P. Döring: Ruhrbergbau und Elektrizitätswirtschaft

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Titel
Ruhrbergbau und Elektrizitätswirtschaft. Die Auseinandersetzung zwischen dem Ruhrbergbau und der öffentlichen Elektrizitätswirtschaft um die Steinkohlenverstromung von 1925 bis 1951


Autor(en)
Döring, Peter
Erschienen
Anzahl Seiten
550 S.
Preis
€ 39,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tim Schanetzky, Historisches Institut, Neuere und Neueste Geschichte, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Seit die Zeit „nach dem Boom“ historiographisch erschlossen wird, ist auch der wirtschaftliche Strukturwandel erneut in den Blick der Zeitgeschichte gerückt. Zwar ist mit der Finanzmarkt- und Staatsschuldenkrise verstärkt hervorgetreten, dass dieser im westdeutschen Fall keineswegs eine flächendeckende Deindustrialisierung bedeutete. Aber es fällt doch auf, wie viele Branchen seit Anfang der 1970er-Jahre aufgrund mangelnder Wettbewerbsfähigkeit ihr einstiges Gewicht einbüßten. Gemessen an den Wertschöpfungsbeiträgen und Beschäftigtenzahlen der 1950er-Jahre jedenfalls haben Bauwirtschaft und Textilindustrie, Schuh- und Lederindustrie, Bergbau sowie Eisen- und Stahlproduktion binnen zwei Jahrzehnten ihre ursprüngliche Bedeutung weithin verloren. Nirgends wurde der Schrumpfungsprozess freilich so in die Länge gezogen wie im Steinkohlebergbau: Wenn 2018 tatsächlich die letzte Zeche schließt, wird er fast sechs Jahrzehnte gedauert haben. Jedoch haben staatliche Subventionen allein nicht für das lange Überleben des Steinkohlebergbaus gesorgt. Mindestens ebenso wichtig war, dass es dem Ruhrbergbau 1951 gelang, sich in die öffentliche Stromversorgung einzuschalten und sich auf diese Weise einen Absatzmarkt zu sichern, der am Ende fast 80 Prozent seiner Förderung aufnahm. Es ist das Verdienst von Peter Döring, in seiner Bochumer Dissertation die lange und konfliktreiche Vorgeschichte dieses Arrangements zu rekonstruieren.

Bereits seit Mitte der 1920er-Jahre handelte es sich dabei um den Verteilungskampf einer schrumpfenden Branche. Die Sonderkonjunkturen des NS-Rüstungsbooms und des Wiederaufbaus konnten nichts daran ändern, dass der Steinkohle langfristig mit Öl und Gas, kurzfristig aber vor allem durch die viel preisgünstiger zu gewinnende Braunkohle eine auf vielen Absatzmärkten überlegene Konkurrenz erwuchs. Auf den damit verbundenen Preisdruck regierte der Bergbau mit einer ersten Rationalisierungswelle: Viele kleinere Zechen wurden geschlossen; Großschachtanlagen erleichterten den Einsatz moderner Fördertechnik; in der Kohlechemie erblickte man neue Absatzchancen. Eine weitere Möglichkeit zur Ausdehnung des Absatzes erkannte das Rheinisch-Westfälische Kohlensyndikat in der Steinkohleverstromung, die überdies den Vorteil bot, schwer marktgängige Kohlesorten wirtschaftlich zu nutzen. Gemessen an den niedrigen Selbstkosten des Braunkohle-Konkurrenten Rheinisch-Westfälisches Elektrizitätswerk (RWE) war Steinkohlestrom jedoch schon damals nicht wettbewerbsfähig. Das lag nicht nur an den Kosten der Steinkohleförderung, sondern auch daran, dass viele Zechenkraftwerke veraltet und für die öffentliche Stromversorgung unterdimensioniert waren. Zudem konnte das RWE mit seinem Verbundsystem aus Braunkohle- und Wasserkraftwerken optimal auf die Grund- und Spitzenlastbedürfnisse der schwankenden Stromnachfrage reagieren. Die RWE-Kraftwerke waren daher viel gleichmäßiger ausgelastet und arbeiteten entsprechend günstig.

Dies ist die Ausgangskonstellation für den Konflikt, den Dörings Studie akribisch rekonstruiert: Weil sich das Stromnetz in Rheinland und Westfalen im Besitz der halböffentlichen Energiekonzerne RWE und VEW (Vereinigte Elektrizitätswerke Westfalen) befand und diese den Markt unter sich aufgeteilt hatten, war der Absatz zusätzlicher Steinkohlemengen auf dem Weg der Verstromung nur zu deren Preisvorstellungen möglich. Da der Bergbau seinen Steinkohlestrom aber nicht subventionieren mochte, scheiterten die Verhandlungen. Erst die Rüstungsexpansion des Dritten Reiches brachte eine Veränderung. Der Bau von Treibstoff- und Gummisynthesewerken und einer Aluminiumhütte ließ den Strombedarf an Rhein, Ruhr und Lippe in die Höhe schnellen, und infolgedessen gelang dem Steinkohlebergbau ein erster Erfolg: Mit Gründung der STEAG (Steinkohlen-Elektrizität AG) bekam er auf Kosten der VEW tatsächlich einen Fuß in die Tür des Strommarktes. Allerdings schlugen sich die Vierjahresplanbürokraten nicht vorbehaltlos auf eine Seite der Konfliktparteien, sondern verfolgten ihre eigenen Interessen, indem sie niedrige Strompreise für die neuen Großabnehmer durchsetzten. Zwar hielt das Intrigenspiel bis Kriegsende an, indem RWE und STEAG versuchten, die staatlichen Rüstungsinteressen jeweils für sich zu instrumentalisieren – doch ein entscheidender Durchbruch in diesem „Denkschriftenkrieg“ gelang keiner der beiden Parteien.

