Cover
Titel
After Empires. European Integration, Decolonization, and the Challenge from the Global South 1957–1985


Autor(en)
Garavini, Giuliano
Reihe
Oxford Studies in Modern European History
Erschienen
Anzahl Seiten
291 S.
Preis
£ 65.00 / € 85,89
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Rempe, Fachbereich Geschichte und Soziologie, Fach Geschichte, Universität Konstanz

Giuliano Garavini hat ein wichtiges Buch geschrieben, zumal bislang kein vergleichbares Werk vorliegt, das die Geschichte des europäischen Integrationsprozesses mit der Geschichte des Nord-Süd-Konflikts systematisch in Beziehung zu setzen sucht. Daher ist es sehr zu begrüßen, dass das Werk, das auf Garavinis an der Universität Florenz entstandenen Dissertation fußt und bereits auf Italienisch veröffentlicht ist, nun in überarbeiteter englischer Übersetzung vorliegt und so einer breiteren Leserschaft zugänglich gemacht wird.

Ganz zu Recht verweist der Autor eingangs darauf, dass die gängigen Synthesen zur europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts den genannten zwei Phänomenen zu wenig Aufmerksamkeit schenken. Zugleich leistet er auch auf dem Feld der europäischen Integrationsgeschichte, in dem seine Studie letztlich zu verorten ist, Pionierarbeit, da sich dort der Blick über den europäischen Tellerrand bislang vorwiegend auf die transatlantischen Beziehungen, nachrangig auch auf die europäisch-afrikanischen Beziehungen beschränkt hat. Garavinis zentrale These folgt (unausgesprochen) inzwischen breit rezipierten verflechtungsgeschichtlichen Annahmen: die Entstehung des „globalen Südens“ im Zuge der Dekolonisation habe sich auch auf den europäischen Integrationsprozess ausgewirkt. Dabei argumentiert er, dass der europäische Integrationsprozess keineswegs in ein nach innen gerichtetes wirtschaftsliberales Binnenmarktprojekt münden hätte müssen, wie es sich dem Autor zufolge seit 1986 mit der Einheitlichen Europäischen Akte deutlich abzeichnete. An den Beziehungen der EG zum globalen Süden ließe sich vielmehr ablesen, dass noch bis Anfang der 1980er-Jahre andere Wege möglich gewesen wären.

Seiner These möchte der Autor mit Blick auf individuelle Persönlichkeiten, europäische Institutionen, soziale Bewegungen sowie innenpolitische und gesellschaftliche Entwicklungen in Europa nachgehen. Dieser Zugriff wird weitgehend eingelöst, verlangt allerdings einen gewissen Preis: Der „globale Süden“ erscheint zu häufig als monolithischer Block, rückt als handelnder Akteur mitunter an den Rand, und streckenweise gerät er gar ganz aus dem Blickfeld. Freilich ist eine derartige Asymmetrie der „Rückwirkungsforschung“ insgesamt zu Eigen (auf die sich Garavini wie erwähnt nicht explizit bezieht), weil sie nun mal ihren Fokus auf die Metropolen bzw. hier auf Europa richtet. Nichtsdestoweniger bleibt es problematisch, einem „impact“ (S. 3) nachspüren zu wollen, ohne dessen Träger ausreichend analytischen Raum zu geben. Garavinis „Rückwirkungen“ reduzieren sich folglich im Wesentlichen auf bekannte Verdachtsmomente: das Jahr 1968 und seine Folgen sowie die Ölkrise von 1973 und ihre Auswirkungen.

Dies zeigt sich auch an der Kapitelgliederung. Die ersten beiden Kapitel widmen sich zum einen der Entstehung der „Dritten Welt“ einschließlich der Entstehungsgeschichte der UNCTAD und zum anderen der Anfangsphase der EWG; sie dienen gewissermaßen als (lange) Ouvertüre. Das dritte Kapitel – ein Intermezzo – beleuchtet das Jahr 1968 als einschneidende Zäsur, ehe die Kapitel vier bis sechs in drei chronologisch gegliederten Akten den Aufstieg der EWG zum privilegierten Partner des Südens infolge von ’68, den Ölpreisschock von 1973 und schließlich die daraus resultierenden Nord-Süd-Dialoge bis 1979 thematisieren. Die zweite Ölkrise und der (erneute) Schwenk in der US-amerikanischen Währungspolitik bilden die Folie des „Epilogs“, der sich wie ein siebtes Kapitel liest.

Auf rund 260 Seiten entfaltet der Autor sein Narrativ über Europas Willen und Unwillen, sich als Dritte Kraft zu profilieren und dem globalen Süden eine ernsthafte Alternative zur Politik der Supermächte zu bieten. Dabei wird der globale Süden teils durch die Blockfreie Bewegung, teils durch die Gruppe der 77 bzw. die UNCTAD und nicht zuletzt durch die OPEC-Staaten operationalisiert. In ihrer Frühphase, so Garavini, fehlte es der EWG an jeglichen Ambitionen, die Nord-Süd-Beziehungen aktiv mit zu gestalten. Stattdessen beschränkte sich die Gemeinschaft im Rahmen der von Frankreich vehement geforderten Assoziierung der überseeischen Länder und Hoheitsgebiete auf eine regionale Entwicklungspolitik für die (ehemals) kolonialen Territorien der Mitgliedsstaaten. Den politischen und ökonomischen Herausforderungen, die sich seit Bandung mit der Gründung der Gruppe der 77 im Jahr 1964 bzw. im Rahmen der UNCTAD ergaben, war die EWG nicht gewachsen. Dies lag dem Autor zufolge daran, dass es nicht gelang, die EWG in den 1960er-Jahren jenseits von Gemeinsamem Markt und Gemeinsamer Agrarpolitik zu einem identitätsstiftenden politischen Projekt zu formen, das außen- und wirtschaftspolitisch motivierte nationale Interessenpolitik überwinden hätte können.

