Cover
Titel
History in the Plural. An Introduction to the Work of Reinhart Koselleck


Autor(en)
Olsen, Niklas
Erschienen
New York 2012: Berghahn Books
Anzahl Seiten
VIII, 338 S.
Preis
$ 95.00 / £ 55.00 / € 71,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Achim Saupe, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Niklas Olsens „History in the Plural“ ist die erste Monografie zum Gesamtwerk Reinhart Kosellecks (1923–2006). Olsens Studie ist als intellektuelle Biografie und zugleich als thematische Einführung konzipiert, die sich an Kosellecks Werdegang orientiert und in kleineren Exkursen immer wieder auf das politische und akademische Klima in seinem Umfeld eingeht.

Nach einem kürzeren biografischen Einstieg über Familie, Erziehung, Kriegserfahrung (die Koselleck in seinem Spätwerk aufgriff und die deshalb am Ende des Buchs noch einmal vorkommt) sowie über das Studium widmet sich Olsen zunächst Kosellecks Dissertation „Kritik und Krise“. Diskutiert wird hier insbesondere der Einfluss Carl Schmitts, wobei sich Olsen auf Kosellecks Briefwechsel mit Schmitt stützen kann.1 Allzu dichte Bezüge zum Werk Schmitts vermied Koselleck in der publizierten Fassung (1959); ebenso strich er zunächst scharf formulierte Kritiken heraus, etwa gegen Friedrich Meinecke. Olsen hält sich dabei zurück, das politische Profil seines Protagonisten näher einzuschätzen, aber er zeigt, wie zum Beispiel das konservative Interpretament des „Weltbürgerkriegs“ für Koselleck allmählich an Bedeutung verlor. Das änderte freilich nichts daran, dass er zunächst als konservativer Historiker rezipiert wurde, etwa von Jürgen Habermas (vgl. S. 69–74, S. 81–85). Ausgehend von einem Brief Kosellecks an Schmitt aus dem Jahr 1953 – der trotz der Bedeutung, die Olsen ihm zumisst, leider nur auszugsweise wiedergegeben wird – verweist Olsen auf Kosellecks kritische Auseinandersetzung mit dem Historismus und auf frühe Versuche, im Anschluss an Heidegger dem Werterelativismus des Historismus eine ontologisch, später anthropologisch konzipierte Historik entgegenzustellen. Olsen ist es bewusst, dass die biografische Darstellungsform mitunter dazu neigt, Brüche zu glätten (S. 304). Dennoch unterliegt er hier und andernorts zuweilen der biografischen Illusion, an der Einheit seines Subjekts arbeiten zu müssen: Für vieles, was in späteren Phasen von Kosellecks Werk relevant wurde, glaubt Olsen schon Fingerzeige in der Frühphase des intellektuellen Schaffens nachweisen zu können.

Dies gilt auch für Teile des dritten Kapitels, welches sich der Entstehung der maßgeblich von Werner Conze angeregten Habilitation Kosellecks widmet: „Preußen zwischen Reform und Revolution“ (veröffentlicht 1967). So hebt Olsen hervor, dass schon in Kosellecks Beschäftigung mit dem Vormärz das Interesse für eine Theorie historischer Zeiten zu entdecken sei. In der – von Werner Conze ebenfalls mit angeregten – Auseinandersetzung mit Fernand Braudel entwickelte Koselleck ein tieferes Verständnis des Fortschrittsoptimismus der Moderne und ihrer linearen Geschichtskonzeptionen, denen er entgegenhielt, dass historische Akteure durch unterschiedliche Zeitverständnisse beschrieben werden könnten. Darüber hinaus wird deutlich, dass Koselleck, der sein begriffsgeschichtliches Interesse seit der Mitte der 1960er-Jahre als eine Variante der Sozialgeschichte bezeichnete, der Strukturgeschichte ebenso wie der Historischen Sozialwissenschaft gegenüber reserviert blieb.

Dem Programm und der Umsetzung der „Geschichtlichen Grundbegriffe“, mit denen prägnante Formeln entstanden wie die Hervorhebung von „Kollektivsingularen“ im Rahmen der „Sattelzeit“ um 1800, geht Olsen in einem kürzeren Kapitel nach. Knapp umrissen werden die Tradition begriffsgeschichtlicher Ansätze im deutschsprachigen akademischen Diskurs, Kosellecks pragmatische und bei Sprachwissenschaftlern umstrittene Definition von „Grundbegriffen“ sowie die internationale Rezeption des enzyklopädischen Standardwerks. Nochmals diskutiert wird der Einfluss Carl Schmitts, aber auch Werner Conzes und Otto Brunners, wobei Olsen als wichtigsten Gegensatz zu Schmitt das Bestreben Kosellecks ausmacht, der Ideologisierbarkeit und Politisierbarkeit von Begriffen durch die historische Analyse der politisch-sozialen Sprache entgegenzuarbeiten (S. 190).

Während Koselleck beim Abschluss der „Geschichtlichen Grundbegriffe“ die formalen, aber auch methodologischen Zwänge des Vorhabens selbst reflektierte, entstanden parallel zahlreiche empiriegesättigte, mittlerweile klassische Aufsätze zur Historiografiegeschichte und zu methodologisch-theoretischen Fragen, zur „Theoriebedürftigkeit“ der Geschichte, über „Standortbindung und Zeitlichkeit“, oder aber die Arbeiten im Hinblick auf eine Theorie historischer Zeiten. Wie viel Koselleck selbst an ihnen lag, zeigt nicht zuletzt die Tatsache, dass er die verstreut publizierten Aufsätze in späteren Jahren nochmals in mehreren Bänden bündelte. Olsen verdeutlicht, dass Koselleck immer eine theoretisch informierte und reflektierte Geschichtsschreibung betrieb, die gleichzeitig dem Modus historischer Untersuchung verpflichtet blieb und so auch als Modell zur Nachahmung fungieren konnte. Ob sich Koselleck aber als „a proponent of perspectival plurality in historical writing“ sah (S. 236) und ob er einem ironischen Modus im Sinne Hayden Whites verpflichtet war (S. 240), hätte genauer hinterfragt werden können, wenn die Arbeit selbst eine narrativ informierte Perspektive eingeschlagen hätte.

