fünfjahrespläne auch anderswo in der Sowjetunion mit hoher Priorität und Ressourcenkonzentration gigantische schwerindustrielle Komplexe als Modernisierungsinseln geschaffen wurden.

Nach einem ersten Kapitel über die Entdeckung und anfängliche Erschließung des Kuzbass beschreibt die Verfasserin, wie das Unternehmen seit 1928 vorangetrieben wurde. Sie nähert sich dem Thema zunächst wirtschafts- und unternehmensgeschichtlich, um bald zur Frage der Arbeitskräfte überzugehen. Am Beispiel des Kuzbass erweist sich einmal mehr, dass unter den Bedingungen des ersten Fünfjahresplans und der Kollektivierung der Landwirtschaft alle Pläne einer „organisierten Anwerbung“ von Arbeitskräften der Realität Hohn sprachen. Die Fluktuation war hoch, es mangelte an Fachkräften, denn die Arbeits-, Wohn- und Lebensbedingungen waren schlecht, so dass viele der Angeworbenen nach kurzer Zeit wieder weggingen. Die Studie zum Kuzbass bestätigt hier das Bild, wie es von anderen Großbaustellen schon länger bekannt war. Das gilt auch für die mit der Arbeitsmigration in Verbindung stehenden Flucht aus dem 1932/33 vom Hunger betroffenen kollektivierten Dorf und den nur eingeschränkt wirksamen Versuchen, die unkontrollierte massenhafte Migration durch administrative Maßnahmen (Inlandspass) zu steuern und die Fluktuation in den Griff zu bekommen.

Die Hierarchisierung und Kategorisierung der Arbeitskräfte, der das dritte Kapitel gewidmet ist, fügt sich ebenfalls nahtlos in das Bild der stalinistischen Politik. An der Spitze der Hierarchie standen ausländische Ingenieure und Arbeiter, die mit hoher Priorität angeworben wurden, um die importierten Maschinen zu bedienen und den angestrebten Technologietransfer zu beschleunigen. Diese Anwerbung, die über spezielle Büros in Berlin und Wien erfolgte, wird instruktiv beschrieben. Die Ausländer, insbesondere die Ingenieure, erhielten hohe Löhne, die zum Teil in Devisen ausbezahlt wurden. Die Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte nahm Anfang der dreißiger Jahre einen beträchtlichen Umfang an: Mindestens 1.500 ausländische Arbeiter waren in der ersten Hälfte der dreißiger Jahre in den Bergwerken des Kuzbass tätig, ihre Zahl verringerte sich in den Folgejahren aber stark, weil viele ihre Arbeitsplätze bald wieder verließen. Standen die Ausländer an der Spitze der Hierarchie, so galt für die unfreien Arbeiter das Gegenteil. Bei diesen handelte es sich vor allem um Opfer der „Kulakendeportationen“ im Zuge der Kollektivierung der Landwirtschaft. Die Verfasserin schildert plastisch, wie die Deportierten massenhaft zur Arbeit in den Bergwerken zwangsverpflichtet wurden. Sie wurden in die Arbeitswelt einbezogen, ohne an der sowjetischen Gesellschaft gleichberechtigt teilhaben zu können. Etwa 60.000 Deportierte (die nicht-arbeitenden Familienmitglieder mitgerechnet) waren Mitte der dreißiger Jahre dem Betrieb Kuzbassugol‘ zugeteilt. Der Arbeitskräftemangel führte auch dazu, dass Frauen für den Bergbau rekrutiert wurden. Die Verfasserin zeigt überzeugend, dass dabei die wirtschaftlich-utilitaristischen Motive die Emanzipationspropaganda überlagerten. Die meist jungen und unausgebildeten, mehrheitlich nicht des Lesens und Schreibens kundigen Frauen wurden für untergeordnete und schlecht bezahlte Tätigkeiten verwendet und arbeiteten dennoch häufig unter gesundheitsschädlichen Bedingungen.

Das vierte Kapitel verschiebt den Fokus von der Organisationsgeschichte, Arbeitspolitik und Statistik hin zur Alltagsgeschichte. Es untersucht, wie die Arbeiter mit den Gefahren unter Tage umgingen, wie sie sie wahrnahmen und mit welchen Strategien sie ihnen begegneten. Methodisch orientiert sich die Darstellung hier an den Forschungen zur Geschichte von Arbeitsplatz und Arbeitstag im deutschen Bergbau. Sie thematisiert Arbeitsweg und Arbeitszeit, Werkzeug und Arbeitskleidung sowie Arbeitsorganisation und Disziplinierung. Erfolgte der Kohleabbau bis 1935 überwiegend von Hand mit Sprengstoff und Abbauhammer, so wurde er bis 1937 fast vollständig mechanisiert. Die Mechanisierung verkörperte den Fortschritt und wurde mit hoher Priorität vorangetrieben, wenngleich der Großteil der Bergbaumaschinen aus dem Ausland importiert werden musste, weil die Kapazitäten der sowjetischen Maschinenbauindustrie noch zu gering waren. Der hohe Mechanisierungsgrad im Jahre 1937 von angeblich 95,8 Prozent, belegt mit einer Äußerung des Volkskommissars für Schwerindustrie, Ordžonikidze, und von der Verfasserin nicht weiter hinterfragt, erstaunt angesichts der gravierenden Probleme und Friktionen, die eindrücklich geschildert werden.

