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Titel
Wildnis schaffen. Eine transnationale Geschichte des Schweizerischen Nationalparks


Autor(en)
Kupper, Patrick
Reihe
Nationalpark-Forschung in der Schweiz 97
Erschienen
Bern 2012: Haupt Verlag
Anzahl Seiten
376 S.
Preis
€ 46,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jürgen Büschenfeld, Institut für Wissenschafts- und Technikforschung, Universität Bielefeld

Es darf gefeiert werden. 2014 besteht der Schweizerische Nationalpark seit einhundert Jahren. Was ist das Besondere an diesem Refugium für die Natur? Warum wurde schon 1914 und warum ausgerechnet in der Schweiz ein Nationalpark gegründet? Schließlich gilt die Schweiz den Bewohnern der flachen Landstriche gemeinhin als ein von der Natur reich beschenktes Land mit einer einzigartigen Bergwelt, die nicht nur den rasenden Skifahrer, sondern auch den Ruhe suchenden Wanderer in ihren Bann schlägt. Welchen Leitideen folgten die Planungen im Vorfeld der Gründung des Parks? An welchen Beispielen konnten sich die Planer orientieren? Wie hat sich der Park entwickelt und vor allem: Konnten die Ideen umgesetzt werden?

Zum Schweizerischen Nationalpark gibt es nun ein überaus ansprechendes Buch, das noch dazu – außergewöhnlich für wissenschaftliche Literatur – reich und gekonnt bebildert ist und dadurch den Leser auch optisch sehr nah an das Thema heranführt. Mit „Wildnis schaffen“ enthüllt Patrick Kupper bereits im Titel das außergewöhnliche Anliegen der Nationalpark-Protagonisten, das er mit den Ansätzen einer transnationalen Geschichtsschreibung untersucht. Zwar bleibt das Schweizer Beispiel in diesen Zusammenhängen der entscheidende Bezugspunkt, aber das Beispiel wird immer wieder in Beziehung gesetzt zu den Vorstellungen und Entwicklungen in anderen Ländern und den wechselwirkenden Einflussnahmen auf die jeweiligen Naturschutzvorstellungen. Insofern versteht Patrick Kupper die Geschichte des Schweizerischen Nationalparks als eine „durch die lokalen Verhältnisse geprägte, spezifische Manifestation einer globalen Naturschutzgeschichte“ (S. 20).

Als „Wildnis schaffen“ wird kurz und bündig die ungewöhnliche Aufgabe für die Vorkämpfer des Nationalparks skizziert. Nein, nicht etwa nur der Schutz oder die Bewahrung einer noch vorhandenen „ursprünglichen“ Natur war das Ziel; vielmehr galt es diese Ursprünglichkeit der Natur überhaupt wiederzugewinnen, sie gleichsam wiederherzustellen, besser: Von der Natur selber herstellen zu lassen. Wenn man, wie es die treibenden Kräfte der Nationalparkidee taten, davon ausging, dass es in der modernen Zivilisation durch die permanenten Eingriffe des Menschen eine „Ur-Natur“ per se nicht mehr geben konnte, dann war der Rückzug des Menschen aus dem Raum, für den eine „neue“ Ur-Natur vorgesehen war, geradezu konstitutiv. „Jegliche Einwirkung des Menschen“, zitiert Kupper den Botaniker Carl Schröter, war „für alle Zeiten“ auszuschalten. Allein die Wissenschaft sollte im Nationalpark über die Forschung eine Art Beobachterfunktion einnehmen, um das „Zurück zur Natur“ zu dokumentieren. Es war eine Wildnis zu schaffen, wie sie, so die Schweizerische Naturschutzkommission, „die Alpen noch vor dem Eindringen des Menschen als ein reines Werk der Natur geschmückt hatte“ (S. 13). Gewissermaßen hatte die Kultur in Gestalt der menschlichen Einsicht dafür zu sorgen, sich selber aus einem definierten Gebiet zu verbannen, sollte doch der Nationalpark die unbewohnte Insel im „Meer“ der zivilisatorischen Eingriffe in natürliche Lebensräume repräsentieren. Es ging um nicht mehr und nicht weniger als die prähistorische Wildnis. In Anlehnung an Foucault verwendet Patrick Kupper den Begriff der Heterotopie und erkennt im Nationalpark einen klassischen „Gegenort“ zum „gesellschaftlichen Normalraum“, einen Ort, dessen Wirklichkeit sich „radikal“ von der Wirklichkeit „konventioneller Orte“ abhebt, einen Ort, für den – obwohl eingebettet in die Zivilisation – abseits der „normalen“ gesellschaftlichen Realität ganz eigene Regeln gelten (S. 15). Die Spannungsverhältnisse, die durch die Vorstellungen des Totalschutzes auf vielen Ebenen entstanden waren und die auch bei den Zeitgenossen zu vergleichenden Blicken auf andere Ausprägungen der Nationalparkidee, etwa jenen in den USA mit dem bereits 1872 gegründeten Yellowstone-Nationalpark, geführt haben, sind die Dreh- und Angelpunkte des in sechs Kapitel gegliederten Buches.

