U. Rudolph (Hrsg.): Philosophie in der islamischen Welt

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Titel
Philosophie in der islamischen Welt. Bd. 1: 1. 8.–10. Jahrhundert


Herausgeber
Rudolph, Ulrich
Reihe
Grundriss der Geschichte der Philosophie, Abt. 8, 1
Erschienen
Basel 2012: Schwabe Verlag
Anzahl Seiten
XXXV, 612 S.
Preis
€ 167,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan-Hendryk de Boer, Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Georg-August-Universität Göttingen

Dass im neuen „Ueberweg" insgesamt vier Bände der Philosophie in der islamischen Welt gewidmet sein werden, von denen der erste hier anzuzeigen ist, ist nicht nur das Resultat des Aufschwungs der philosophiehistorischen Forschung in diesem Bereich, der in den letzten Jahrzehnten stattgefunden hat, sondern auch ein Anknüpfen an die Tradition des „Grundriss(es) der Geschichte der Philosophie“. Bereits Friedrich Ueberweg hatte in seinem 1864 erschienenen Werk ein Kapitel den „Arabischen Philosophen des Mittelalters“ gewidmet. Mit dieser Feststellung setzt die Einleitung des Herausgebers ein, die auf gedrängtem Raum die Forschungsgeschichte skizziert, den Zugriff der vier Bände des „Ueberweg“ und des vorliegenden ersten Bandes erläutert. Das übergreifende Konzept, das die Bände verfolgen, spiegelt die Einsichten der Forschung seit den 1980er-Jahren wider: Lange hatte die Zeit um 1200 als Wasserscheide für die Philosophie in der islamischen Welt gegolten, da man vor allem anhand der Rezeption des Ibn Rušd meinte erkennen zu können, dass die philosophische Tradition hier abbrach. Indem sich der Blick stärker auf die Rezeption des Ibn Sīnā richtete, wurde deutlich, dass von einem solchen Bruch nicht die Rede sein kann. Seine Werke wurden weiterhin studiert und gaben zu eigenständiger philosophischer Reflexion Anstoß. Insofern ist es nur konsequent, im „Ueberweg“ die Geschichte der Philosophie der islamischen Welt bis ins 20. Jahrhundert schreiben zu wollen, wobei allerdings die extreme Unausgewogenheit in der bisherigen Forschung und an verfügbaren Editionen die beteiligten Autoren vor Probleme stellte. Während bereits für den vorliegenden Band gilt, dass man keinesfalls durchweg in dem Maße auf Forschungen und Textausgaben zurückgreifen konnte, wie es für Handbücher dieser Art eigentlich üblich ist, so tun sich für die Zeit des 13. bis zum 18. Jahrhundert noch größere Lücken auf. Es bleibt abzuwarten, wie dieses Problem gelöst werden wird. Ebenfalls der jüngeren Forschung verpflichtet ist das Bestreben, keine Geschichte der islamischen oder der arabischen Philosophie zu schreiben, sondern programmatisch die Philosophie in der islamischen Welt zu untersuchen, wodurch weder die Zugehörigkeit der Philosophen zu einer Religion noch eine Sprache zum verbindenden Kennzeichen erklärt wird. Es wird also die Philosophie in einem Kulturraum dargestellt. So ist es möglich, zwanglos christliche Gelehrte einzubeziehen, die in der islamischen Welt wirkten und bei der arabischen Aristoteles-Rezeption eine entscheidende Rolle spielten.