Wesentlich näher kam die Gemeinschaft einem derartigen Projekt im Laufe der 1970er-Jahre, was Garavini zum einen an der Pariser Deklaration von 1972 und dem Bekenntnis zu einer übergreifenden Entwicklungszusammenarbeit im globalen Maßstab festmacht und zum anderen an dem Dokument über die europäische Identität, verabschiedet in Kopenhagen im Dezember 1973. Der Autor misst den gesellschaftspolitischen Ereignissen von 1968 eine Schlüsselrolle für diese Entwicklungen bei, zumal die gesellschaftlichen Proteste nicht nur den europäischen Nationalismus und Egoismus kritisierten, sondern auch das vorherrschende Wachstumsparadigma und allgemein die moderne kapitalistische Gesellschaft. Insbesondere der American way of life als globales gesellschaftliches Leitbild geriet durch die europäischen Studentenbewegungen (teils in Liaison mit der Arbeiterbewegung) und neue, neo-marxistisch inspirierte ökonomische Ansätze ins Hintertreffen.

Der gesellschaftlichen Distanzierung folgte, auch aufgrund der unilateralen Abkehr der USA vom Bretton-Woods-System, die Abkühlung der politischen transatlantischen Beziehungen. Zugleich radikalisierte sich die Gruppe der 77 in deutlicher Abgrenzung zu den USA, sodass die EWG in die Lücke stieß und Garavini zufolge zum „most favored partner“ des globalen Südens aufstieg: Europäisch-arabischer Dialog; Kooperationsabkommen im Mittelmeerraum; Lomé-Partnerschaft; Einleitung der G7-Treffen und des Nord-Süd-Dialogs vor dem Hintergrund der Ölkrise: in all diesen internationalen Foren manifestierte sich das zunehmende außen- und entwicklungspolitische Prestige der Gemeinschaft und ihre gewachsene Attraktivität für den globalen Süden in den 1970er-Jahren.

Die Bilanz fiel allerdings ernüchternd aus, da materielle Ergebnisse im Rahmen des Nord-Süd-Dialogs, sei es das von den Entwicklungsländern geforderte „Integrierte Rohstoffprogramm“ oder ein Schuldenmoratorium für die vom Ölpreisschock am stärksten betroffenen Länder, ausblieben. Bereits ab 1977 wandte sich die Gemeinschaft wieder verstärkt internen Problemen zu, so unter anderem der zweiten Erweiterung und der Frage der Währungsstabilisierung, bevor die zweite Ölkrise und die Deflationspolitik der US-Regierung die fragile Nord-Süd-Solidarität ebenso wie jene innerhalb des globalen Süden endgültig zerbrechen ließen und die neoliberale Wende einläuteten. Letztlich, so resümiert Garavini, habe es die EWG nicht geschafft „to become the center of a new universalism, in a world with new regional actors that were now imposing themselves on the two superpowers of the Cold War“ (S. 261).

Garavinis Studie ist enorm kenntnis- und detailreich; insbesondere die Einbettung der vielfältigen politischen Verhandlungsprozesse in wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen in Europa ist beeindruckend. Anhänger einer wohlfeil austarierten Berücksichtigung der zahlreichen Akteure werden allerdings enttäuscht: So nehmen unter anderem italienische und sozialistische bzw. sozialdemokratische Meinungsbildungsprozesse weit größeren Raum ein als deutsche – die vor allem im ersten Teil der Darstellung marginal ausfallen – oder solche innerhalb des globalen Südens; christdemokratische wie neoliberale Positionen fallen gar gänzlich unter den Tisch. Und auch die Entwicklungspolitik der EWG in den 1960er-Jahren kommt zu kurz, zumal dort teils dieselben Themen wie im Rahmen der UNCTAD aufs Tapet gelangten und dadurch Erfahrungswerte gesammelt wurden, die der Gemeinschaft und ihren Mitgliedsstaaten in den späteren globalen Foren von Nutzen waren.

Diese Schwerpunktsetzungen bzw. Auslassungen kommen nicht von ungefähr, da Garavinis Buch nicht zuletzt ein politisches ist: So begibt sich „After Empire“ auch auf die (vergebliche) Suche nach einem besseren, sozialdemokratischen Europa, das in den 1970er-Jahren, gleichsam der Sattelzeit zwischen den trente glorieuses und der neoliberalen Globalisierung, das Ruder noch herumreißen und (gegen den Widerstand der USA) für eine gerechtere Weltwirtschaftsordnung sorgen hätte können. Manch’ Leserin und Leser mag sich an dieser alteuropäischen Sozialromantik stören. Forschungspragmatisch betrachtet fordert seine politisch eingefärbte Interpretation jedenfalls eine genaue Überprüfung geradezu heraus. Und genau zu diesem Zweck werden Pionierstudien letztlich geschrieben. Daher ist dem Buch eine breite Rezeption innerhalb der europäischen Integrationsgeschichte und darüber hinaus nur zu wünschen.

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