So zeichnet Kupper auch für die Schweiz einen Weg nach, der die gesellschaftliche Wahrnehmung von der „bedrohliche(n)“ Natur hin zur „bedrohte(n)“ Natur veränderte. Die Triebkräfte, die Kupper für die steigende Wertschätzung der „unberührten Natur“ identifiziert, sind dabei kaum allein aus nationalgeschichtlicher Perspektive zu erklären, sondern finden ihre Bezugspunkte in nahezu allen sich industrialisierenden Nationen des Westens und in den Krisenwahrnehmungen ihrer bildungsbürgerlichen Eliten. Wie Kupper überzeugend darlegt, waren Urbanisierungs- und Industrialisierungsprozesse eben nicht nur die Garanten für erfolgreiche ökonomische Entwicklungen, sondern sie galten auch als die Auslöser für „Nervosität und Hast, Reizüberflutung und Sinnentleerung“ (S. 43). In den Gegenbildern des Heimat- und Naturschutzes war womöglich der ruhende Pol, waren Rückhalt und Orientierung zu finden.

Transnationale Blicke unterstreichen, dass sich die Sehnsucht nach der Natur in ganz unterschiedlichen Spielarten äußern konnte. Sollte es die Schutzstrategie für viele kleine Flächen sein, wie sie sich in den Vorstellungen von Naturdenkmalen spiegelten? Sollte die Wildnis wie in den USA – verkehrte Welt – für den Tourismus zugänglich sein und damit allmählich ihre Existenz aufgeben oder sollten wie in der Schweiz eben nur die Wissenschaftler das Privileg besitzen, den Nationalpark zu betreten, während den Bürgern im Einklang mit den edlen Zielen der Nationalparkidee das Naturerlebnis vorenthalten wurde?

Wie die Idee der Schaffung von „Ur-Natur“ durchgesetzt worden ist und mit welchen subjektiven Einstellungen, Vorbehalten und Erwartungen die Bevölkerung vor Ort dem Nationalpark begegnete, ist Gegenstand des zweiten und dritten Kapitels, während die Philosophie des totalen Schutzes und die wissenschaftlichen Arbeitsfelder, das „Laborfeld Nationalpark“, im vierten und fünften Kapitel thematisiert werden. Konnte der „totale Schutz“ überhaupt durchgehalten werden, durften Auswilderungen überhaupt stattfinden oder sollten bestimmten Populationen wie dem Steinwild Anreize geboten werden, im Nationalpark heimisch zu werden? Durfte man, etwa bei Feuer durch Blitzeinschlag, überhaupt löschen oder musste den Naturgewalten ihr freier Lauf gelassen werden? Eingriffe zur Absicherung des „totalen Schutzes“, derartige Paradoxien weist Kupper akribisch nach, hat es viele gegeben. Im Laufe der Zeit hatte sich offenbar eine regelrechte Interventionspraxis eingespielt.