Nachdem die Deutsche Kohlenbergbauleitung Ende der 1940er-Jahre ein großangelegtes Neubauprogramm für Steinkohlekraftwerke vorgeschlagen hatte, fand man schließlich 1950/51 zu einem Kompromiss. Die vom Bergbau immer wieder ins Feld geführte Idee, ein konkurrierendes Stromverbundnetz aufzubauen, war nun endgültig vom Tisch. Stattdessen konnten die Zechen fortan ihren Strom über das RWE- und VEW-Netz transportieren. Dies schuf die Voraussetzung für den Bau moderner Steinkohlekraftwerke. In den Bergwerken nicht benötigter Strom konnte bis zu einer vertraglich festgelegten Obergrenze eingespeist werden – das ermöglichte eine gleichmäßigere Auslastung der Steinkohlekraftwerke. Vereinfacht wurde der Kompromiss vor allem dadurch, dass die Energienachfrage schon im Korea-Boom weitaus schneller stieg als noch am Ende der 1940er-Jahre prognostiziert. Während die unter Kapitalmangel leidenden VEW durch den Kompromiss zusätzliche Strommengen erhielten, ohne selbst in den Ausbau ihrer Kraftwerke investieren zu müssen, sicherte das RWE mit dem taktischen Zugeständnis seine Marktposition: Das ursprüngliche Neubauprogramm des Ruhrbergbaus war vom Tisch. Der Konzern hatte damit zugleich seine Unternehmensstrategie verteidigt und investierte in neue Braunkohlekraftwerke.

Dörings Studie ist ein Muster an deskriptiver Präzision, die eine Fülle von Kontextinformationen, statistischen oder biographischen Details mit bewundernswerter Genauigkeit rekonstruiert. Weniger wäre dabei manchmal mehr gewesen: Nicht in jedem Fall erschließt sich der Nutzen des ausufernden Anmerkungsapparates, der auch für weniger bedeutsame Sachinformationen doppelte oder vierfache Nachweise erbringt. Oft wird der Konflikt so nah an den Quellen rekonstruiert, dass sich der Leser fragt, ob dieses oder jenes Detail für den Gang der Argumentation nicht verzichtbar gewesen wäre. Entscheidend ist aber etwas anderes: Döring enthält sich jeglicher Analyse, die über die Rekonstruktion des Konflikts im engeren Sinne hinausginge. Dabei wirft dieser doch spannende Fragen auf – etwa die nach der Handlungslogik der Akteure, von denen in der chronologisch aufgebauten Arbeit bemerkenswert selten die Rede ist. Zwar betont Döring in seinem Fazit, dass nur schwerlich von „dem“ Ruhrbergbau gesprochen werden könne, weil divergierende Interessen immer wieder für Uneinigkeit unter den Zechengesellschaften gesorgt hätten. Auch waren manche Akteure qua Amt auf beiden Seiten des Konflikts aktiv. Aber insgesamt fällt doch auf, wie häufig im Kollektivsingular von „der Steinkohle“ oder „der Braunkohle“ die Rede ist. Warum aber hielt der Ruhrbergbau trotz aller Misserfolge und über derart einschneidende politische Zäsuren hinweg so ausdauernd an seiner Position fest?

Döring führt zur Beantwortung dieser zentralen Frage die zeitgenössischen Begründungen an, die in der Gesamtschau jedoch eigentümlich arbiträr und austauschbar wirken. Eher entsteht der Eindruck, dass hier immer auch Machtfragen verhandelt und in die jeweils passenden technisch-ökonomischen Argumente gekleidet wurden. In diesem Sinne ist der Konflikt um die Steinkohleverstromung auch ein aufschlussreiches Kapitel über die Entstehung einer unternehmerischen Mentalität, die sich über die Preissignale des Marktes hinwegsetzt und stattdessen ihr Heil in politischen Lösungen sucht. Dieses Verhaltensmuster prägte ja längst nicht nur den mit vielen Steuermilliarden sanft abgefederten Strukturwandel des Steinkohlebergbaus, sondern wurde zum eigentlichen Markenzeichen jener hochgradig politisierten Umverteilungsmaschine für Subventionen und Fördergelder, als die wir die Energiewirtschaft heute kennen. Indem sie über derartige mentalitätsgeschichtlich bedeutsame Fragen hinweggeht, vergibt die Arbeit leider die Chance, mit dem weit zurückliegenden Konflikt um die Steinkohleverstromung auch eine Vorgeschichte der Gegenwart zu schreiben.

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