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Titel
Sophies Schwester. Inge Scholl und die Weiße Rose


Autor(en)
Hikel, Christine
Reihe
Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 94
Erschienen
München 2013: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
VII, 278 S.
Preis
€ 29,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Birgit Sack, Gedenkstätte Münchner Platz Dresden / Stiftung Sächsische Gedenkstätten

Wer sich mit der „Weißen Rose“ befasst, kommt an Inge Aicher-Scholl nicht vorbei. Die 1917 geborene und 1998 verstorbene Schwester von Sophie und Hans Scholl hat die Rezeptionsgeschichte ihrer jüngeren Geschwister wie auch der gesamten Widerstandsgruppe über zwei Jahrzehnte entscheidend geprägt. Pünktlich zum 70. Jahrestag der Hinrichtung der Geschwister Scholl ist nun Christine Hikels Monographie „Sophies Schwester“ erschienen. Dabei handelt es um keinen weiteren Beitrag zu der in der historischen Forschung immer noch umstrittenen Ereignisgeschichte des Widerstands der „Weißen Rose“.1 Der Autorin, die inzwischen als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität der Bundeswehr in München forscht, geht es in ihrer 2011 an der Universität Bielefeld abgeschlossenen Dissertation vielmehr um das Verhältnis, das Inge Scholl zu ihren Geschwistern über deren Hinrichtungstod hinaus aufrecht erhielt. Zentrale Quellengrundlage der Studie ist der Nachlass Inge Scholls, der sich seit 2005 im Münchner Institut für Zeitgeschichte befindet. So ist es besonders sinnvoll, dass das Buch in einer Reihe dieses Instituts erscheint.

Überlebende Freunde und Angehörige empfanden nach 1945 häufig Schuldgefühle, und es entwickelte sich der Wunsch, die Hingerichteten in der Erinnerung weiterleben zu lassen. Das dürfte auch bei Inge Scholl der Fall gewesen sein. Als „ewige Schwester“ blieb ihr eigenes Leben eng mit dem „Vermächtnis“ der Weißen Rose verbunden. Sie war es, „die die (Widerstands-)Biografien ihrer hingerichteten Geschwister schrieb, deren geistiges Erbe definierte und verwaltete und deren Geschichte immer wieder für die Nachkriegsgeschichte redigierte, aktualisierte und interpretierte“ (S. 1).

Hikel analysiert in einem eindrucksvollen Längsschnitt die Rolle einer Zeitzeugin für die mediale Vermittlung von Kenntnissen über den Widerstand. Sie untersucht am Beispiel Inge Scholls, wie familiäres biografisches Wissen in die herrschenden politischen, gesellschaftlichen und historischen Diskussionen einfloss und unter welchen Umständen es sich durchsetzen konnte oder auch nicht. Ein zentraler Befund lautet, dass Inge Scholl ihre eigene Biografie immer wieder umdeutete. Das wiederum hatte Rückwirkungen darauf, wie sie den Widerstand ihrer Geschwister interpretierte und interpretiert wissen wollte.

Das Innovative an dieser Studie ist, dass die Autorin beide Seiten aufeinander bezieht: Inge Scholl sowie die Adressaten des von ihr vermittelten Geschichtsbilds. Hikel versteht ihre Forschungen insofern als Ergänzung zu den sozialpsychologischen Arbeiten etwa von Harald Welzer2, die zeigen, wie gesellschaftlich vermittelte Wissensbestände über die nationalsozialistische Diktatur in das familiäre Gedächtnis integriert werden. Der zeitliche Schwerpunkt von Hikels spannend zu lesender Arbeit liegt auf der „alten“ Bundesrepublik, auf jenen Jahren also, die Inge Scholl als Angehörige der Generation der „45er“ mitprägte.

Die Verfasserin wendet sich eingangs Inge Scholls Biografie bis 1945 zu. Sie analysiert, wie Inge Scholl, die in den Widerstand ihrer Geschwister nicht eingeweiht war, deren Handeln rekonstruierte und interpretierte. Eine zentrale Rolle spielte dabei ihre eigene Hinwendung zum Katholizismus, den sie wiederum als zentrale Motivation für den Widerstand ihrer Geschwister ausmachte. Indem sie deren Widerstand als christliches Selbstopfer deutete, das die schwere Schuld des deutschen Volkes ausgleichen und „eine Brücke der Versöhnung in die Zukunft schlagen“ sollte (zitiert auf S. 41), war ihr Interpretationsangebot nach Kriegsende anschlussfähig an die kursierenden Erzählungen über den Nationalsozialismus. Mehr noch: Weil sie den Widerstand als ein von vornherein zum Scheitern verurteiltes Unternehmen beschrieb, das gleichwohl Zeugnis vom „besseren“ Deutschland ablege, etablierte sich Inge Scholls Geschichte der „Weißen Rose“ als „positive Gegenerzählung“ zur „Verbrechensgeschichte des Nationalsozialismus“ (S. 245). Später variierte Inge Scholl ihre Interpretation und politisierte sie zugleich, indem sie den Widerstand ihrer Geschwister als Kampf um Demokratie und Freiheit beschrieb. Diese Deutung fügte sich nahtlos in den freiheitlich-demokratischen Grundkonsens der Bundesrepublik ein, der im Kalten Krieg antikommunistisch geprägt war, und trug zur Popularität von Inge Scholls 1952 erstmals erschienenem Buch „Die weiße Rose“ bei.