Geschichte im Plural zu denken und zu schreiben – das ist für Olsen das charakteristische Merkmal von Kosellecks Werk. Diesen Pluralismus verankert Olsen in Kosellecks Kritik diverser Utopismen und relativistischer Ansätze. Damit schließt er an eine von Jacob Taubes 1973 unternommene Interpretation an.2 So überzeugend dies zunächst erscheint, vermisst man doch eine systematische Darstellung dessen, was Koselleck in unterschiedlichen Phasen seines Lebens als Utopismus und Relativismus entzifferte. So kann unter ersterem die neuzeitliche Verzeitlichung der Utopie, die Genese des modernen Fortschrittsdenkens, universalhistorisches Erzählen, der deutsche Idealismus oder auch der historische Materialismus verstanden werden. Ebenso bleiben die Spielarten des Relativismus, von denen sich Koselleck Olsen zufolge immer wieder distanzierte, im Hinblick auf ihre unterschiedlichen ideengeschichtlichen Traditionen weitgehend unreflektiert – von den verschiedenen historistischen Strömungen bis zum referentiellen Skeptizismus Hayden Whites. Diese Differenzen werden nicht negiert, doch hätte ein stärker problemorientierter Zugang sie deutlicher herausarbeiten können.

Ein gutes Argument für die Pluralität der Geschichte bei Koselleck wäre es auch gewesen, wenn Olsen stärker darauf eingegangen wäre, dass das vielzitierte „Vetorecht der Quellen“ nicht nur für eine Distanzierung gegenüber relativistischen Ansätzen stand, sondern gleichzeitig eine bemerkenswerte antipositivistische Komponente in sich trug. Denn Koselleck verwies darauf, dass die Quellen „uns nicht sagen, was wir sagen sollen“. Insofern hätte stärker unterschieden werden können zwischen Kosellecks Analysen der Praxis des Schreibens von Geschichte und der kritischen Analyse vergangener historischer Erfahrungen und Handlungsoptionen.

Entgegen Gadamers Hermeneutik, die die Analyse historischer Erfahrung ausschließlich an deren sprachliche Überlieferung bindet, sollten Historiker nicht nur die in Sprache ausgedrückten Erfahrungen geschichtlicher Subjekte beachten, sondern ebenso das, was hätte gesagt werden können, so Koselleck noch 2005 (vgl. S. 184). Olsen wertet dies als ein Indiz für Kosellecks Interesse, die historisch-spezifischen Bedingungen und damit auch die Grenzen des Sagbaren zu erforschen. Das ist schließlich auch ein wichtiger Punkt des letzten Kapitels, wo Olsen zu Kosellecks Auseinandersetzung mit der eigenen Kriegserfahrung zurückkehrt. Er verbindet dies mit einer Darstellung der Studien zur Ikonografie des Totenkults und den in den 1990er-Jahren entstandenen Essays, mit denen Koselleck in die Geschichtspolitik der Berliner Republik einzugreifen versuchte. Ein besonderes Augenmerk legt Olsen dabei auf Kosellecks Ausführungen zum „Vetorecht persönlicher Erfahrung“, das dieser dem Gedächtnisboom der 1990er-Jahre entgegensetzte. Das Insistieren auf eine individuelle, verkörperlichte, kaum zu vermittelnde Erinnerung war – wie Olsen deutlich macht – problematisch, da der implizite Relativismus dem Bestreben gegenübersteht, als Historiker Generalisierungen vornehmen zu müssen.

Angesichts der breiten Würdigung von Kosellecks Werk, insbesondere durch seine Wegbegleiter und Schüler3, war es für Niklas Olsen kein leichtes Vorhaben, als erster eine Gesamtschau dieses facettenreichen Œuvres zu liefern. Dem Autor ist dies aber gelungen, und sein Verdienst ist es, Reinhart Koselleck als einen der wichtigsten deutschen Historiker der Nachkriegszeit gerade dem englischsprachigen Fachpublikum gebührend vorzustellen.

Anmerkungen:
1 Weiteres Archivmaterial konnte für die Studie noch nicht herangezogen werden, was auch an der Überführung des Koselleckschen Nachlasses in das Marbacher Literaturarchiv liegt, der dort hoffentlich bald für die Forschung zugänglich gemacht werden kann.
2 Jacob Taubes, Geschichtsphilosophie und Historik: Bemerkungen zu Kosellecks Programm einer neuen Historik, in: Reinhart Koselleck / Wolf-Dieter Stempel (Hrsg.), Poetik und Hermeneutik V. Geschichte – Ereignis und Erzählung, München 1973, S. 490–499.
3 Vgl. etwa Hans Joas / Peter Vogt (Hrsg.), Begriffene Geschichte. Beiträge zum Werk Reinhart Kosellecks, Frankfurt am Main 2011 (siehe dazu meine Rezension in: H-Soz-u-Kult, 01.03.2012, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2012-1-145> [17.02.2013]).