R. Zingg: Die Briefsammlungen der Erzbischöfe von Canterbury

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Titel
Die Briefsammlungen der Erzbischöfe von Canterbury, 1070–1170. Kommunikation und Argumentation im Zeitalter der Investiturkonflikte


Autor(en)
Zingg, Roland
Reihe
Zürcher Beiträge zur Geschichtswissenschaft 1
Erschienen
Köln 2012: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
343 S.
Preis
€ 44,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Isabel Blumenroth, Historisches Institut, Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen

Es ist ein bemerkenswertes Phänomen, dass im Zeitalter einer digitalisierten, sich immer weiter beschleunigenden Kommunikation gerade die Beschäftigung mit dem im Vergleich so trägen mittelalterlichen Briefwesen eine neue Faszination auszuüben scheint. Das Interesse der Monumenta Germaniae Historica an der kritischen Edition der Briefsammlungen bedeutender Persönlichkeiten wie Hinkmar von Reims oder Abt Wibald von Stablo 1 steht ebenso exemplarisch für diese Entwicklung wie abgeschlossene und laufende Dissertationsprojekte zu epistolografischen Textzeugen des 11. und 12. Jahrhunderts.2 Aus einer solchen ist auch der vorliegenden Band hervorgegangen. Roland Zingg hat es sich zur Aufgabe gemacht, die bis dato noch nicht ausreichend gewürdigte, aber hervorragende Editions- und Quellenlage der erzbischöflichen Korrespondenz von Canterbury in den Pontifikaten Lanfrancs, Anselms, Theobalds und Thomas Beckets auf die Argumentations- und Kommunikationsstrategien in diesem für das Beziehungsgefüge der englischen Kirche zwischen Kirchenreform und normannischer Herrschaft wesentlichen Jahrhundert (1070–1170) zu befragen.

Die Methode der Wahl ist dabei ein komparativer Ansatz der gesamten Briefsammlungen, der auch die historischen Hintergründe und Umstände ihrer Entstehung nicht außer Acht lässt. In einem zweigliedrigen Aufbau schaltet Zingg der eigentlichen Analyse zunächst eine Hinführung zur Geschichte des Erzbistums Canterbury bis zur normannischen Eroberung sowie zur Praxis, Erscheinungsform und Bedeutung der Kommunikation im westeuropäischen Hochmittelalter und der Position des Briefes darin vor. Als Abschluss dieser grundlegenden Ausführungen folgt ein breites Kapitel über die Spezifika der Quellengattung und ihre Entwicklung von den antiken Wurzeln bis zur Blütezeit der ars dictaminis.

Der Hauptteil gliedert sich in drei Komplexe. In einem biografischen Teil werden kurz Leben und Pontifikat der betreffenden vier Erzbischöfe sowie die Entstehungsumstände und Überlieferung ihres epistolografischen Werks vorgestellt. Es folgt die eigentliche Quellenanalyse, die im sechsten Kapitel durch eine nach sozialrechtlichen Kategorien (Status als Laie oder Geistlicher, juristische Position zu den Erzbischöfen von Canterbury) differenzierte Auswertung der Briefempfänger das Netzwerk der dortigen Metropoliten und dadurch ihre personalen und geografischen Kommunikationsschwerpunkte aufschlüsselt. Das siebente Kapitel widmet sich dem den Korrespondenzen zugrunde liegenden argumentativen Repertoire. Der Zugang erfolgt hier über dessen einzelne Ausprägungen (zum Beispiel Bezüge zu Bibel, Patristik, Kirchenrecht, antiken Autoritäten).

Grundanliegen und Ansatz der Studie sind vielversprechend und leisten in ihrer Aufwertung der Canterbury-Corpora als Quellen einer kritischen Phase englischer Kirchengeschichte einen wertvollen Beitrag. Neben Grundproblemen wie der Frage nach dem tatsächlichen Anteil persönlichen Gedankenguts des Urhebers, in diesem Fall der Erzbischöfe, in einem viele Bearbeitungsphasen durchlaufenden Textprodukt wie dem mittelalterlichen Brief, die Rückschlüsse auf die individuellen Kommunikationsstrategien erschweren, ist das Unterfangen eines breit angelegten Vergleichs vierer solch unterschiedlicher Briefkorpora ebenso ambitioniert wie komplex.

Bei der Masse analysierter Einzelschreiben bleibt nicht aus, dass die Erkenntnisse sich auf einer allgemeinen Ebene bewegen, wobei Zingg es nicht versäumt, schlüssige Aussagen über die Kommunikations- und Argumentationsgewohnheiten im diachronen Vergleich zu gewinnen.