Damit einher geht der Verzicht auf einen ahistorischen Philosophiebegriff, der etwa die antike Philosophie zum Maßstab nähme, um eine Philosophie in der islamischen Welt herauszupräparieren. Vielmehr wird programmatisch von einer historischen Wandelbarkeit dessen ausgegangen, was als Philosophie gilt. In den Abschnitten, die der Lehre des jeweiligen Philosophen gewidmet sind, finden sich zwar die klassischen Einteilungen in Logik und Wissenschaftslehre, Erkenntnistheorie, Ethik, Metaphysik und Naturphilosophie oder Naturwissenschaft (vor allem Mathematik, Physik und Astronomie), doch verstehen es die Autoren, solche Kategorien flexibel und der historischen Situation entsprechend zu handhaben. Dabei wird das philosophische Feld als vielfältig und differenziert, zugleich aber als nach außen, insbesondere gegenüber dem Sufismus, der islamischen Mystik und der Theologie abgegrenzt, begriffen. Wenn die rationale Theologie des Kalām ausgespart bleibt, obwohl auch sie auf antike Wissensbestände und Aussageformen zurückgriff, kann der Herausgeber sich auf die Ordnungspraxis der Zeitgenossen berufen. Im neunten und zehnten Jahrhundert entstandene Taxonomien sehen ebenso wie die zeitgenössischen islamischen Philosophen und Theologen eine wesentliche Differenz zwischen Philosophie, die primär vernunftgeleitet ist, und Theologie, die sich neben der Vernunft immer auf die Offenbarung bezieht. Allzu starren Differenzierungen entgegen wirkt nicht zuletzt der letzte Abschnitt des Bandes, der der Verbreitung des philosophischen Denkens gewidmet ist. Hier treten solche Autoren und Texte in den Blick, die, wie etwa der auch im lateinischen Westen in einer eigenen Tradition bekannte „Liber de pomo“, philosophische Wissensbestände nutzen und popularisieren oder in andere Diskurse, etwa religiöse oder politische, einbringen. Eine besondere Bedeutung fällt dabei den adab zu, einer arabischen Gattung, die der Belehrung und Unterhaltung gleichermaßen diente. Im Gefolge dieser Texte konnten sich Gnomologien, Doxographien und Fürstenspiegel als Gattungen der Vermittlung philosophischen Wissens und philosophischer Reflexion etablieren. In diesem Kontext wird auch die Grenzziehung zwischen Philosophie und Religion/ Theologie aufgebrochen, da nun etwa mit den ismailitischen Denkern des 10. und 11. Jahrhunderts gerade solche Autoren behandelt werden, die neuplatonisches Wissen mit religiösen Anliegen verbanden, da sie von einer Harmonie zwischen Neuplatonismus und dem Koran ausgingen.

Die Gliederung des Bandes ist recht traditionell ausgefallen: In zwei Kapiteln wird zunächst der spätantike Hintergrund (Ulrich Rudolph) sowie die syrische Tradition in frühislamischer Zeit (Hans Daiber) dargestellt, bevor die Übersetzungen der Texte der antiken griechischen Philosophie, vorrangig durch christliche Übersetzer, und die Aneignung philosophischen Denkens (Dimitri Gutas) behandelt werden. Auf diese Weise wird die Philosophie in der islamischen Welt gleichermaßen an die antike Philosophie rückgebunden und als eigenständiges Phänomen erkennbar. Übersetzung erscheint als Teil eines Kulturtransfers, der auf der Rezipientenseite selbst eine philosophische Dimension besitzt: So wurde zunächst die auch in der griechischen Tradition bekannte Vorstellung einer Harmonie von Platon und Aristoteles übernommen, wobei die platonische Tradition nicht durch dessen Dialoge, sondern den spätantiken Neuplatonismus präsent war, um im 10. Jahrhundert einem dominanten Aristotelismus zu weichen. Ein Grund dafür dürfte gewesen sein, dass die aristotelischen Schriften zusammen mit antiken Aristoteles-Kommentaren rezipiert wurden und die islamischen Denker so eine bessere Kenntnis der peripatetischen Tradition insgesamt besaßen als ihre lateinischen Kollegen. Ohne immer der Gefahr zu entgehen, religiöses Denken als von minderer Rationalität geprägt abzuwerten, kann Gutas zeigen, dass sich die Philosophie im islamischen Kontext gerade deshalb als eigenständige Disziplin mit weitreichendem Geltungsanspruch etablieren konnte, weil ihre Rezeption in einem von einer monotheistischen Religion geprägten Umfeld stattfand. Um sich überhaupt diskursiv etablieren zu können, war es der Philosophie in diesem Rahmen nur möglich, sich auf eine Rationalität zu berufen, die gegenüber der Religion eine prononcierte Unabhängigkeit vertrat.