Im fünften Kapitel setzt die Verfasserin den alltagsgeschichtlichen Zugriff fort und fokussiert auf die Lebensbedingungen: Unterkunft und Wohnen, Ernährung und Versorgung. Dabei erweist sich die Unterbringung der Arbeiter im Kuzbass als ein weiteres Beispiel für die Diskrepanz zwischen hochtrabenden Planungen in- und ausländischer Architekten für die „sozialistische Stadt“ und der von Notdürftigkeit, Mängeln und eiliger Improvisation gekennzeichneten Realität. Auch im Kuzbass war eine Architektenbrigade unter der Leitung des in die Sowjetunion emigrierten Frankfurter Stadtbaurates Ernst May zugange, um „Kommunehäuser“ und einen „Generalplan“ für die Bebauung zu entwerfen. Ähnlich wie in Magnitogorsk blieb aber die „sozialistische Stadt“ eine Utopie. Stattdessen entstanden notdürftige Barackensiedlungen mit rudimentärer Infrastruktur. Immerhin gelang es 1935, eine Wasserleitung fertigzustellen, die aus 37 Kilometern Entfernung sauberes Trinkwasser in die Bergarbeitersiedlung führte. Obwohl es Mitte der dreißiger Jahre gelang, die Wohnverhältnisse zu verbessern, blieb die Fluktuation der Arbeiter extrem hoch. Statistisch gesehen, erneuerte sich noch 1936 binnen eines Jahres die Belegschaft der Bergwerke komplett. Weil der Betrieb mit der Errichtung einer ausreichenden Zahl von Unterkünften überfordert war, gingen die Verantwortlichen schließlich dazu über, den Arbeitern die Errichtung von Hütten und Häusern in traditioneller Bauweise zuzugestehen. An die Stelle des ursprünglich geplanten „sozialistischen“ Wohnungsbaus trat die individuelle Lehmhütte. Den „Sondersiedlern“ (deportierten „Kulaken“) hatte man schon bei ihrer Ankunft die Errichtung von „individuellem Wohnraum“ aufgetragen, um die öffentliche Hand nicht mit Wohnbau belasten zu müssen. Indem man ihnen zubilligte, eine Hofwirtschaft zu betreiben und Tiere zu halten, entband man sich auch der Verantwortung für ihre Versorgung mit Lebensmitteln.

Was der Leser über den Arbeitsalltag und die Arbeitsbedingungen erfährt, ist schlüssig und einprägsam und bestätigt im Wesentlichen den Eindruck aus anderen Fallstudien. Für den sowjetischen Bergbau war das allerdings bislang noch nie so systematisch und differenziert nach Geschlechtern und der stalinistischen Hierarchie – von Ingenieuren und prämiierten Stachanovisten bis zu deportierten „Kulaken“ – gezeigt worden. Insbesondere die hierarchisch-abgestufte Behandlung der Menschen nach ihrem Wert für die Volkswirtschaft und für die sozialistische Gesellschaft wird für die relevanten Bereiche plastisch herausgearbeitet. Dennoch vermisst man an manchen Stellen, etwa bei den Lebensbedingungen oder bei den Planungen für die „sozialistische Stadt“, eine stärkere Auseinandersetzung mit der vorhandenen Literatur. Der offensivere Bezug zu anderen Fallbeispielen hätte die Chance geboten, die Gemeinsamkeiten wie die Spezifik des Kuzbass deutlicher herauszuarbeiten. In einigen Punkten ist das durchaus gelungen, zum Beispiel hinsichtlich der Auswirkungen der Hungersnot von 1932/33 – mit dem bemerkenswerten Ergebnis, dass die Sterberate in der vermeintlich privilegierten Bergbauregion deutlich über dem russischen Durchschnitt und etwa auf derselben Höhe wie diejenige der ukrainischen Städte lag. Die Verfasserin erklärt dieses auf den ersten Blick erstaunliche Phänomen mit dem Umstand, dass die Bevölkerung der schnell wachsenden Städte im Schnitt jünger war als anderswo und es deshalb einen höheren Anteil an Kleinkindern gab, bei denen sich der Hunger am schlimmsten auswirkte.

Das letzte Kapitel behandelt die Gefahren des Alltags (Unfälle) und die Auswirkungen des stalinistischen Massenterrors. Hier erfährt der Leser viel Aufschlussreiches, vom Hungersterben der deportierten „Kulaken“ über die alltägliche Erfahrung der Bedrohung durch Grubenunglücke und Unfälle bis zum Funktionieren des Terrors im lokalen Bereich, wobei Unfälle und Terror in einer Kausalbeziehung zueinander standen: Die Behörden erklärten Unfälle mit der Tätigkeit von „Schädlingen“ und „Saboteuren“ und reagierten folgerichtig mit Verhaftungen und Schauprozessen. Die Arbeiter leisteten dem Vorschub, indem sie ihrerseits die Schuld für Unfälle konkreten Vorgesetzten zuwiesen.

Auch wenn vieles nicht überrascht, so ist die Lektüre des Buches dennoch anregend, denn die Verfasserin versteht es, die Analyse immer wieder mit gut ausgewählten Zitaten aufzulockern, in denen sich die Perspektive der Betroffenen spiegelt. Auf diese Weise entsteht ein Gesamtbild, in dem sich die Makro- und die Mikroebene ergänzen, und das uns wieder ein Stück weiter bringt beim Verständnis dessen, wie die Menschen in der Sowjetunion der Vorkriegszeit lebten und wie sie diese Epoche erlebten. Auch stilistisch ist der Text eine erfreuliche Lektüre.

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