M. Vulesica: Politischer Antisemitismus in Kroatien-Slawonien 1879–1906

Titel
Die Formierung des politischen Antisemitismus in den Kronländern Kroatien-Slawonien 1879–1906.


Autor(en)
Vulesica, Marija
Reihe
Studien zum Antisemitismus in Europa 2
Erschienen
Berlin 2012: Metropol Verlag
Anzahl Seiten
352 S.
Preis
€ 24,00
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Carl Bethke, Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde, Universität Tübingen

Die Frage, inwieweit es in Kroatien vor 1941 Antisemitismus gab, hatte lange eine politische Dimension: Einerseits waren kroatische Historiker bestrebt ihre Nation vor Vorwürfen in Schutz zu nehmen, die Judenverfolgung während des Ustaša-Regimes sei Ausdruck tief in der Geschichte verankerter Dispositionen. Doch auch der offizielle Geschichtsdiskurs zu kommunistischer Zeit hatte die Tendenz, die Verbrechen an den Juden während des Zweiten Weltkriegs primär mit der Besatzungsherrschaft zu begründen, deren Diener die einheimischen „Helfershelfer“ und Verräter letztlich nur gewesen seien. Solche Interpretationen konnten sich darauf stützen, dass in Kroatien programmatisch antisemitische Parteien vor 1941 keine relevante Rolle gespielt hatten – im Unterschied etwa zu Österreich und Ungarn. Systematische Untersuchungen des Antisemitismus in Kroatien, zumal für die Zeit vor 1918, wurden jedoch kaum vorgelegt.

Marija Vulesica präsentiert mit ihrer Studie über den politischen Antisemitismus im (habsburgischen) Königreich Kroatien-Slawonien (im Folgenden: Kroatien) 1879–1906 nun ein neues und differenziertes Bild. Dafür hat sie neben verschiedenen Nachlässen und Akten der Landesregierung vor allem den relevanten Teil der Tages- und Wochenpresse Kroatiens des späten 19. Jahrhunderts erschlossen, einschließlich der deutschsprachigen Zeitungen. Als punktuell ergiebig erwiesen sich auch die in der ganzen Monarchie gelesene „Allgemeine Zeitung des Judenthums“ und „Dr. Blochs Österreichische Wochenschrift“, sowie Archivalien der Alliance Israelite in Paris.

Die Autorin zeigt, wie in den 1880er- und 1890er-Jahren der Antisemitismus in Kroatien zu einem Faktor politischer Mobilisierung wurde, selbstverständlich auch durch Adaptionen und im Kontext von Entwicklungen in anderen Teilen der Monarchie und des Kontinents. Die Darstellung setzt mit dem Jahr 1879 ein, als der Neologismus „Antisemitismus“ in Europa das erste Mal verwendet wurde. Die Tiszaeszlár-Affäre in Ungarn 1882, der Aufstieg der Lueger-Bewegung in Wien und die Dreyfuss-Affäre fanden unter den Antisemiten Kroatiens ein vielfaches Echo. Zugleich legt die Autorin jedoch Wert auf die Spezifik des „politischen“ Antisemitismus in Kroatien. Sie führt dazu übersichtlich in die Parteien- und Presselandschaft jener Jahre ein, und macht den Antisemitismus dabei zunächst vor allem in den von verschiedenen Teilen des Klerus beeinflussten Parteien und Zeitungen aus, besonders bei der Unabhängigen Nationalpartei und ihrem weitverbreiteten Organ „Obzor“. Diese Kräfte standen zur Vorherrschaft des liberalen Ungarn wie auch zur ungarnfreundlichen Regierung in Kroatien unter Banus Khuen-Hedervary (und dem Adel) in Opposition. Ideell geprägt wurden sie vom Bischof von Djakovo, Josip Strossmayer, und dem Zagreber Domherr Franjo Rački, also Persönlichkeiten, die ansonsten als Vorreiter der jugoslawischen Idee, und Kritiker des päpstlichen Unfehlbarkeitsdogmas in die Geschichte eingingen. Die säkularere Kroatische Partei des Rechts, die im 20. Jahrhundert als Inbegriff der national orientierten kroatischen Rechten galt, verwendete Antisemitismus dagegen später und zurückhaltender, und wenn, dann strikter auf das nationale Thema beschränkt. Deutlich wurde dies im Kampf gegen die Legalisierung von Mischehen mit Juden (ohne Übertritt) sowie gegen das Recht zum Übertritt zum Judentum. Wie Vulesica feststellt, wich die Landesregierung in diesen Punkten schließlich dem Druck der Klerikalen – während Mischehen mit Orthodoxen bezeichnenderweise gestattet wurden. Nach der Spaltung der Rechtspartei 1895 wurde der Antisemitismus von einem Teil der Staatrechtsbewegung dann stärker eingesetzt, freilich ausgerechnet von jenem Flügel, der sich im Rahmen der Vereinigten Opposition ansonsten der Zusammenarbeit mit der Unabhängigen Nationalpartei und später (1903) auch den Serben öffnete. Der Vorsitzende der strikter kroatisch-nationalen, und immer mehr auch loyalistischen Reinen Rechtspartei hingegen, Josip Frank, bekannte sich zu seiner jüdischen Herkunft und wurde dafür oft von seinen Gegnern angegriffen. Die „Frankianer“ setzten damals am wenigsten auf Antisemitismus, ihnen galt dieser als Ablenkung von ihrem Kampf gegen serbische und jugoslawische Bestrebungen.