Die Vielgestaltigkeit der Quellengrundlage, die von der juristisch-politischen Geschäftskorrespondenz im Fall Lanfrancs über die pastoralen Schwerpunkte der Anselmbriefe bis hin zur propagandistisch ausgerichteten Sammlung Thomas Beckets reicht, ist dabei zum einen Segen und Fluch der Untersuchung. So zeichnen sie ein individuelles Bild des englischen Primatialsitzes sowie der Anliegen und Position seiner Inhaber im jeweiligen Abschnitt der englischen Kirchengeschichte, werfen aber gleichzeitig die Frage auf, inwieweit hier eine Vergleichbarkeit gegeben ist. So erstrecken sich die Erkenntnisse oft auf Phänomene, die dem Charakter des jeweils untersuchten Corpus geschuldet sind.

Zusätzlich führt die zwar konzeptionell harmonische, aber inhaltlich künstliche Dehnung der grundlegenden historischen und quellenkundlichen Ausführungen zu einem vermeidbaren Ungleichgewicht von Hinleitung und eigentlicher Kernanalyse. Die Relevanz der einzelnen Kapitel zur Geschichte der englischen Kirche von den frühmittelalterlichen Anfängen bis zum Betrachtungszeitraum oder der Evolution des Briefwesens aus antiken Wurzeln ist evident, doch sind deren Ausführungen in ihrem Zuschnitt zu wenig auf ihren Beitrag zum eigentlichen Fokus hinterfragt worden. So haben Verweise auf die verbale oder bildliche Kommunikation (zum Beispiel den Teppich von Bayeux) des Mittelalters ebenso wenig Mehrwert für eine Analyse des hochmittelalterlichen Schriftverkehrs wie eine detaillierte Vorstellung einer Großzahl vorhergehender (etwa karolingischer) Briefkorpora. Hier hätten generellere Ausführung gewinnbringend Raum für eine Vertiefung vorhandener, besonders interessanter Aspekte der Quellenuntersuchung liefern können.

Der kleinschrittige Aufbau, in dem jeder Aspekt für jeden Pontifex einzeln durchdekliniert wird, um dann in einem komparativen Fazit zusammengeführt zu werden, erschwert zwar den Lesefluss, macht aber auf der anderen Seite die Publikation zu einem gut nutzbaren Ausgangspunkt für all diejenigen, die sich näher mit Einzelaspekten der vier Canterbury-Sammlungen beschäftigen wollen.

Trotz der genannten konzeptionellen oder zum Teil schlicht der anspruchsvollen Quellengattung geschuldeten Schönheitsfehler bietet der vorliegende Band eine fundierte und, abgesehen von einigen anglizistischen Fremdkörpern, sprachlich ansprechende Grundlage für weitere Studien und ist eine inhaltlich verdienstvolle Studie des Wandels im Denken, geografischer Orientierung und zielgerichteter wie situationsbedingter Argumentationsstrategien der höchsten Würdenträger der englischen Kirche. Die Entscheidung, der Abhandlung diverse Register (Personen, Ortsnamen, zitierte Briefe) oder statistische Diagramme zu Charakter und Verteilung der einzelnen Empfängergruppen im Netzwerk der Erzbischöfe beizugeben, unterstützt die Ausrichtung des Werkes. Diese erleichtern dessen Nutzung als ertragreiches Nachschlagewerk für Fragen der Netzwerke, des Wirkungsbereiches und der Kommunikation der Erzbischöfe von Canterbury.

Fragt man sich mit Zingg, ob trotz quelleninhärenter Unwägbarkeiten „der Vergleich unterschiedlicher Corpora erfolgversprechend ist […]“ (S. 298), kann im Fall seiner Publikation die Frage a posteriori positiv beantwortet werden.

Anmerkungen:
1 Erstere befindet sich in Bearbeitung durch Rudolf Schieffer. Letztere ist vor kurzem erschienen: Martina Hartmann (Hrsg.), Das Briefbuch Abt Wibalds von Stablo und Corvey, nach Vorarbeiten von Heinz Zatschek und Timothy Reuter, 3 Bde., Hannover 2012.
2 Exemplarisch seien die 2009 abgeschlossene, noch unpublizierte Göttinger Dissertation Matthias Witzlebs zur Korrespondenz des Petrus von Montier-la-Celle sowie das Dissertationsprojekt der Rezensentin zum anglonormannischen Schismabild in den Briefsammlungen des Arnulf von Lisieux und Johannes von Salisbury genannt.

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