So erstaunlich die Bandbreite der behandelten Philosophen ist, darunter auch solche, die bislang von der Forschung kaum berücksichtigt wurden – als Marksteine der Entwicklung des philosophischen Denkens erscheinen dennoch al-Kindī, Abū Bakr ar-Rāzī und ganz besonders al-Fārābī. Für Gerhard Endress und Peter Adamson ist al-Kindī „der erste arabische Universalist hellenistischer Bildung“ (S. 100), mit dessen Wirkung die Aristoteles-Rezeption im islamischen Raum einen ersten Höhepunkt erreicht. Der großen Bandbreite der von al-Kindī behandelten Themen und Fragen entspricht eine ebenso große Wirkung. Entsprechend ist dem Philosophieren in der Tradition al-Kindī’s ein ausführliches, etwas uneinheitliches Kapitel gewidmet, zu dem mehrere Autoren beigetragen haben. Neben der innerphilosophischen Diskussion erscheinen vor dem Hintergrund der Konflikte zwischen den Rationalitätsansprüchen der Philosophen und der Hermeneutik der islamischen Schrift- und Rechtsgelehrten insbesondere at-Tauḥīdī und as-Siǧistānī als Verteidiger und Vermittler philosophischer Vorstellungen in die Gesellschaft hinein. Bei Abū Bakr ar-Rāzī findet philosophische Reflexion im Kontext eines von der Medizin geprägten Denkens statt, wie Hans Daiber zeigt. Im Alter formulierte ar-Rāzī einen Entwurf des philosophischen Lebens, das einen Gottesbezug und islamische Überzeugungen integriert. Das folgende, überwiegend von Gerhard Endress verfasste Kapitel ist den Bagdader Aristotelikern gewidmet und markiert den Übergang hin zur Dominanz des Aristoteles innerhalb der Philosophie der islamischen Welt. Zu dieser Bewegung gehörte auch al-Fārābī, dem jedoch Ulrich Rudolph wegen seiner großen Bedeutung und Wirkung (nicht zuletzt auf Ibn Sīnā) ein eigenes ausführliches Kapitel gewidmet hat. Er verfasste nicht nur zahlreiche Werke zur Logik, Dichtung, Mathematik, Musik, Physik, Metaphysik und Ethik und legte mit „Die Prinzipien der Ansichten der Bürger eines vorzüglichen Gemeinwesens“ die erste Summa der Philosophiegeschichte vor, die seine einzelnen philosophischen Positionen systematisch präsentierte. Obendrein bestimmte er in seinen wissenschaftstheoretischen Schriften die Rolle der Philosophie innerhalb der Gesamtheit des Wissbaren und verortete sich selbst philosophiehistorisch, indem er sich in die Tradition des Alexandriner Aristotelismus stellte. So etablierte er systematisch und historisch den Aristotelismus als Zentrum der Philosophie – und schrieb sich selbst in es ein.

Neben den reihentypischen Werkverzeichnissen und Listen zur Forschungsliteratur erhöhen ein arabisches und ein griechisches Glossar, ein Sach- sowie ein Personenregister die Nutzbarkeit des Handbuchs. Mit diesem Band und den hoffentlich nicht in zu großer Ferne erscheinenden drei Folgebänden wird eine zuverlässige, souverän disponierte, von führenden Fachvertretern geschrieben Geschichte der Philosophie in der islamischen Welt vorliegen, die geeignet ist, dieser nicht nur im Bücherregal, sondern als wissensgeschichtlicher und intellektueller Ressource neben der antiken, der lateinisch-mittelalterlichen und der frühneuzeitlichen und neuzeitlichen Philosophie europäischer Prägung einen Platz zu sichern.