Diese Konstellation wird dadurch noch komplexer, dass im 19. Jahrhundert viele Juden Kroatiens aus Ungarn eingewandert und deutscher Muttersprache waren, weshalb antisemitische und antideutsche bzw. antiungarische Agitation zeitweise nah beieinander lagen. So unterstellte man Juden, die kroatische Sprache nicht verwenden zu wollen, und im Dienste der Germanisierung nach Kroatien gekommen zu sein. Oft legten antisemitische Schmähungen und Karikaturen Juden deutsche Vokabeln in den Mund, um sie entsprechend zu kennzeichnen, es kam auch vor, dass die teilweise deutsch-jüdisch geprägte Stadt Osijek (Esseg) als Ganzes geschmäht wurde. Die großen deutschsprachigen Zeitungen des Landes, die „Agramer Presse“ und „Die Drau“ aus Osijek galten als „jüdisch“. Letztere erwies tatsächlich als aktiv, wenn es darum ging, antisemitische Propaganda zurückzuweisen. Dagegen bestand in der regierungsnahen Presse insgesamt die Tendenz, antisemitische Vorfälle zu ignorieren oder herunterzuspielen.

In Vulesicas Arbeit wird deutlich, warum sich die jugoslawische wie kroatische Historiographie vor diesem Hintergrund mit der Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus schwer tat: Selbst tätliche Übergriffe gegen Juden, wie zum Beispiel 1883 oder 1903, wurden möglichst als Randerscheinung von Unruhen gesehen, die sich primär gegen die Bevormundung Kroatiens oder „der Südslawen“ durch Wien und Budapest richteten. Juden seien nicht die primären Angriffsziele gewesen, sondern gleichsam „auch“ Juden als Ungarn getroffen worden. Demgegenüber belegt Vulesica, dass Juden etwa in den Artikeln des Obzor immer wieder als Juden beschimpft worden waren, und zwar unter Verbindung nationaler Gesichtspunkte mit den damals in Europa um sich greifenden Schmähungen als „Ausbeuter“, „Wucherer“, „Geschäftemacher“, als Unverwurzelte und Einwanderer, und insbesondere als Vertreter eines „Lügen-Liberalismus“. Vulesica macht plausibel, wie naheliegend es ist, die tätlichen Angriffe auf jüdische Kaufleute und Gewerbetreibende bzw. Schmierereien in Zusammenhang mit dieser Propaganda zu verstehen. Der Rezensent kann hier ergänzen, dass zumindest ihm zu diesem Zeitpunkt keine vergleichbaren Angriffe gegen die (freilich meist katholischen) deutschen und ungarischen Bürger, Handwerker und Bauern bekannt sind, obwohl diese ja gleichfalls als Symbole der Fremdherrschaft hätten gelten können. Allerdings kommen in den Zitaten, die Vulesica vorlegt, auch die klassischen katholischen Begründungen des Antijudaismus wie Ritualmord-Geschichten nur gelegentlich vor, was angesichts der Beziehungen des Klerus zur Unabhängigen Nationalpartei und zur „Vereinigten Opposition“ bemerkenswert ist. Selbst die nach 1901 aus dem Arbeiterflügel der Rechtspartei um den damals führenden Antisemiten Grga Tuškan hervorgegangen sogenannten „Christlich-Sozialen“ setzten in ihrer Agitation vielmehr vor allem auf vermeintlich „soziale“ Topoi und die angebliche „Ausbeutung“.