Die skizzierten Widersprüche hätten an dieser Stelle auch die Chance geboten, den Zielen des totalen Schutzes noch etwas genauer und unter einer etwas veränderten bzw. erweiterten Perspektive nachzugehen. Hatte die Vorstellung von einer wiederherzustellenden Ur-Natur in botanischen und zoologischen Zusammenhängen tatsächlich eine breite naturwissenschaftliche Basis? Haben die Nationalpark-Protagonisten an die „Ur-Natur“ geglaubt? Wie verhält sich diese Vorstellung zu den Erkenntnissen Darwins, die den Blick auf die Jahrmillionen andauernde Naturgeschichte, längst geöffnet und die Idee von einer „Ur-Natur“ zu Gunsten einer prozesshaften Naturentwicklung eigentlich verworfen hatte? Die Gründer des Schweizerischen Nationalparks hatten sich auf die Fahnen geschrieben, in die Zeit vor Auftreten des Menschen zurückgehen zu wollen. Aber welche „Ur-Natur“ war hier gemeint? Welches Entwicklungsstadium vor Auftreten des Menschen galt als erstrebenswert, jenes kurz vor dem Auftreten des Menschen oder jenes kurz nach der Auffaltung der Alpen? An welcher Stelle hatte die Natur durch die von Schröter treffend bezeichnete „retrograde Sukzession“(S. 187) ihren Idealzustand als „Klimaxgemeinschaft“ gefunden? Und wie viel Zeit hätte man dem „Zurück zur Natur“ geben wollen? Mit einigen Hundert Jahren wäre es sicher nicht getan gewesen.

Das sechste Kapitel verweist für die jüngere Vergangenheit vor allem auf Konkurrenznutzungen wie etwa Wasserkraft oder Tourismus, auf die Versuche des Naturschutzes, sich mit diesen Nutzungen zu arrangieren, die „Grenzen der Wildnis“ gewissermaßen etwas durchlässiger zu machen und schließlich darauf, dass das Konzept des Totalschutzes mehr und mehr in Frage gestellt wurde. Abschließend skizziert Kupper den Nationalpark treffend als Versuch, die Exzesse der Moderne mit modernen Mitteln zu kurieren (S. 290). Die Vorstellungen vom absoluten Schutz, das zeigt dieses Buch, konnten dabei allerdings nicht in die Tat umgesetzt werden, vielmehr, so Kupper, ging es um Grenzen, um Grenzüberschreitungen ebenso wie um Grenzbefestigungen, Grenzverhandlungen und Grenzverschiebungen. Ob es sich bei der Vorstellung von einer erreichbaren „Ur-Natur“ aber um eine Illusion handelte oder aber vielmehr um eine wissenschaftlich geschickt verpackte Reminiszenz an bildungsbürgerliche Vorbehalte gegenüber der Moderne, bleibt eine offene Frage.

Patrick Kupper hat ein beeindruckendes und sehr gut illustriertes Buch geschrieben, das die bedeutende Rolle der Naturschutz- für die Umweltgeschichte überzeugend darlegt. „Wildnis schaffen“ wirft nicht nur präzise Blicke auf die handelnden Akteure, sondern die Auseinandersetzung mit dem Schweizer Nationalpark erfüllt auch eine alte Forderung der Umweltgeschichte: Umweltgeschichte müsse auch darlegen, so Joachim Radkau, dass Umwelt nicht nur als „Reflex menschlicher Vorstellungen“ existiert. Vielmehr sollte immer auch das „Eigengewicht naturgesetzlicher Zusammenhänge“ präsent sein.1 Die vorgelegte transnationale Geschichte des Schweizerischen Nationalparks erhellt eindrucksvoll sowohl das Handeln der Akteure als auch die Eigengesetzlichkeit der Natur.

Anmerkung:
1 Joachim Radkau, Unausdiskutiertes in der Umweltgeschichte, in: Manfred Hettling u. a. (Hrsg.), Was ist Gesellschaftsgeschichte? Positionen, Themen, Analysen, München 1991, S. 47.

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