Eine besondere Bedeutung hat für Hikel – in Bielefeld war sie Stipendiatin des Graduiertenkollegs „Archiv – Macht – Wissen“ – das Archiv als „Ort der Generierung, Selektion, Aufbewahrung und Legitimierung von historischen Wissensbeständen“ (S. 3). Die Frage, wer wann was wusste und wie er oder sie mit diesem Wissen oder Nichtwissen umging, spielte beim Aushandeln des Bilds, welches über die „Weiße Rose“ vermittelt wurde, eine wichtige Rolle. Die Legitimität der nahen Familienangehörigen der „Weißen Rose“, allen voran Inge Scholls, beruhte nicht nur auf dem ihnen unterstellten „authentischen“ Wissen als unmittelbare Zeitzeugen. Die zweite tragende Säule war das von Inge Scholl aufgebaute, nicht frei zugängliche Familienarchiv. Die staatliche Überlieferung war jahrzehntelang noch weniger zugänglich.

Die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen der 1960er-Jahre beendeten das „Gedenkmonopol“ Inge Scholls.3 Mit Christian Petrys Studie von 1968 lieferte erstmals eine wissenschaftliche Arbeit ein konkurrierendes Deutungsangebot zur Zeitzeugenschaft.4 Seine „Geschichte von amateurhaftem Leichtsinn und politischer Ignoranz“ (so Hikel, S. 246) fiel in eine Zeit, als im Zuge der Studentenbewegung Antikommunismus als positiver Gegenwartsbezug der Widerstandsgeschichte der „Weißen Rose“ an Bedeutung verlor. Die „Weiße Rose“ ließ sich nicht mehr in das aktuelle Weltbild integrieren. Eine besondere Ironie liegt darin, dass Inge Scholls Interpretationsangebot von den „68ern“ als unpolitisch und idealistisch zurückgewiesen wurde, während Scholl selbst jedoch als gemäßigte Linke in Reaktion auf den RAF-Terrorismus in den „bleiernen Jahren“ der Sympathisantenszene zugeordnet wurde. An der weiteren Entwicklung der „Weiße-Rose“-Rezeption nahm Inge Scholl nur noch hinter den Kulissen Anteil. Aber auch in dieser späten biografischen Phase blieb ihr Leben weiter auf das ihrer Geschwister bezogen.

Wie die Autorin zu Recht anmerkt, ist das engere Thema der Studie, nämlich die Rezeptionsgeschichte des Widerstands gegen die NS-Diktatur in der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit, ein bislang noch unterbelichtetes Forschungsfeld. Bisherige Ansätze sind eher statisch orientiert; sie betonen etwa die bewusst einseitige Traditionsbildung in der Bundesrepublik und der DDR, die den jeweils anderen Widerstand ausschloss.5 Hikels Befund, dass Erinnertes von Akteuren abhängt, die „mit der Erinnerung an bestimmte Ereignisse und Personen ihre eigenen Ansprüche auf Partizipation und Vorstellungen von Gegenwart und Zukunft durchzusetzen versuchen“ (S. 248), arbeitet an einem konkreten Beispiel stark den Prozess- und Aushandlungscharakter von Erinnerung heraus. Um diesen überzeugenden Befund weiter zu verfolgen, bietet es sich an, vergleichend die Rezeption des Widerstands vom 20. Juli 1944 zu beleuchten.6 Interessant wäre auch die Einbeziehung des Umgangs mit der „Weißen Rose“ in der DDR, die offenbar an die dortige „antifaschistische“ Gedenkkultur ebenfalls anschlussfähig war. Davon zeugen die zahlreichen Straßen und Schulen, die in der DDR nach den Geschwistern Scholl benannt wurden, ebenso wie eine Briefmarke aus dem Jahr 1961. So ist zu hoffen, dass Christine Hikels gelungene und lesenswerte Arbeit weitere Forschungen anregen wird.

Anmerkungen:
1 Vgl. dazu in jüngerer Zeit: Sönke Zankel, Mit Flugblättern gegen Hitler. Der Widerstandskreis um Hans Scholl und Alexander Schmorell, Köln 2008 (rezensiert von Michael Kißener, 22.7.2008: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2008-3-049> [23.3.2013]); Detlef Bald / Jakob Knab (Hrsg.), Die Stärkeren im Geiste. Zum christlichen Widerstand der Weißen Rose, Essen 2012.
2 Vgl. z.B. Harald Welzer, Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung, München 2002.
3 So eine Formulierung in der Rezension von Rudolf Neumaier, Hüterin der Rose, 22.11.2012, URL: <http://www.sueddeutsche.de/kultur/buch-ueber-inge-scholl-hueterin-der-rose-1.1529727> (23.3.2013).
4 Christian Petry, Studenten auf Schafott. Die Weiße Rose und ihr Scheitern, München 1968.
5 Vgl. das Vorwort von Peter Steinbach, in: ders. / Johannes Tuchel (Hrsg.), Lexikon des Widerstandes 1933–1945, München 1994, S. 7–10.
6 Siehe als ältere Arbeit (mit Schwerpunkt auf den Gedenktagen) Regina Holler, 20. Juli 1944. Vermächtnis oder Alibi? Wie Historiker, Politiker und Journalisten mit dem deutschen Widerstand gegen den Nationalsozialismus umgehen. Eine Untersuchung der wissenschaftlichen Literatur, der offiziellen Reden und der Zeitungsberichterstattung in Nordrhein-Westfalen von 1945–1986, München 1994.