Richtig ist, dass offene Gewalt gegen Juden bei den genannten Unruhen auch von Teilen der selbst zum politischen Antisemitismus neigenden „oppositionellen“ Presse verurteilt, jedenfalls nicht explizit gebilligt wurde. Anderslautende Berichte wurden als Versuche gesehen, Kroatien zu diskreditieren. Es kam in diesen Blättern durchaus vor, dass man sich von gewalttätigen antisemitischen Ausfällen in anderen Ländern wie 1899 in Rumänien distanzierte, oder den Antisemitismus in Ungarn und Deutschlands sogar als Ausdruck der dortigen besonders barbarischen Kultur präsentierte. Um die Jahrhundertwende war der Höhepunkt des Antisemitismus im kroatischen mainstream überschritten, was bei Vulesica auch auf antislawische Äußerungen österreichischer Antisemiten zurückgeführt wird. Allein im weiterhin an Lueger orientierten christlich-sozialen Spektrum kam es zunächst zu einer weiteren Radikalisierung. Doch mit dem Erstarken der Serbisch-Kroatischen Koalition, gaben sich schließlich sogar diese Kreise gemäßigter, vor allem wohl durch die Notwendigkeit des Zusammengehens mit den von Frank geführten kroatischen Nationalisten von der Reinen Rechtspartei. Der Sieg der „Koalition“ bei den Wahlen 1906 trug auch insofern zur Neuformierung der politischen Lager in Kroatien bei, und war zugleich bereits Ausdruck einer bis in den Ersten Weltkrieg wirksamen politischen Klimaveränderung. Mit dieser Zäsur endet auch Vulesicas Buch.

Zur Einschränkung unterstreicht die Autorin selbst, dass das von ihr erschlossene Quellenmaterial über den „politischen Antisemitismus“ nicht unbegrenzt Aussagen über die Struktur antisemitischer Klischees in der kroatischen Gesellschaft erlaubt: Denn die herangezogenen Zeitungen richteten sich an ein mutmaßlich „bürgerliches“ oder städtisches Publikum – man muss davon ausgehen, dass es wie in anderen Ländern auch einen weit mehr traditionell und katholisch geprägten Antijudaismus gab. Dieser tritt in den Quellen nur punktuell hervor, zum Beispiel in Gerichts- und Disziplinarverfahren gegen einzelne Priester. Auch Artikel aus der jüdischen Presse in der Monarchie verweisen darauf. Hier sollten künftig stärker kirchliche Archive in den Fokus der Forschung kommen.

Marija Vulesica hat mit ihrer Untersuchung die Erforschung des Antisemitismus in Kroatien vor 1914 auf eine neue Grundlage gestellt, von der man sich wünscht, dass sie auch in Kroatien breit rezipiert wird. Die Auswertung der Zeitungen ist die Autorin dabei gründlich angegangen, so dass die teilweise Vernachlässigung solche Quellenbestände in der bisherigen Forschung deutlich wurde – manche dieser Blätter, etwa Die Drau, wären längst eigene Untersuchungen wert gewesen. Im Ergebnis ist ihr Befund ausgewogen und differenziert: Sie macht deutlich, dass der politische Antisemitismus im späten 19. Jahrhundert zeitweise ein durchaus relevanter Faktor in Kroatien war. Dessen Protagonisten macht Vulesica am stärksten im katholisch beeinflussten Spektrum aus, freilich auch und gerade in jenem Teil, der jugoslawisch gestimmt war. Zugleich setzt Vulesica diese Kreise deutlich ab von der kroatisch-nationalen Staatrechtsbewegung, und besonders den Frankianern. Als spezifische Muster dieses politischen Antisemitismus in Kroatien zeigt Vulesicas dessen antiungarische und antideutsche Kontextualiserung auf, ähnliche, von der deutschen Forschung nach 1945 verständlicherweise wenig behandelte Variationen des Antisemitismus, könnten für diese Zeit vermutlich auch in anderen Teilen der Habsburger-Monarchie beobachtet werden. Ebenso verweist die Autorin jedoch auch auf die Verbindungen zu anderen damals in Europa verbreiten antisemitischen Bewegungen und Tendenzen, welche sich immer weniger konfessionell, und immer stärker „sozial“ oder antikapitalistisch gaben. Über das Thema hinaus kann das Buch all jenen sehr zur Lektüre empfohlen werden, welche überhaupt ein besseres Verständnis der politisch-kulturellen Verhältnisse Kroatiens und seiner Gesellschaft im späten 19. Jahrhundert erlangen möchten.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Kooperation
Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
Klassifikation
Epoche(n)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension