M. Hewitson u.a. (Hrsg.): Europe in Crisis

Cover
Titel
Europe in Crisis. Intellectuals and the European Idea, 1917–1957


Herausgeber
Hewitson, Mark; D’Auria, Matthew
Erschienen
New York 2012: Berghahn Books
Anzahl Seiten
350 S.
Preis
$ 95.00 / £ 56.00 / € 75,55
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Florian Greiner, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Der vorliegende Sammelband, der auf eine Ende 2008 am Centre for European Studies des University College London abgehaltene Tagung zu den ideengeschichtlichen Vorläufern der Europäischen Gemeinschaften zurückgeht, reiht sich inhaltlich in neuere Ansätze innerhalb der Europa-Historiographie ein, die versuchen, Europavorstellungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts primär als Ausdruck eines Krisendiskurses zu interpretieren. Insbesondere Hartmut Kaelble hat nachdrücklich auf die konstitutive Bedeutung einer politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Bedrohungsidentität für das europäische Selbstverständnis in diesem Zeitraum hingewiesen.1

Ziel des Bandes ist denn auch, die Wirkmächtigkeit und zugleich die Europäizität jener Krisendebatte gerade unter europäischen Intellektuellen nachzuzeichnen. Damit könne, wie die beiden Herausgeber Mark Hewitson und Matthew D’Auria einleitend betonen, erstens die Trennung zwischen dem Projekt „Europa“ und der Idee „Europa“ hinterfragt und aufgehoben werden, die sich in der Europa-Forschung zu einem Gemeinplatz entwickelt habe, ohne tatsächlich analytisch tragfähig zu sein. Vielmehr lasse sich die Integration des Kontinents nach 1945 nicht von den deutlich älteren Europadiskursen trennen: Nur vor dem Hintergrund jenes „Europe pensée“, so eine Hypothese der Herausgeber, sei die Schaffung europäischer Institutionen historisch zu verstehen (S. 3–6). Zweitens eröffne die thematische Anlage des Bandes die Möglichkeit einer Periodisierung, die analog zu jüngst in der Europa-Forschung verstärkt artikulierten und empirisch umgesetzten Forderungen den Zäsurcharakter des Zweiten Weltkriegs für die Debatten über Europa infrage stellt und verstärkt Kontinuitätslinien in den Blick nimmt. So lasse sich bezüglich der Genese intellektueller Europavorstellungen eine „Forty Years’ Crisis“ als bedeutsam ausmachen, die die Epoche zwischen Ausbruch der Oktoberrevolution und amerikanischem Eintritt in den Ersten Weltkrieg 1917 sowie der Unterzeichnung der Römischen Verträgen 1957 überspanne.

Der Sammelband gliedert sich in vier Teile. Die ersten drei (allesamt von Mitherausgeber Mark Hewitson geschriebenen) Kapitel bilden eine Art Prolog, in dem für den gesamten Untersuchungszeitraum schlaglichtartig ideengeschichtliche Europaentwürfe im Angesicht des zeitgenössischen Krisenbewusstseins analysiert werden. Ungeachtet des prävalenten Nationalismus in jenen Jahren diagnostiziert Hewitson eine augenfällige Konjunktur „europäischer“ Rhetorik, in der die meisten Intellektuellen keinen pauschalen Widerspruch zu nationalen Interessen gesehen hätten. Die darauffolgenden drei Hauptteile des Bandes beinhalten die von einem internationalen Autorenteam verfassten einzelnen Fallbeispiele. Nachdem dabei in einem ersten Schritt (Kapitel 4–9) Stimmen von Intellektuellen fokussiert werden, die aus der gegenwärtigen Krise heraus Reminiszenzen an eine bessere europäische Vergangenheit artikulierten, rückt der Fokus zweitens (Kapitel 10–14) auf Denker, die sich primär mit dem Ist-Zustand Europas befassten und dessen gegenwärtige Probleme, Leistungen und kulturelle Relevanz diskutierten. Abschließend werden drittens (Kapitel 15 und 16) Europäisten vorgestellt, die nach vorne blickten und Modelle für die kontinentale Zukunft konzipierten.

Diese systematische Gliederung überzeugt, nicht zuletzt aufgrund des starken Ungleichgewichts im Umfang der einzelnen Sektionen, nur sehr bedingt. Die Übergänge zwischen Vergangenheitsbezügen, Zeitdiagnosen und Zukunftsvisionen waren in den meisten Fällen fraglos fließend, so dass diese drei idealtypisch unterschiedlichen Perspektiven auf den Kontinent in der Praxis kaum als analytisch hinreichende Merkmale zur Differenzierung der vorgestellten Europaideen erscheinen. Entsprechend erschließt sich aus dem kenntnisreichen Beitrag von Anita Prettenthaler-Ziegerhofer über Richard Coudenhove-Kalergi nicht, warum der wohl bekannteste Vorkämpfer für eine Einigung Europas im Interbellum als Beispiel für einen Intellektuellen dienen soll, der sich vorwiegend mit Europas Vergangenheit auseinandersetzte. Dass Coudenhoves Paneuropa-Modell nicht nur durchaus prospektive Züge aufwies, sondern zu einem gewissen Grad sogar einen technokratischen Zukunftsoptimismus einschloss, hat Katiana Orluc klar aufgezeigt.2 Auf der anderen Seite beinhaltete der von Matthew D’Auria als Exempel für eine europäische Zukunftskonzeption thematisierte Europaentwurf des italienischen Politikers und Wissenschaftlers Luigi Einaudi viele historische Rückbezüge. So waren dessen Anfang 1918 unter dem Pseudonym „Junius“ publizierten Ideen einer föderalen Einigung Europas und einer notwendigen Beschneidung nationaler Souveränitätsrechte zwar fraglos visionär, rekurrierten aber in ihrer Anlage zugleich stark auf die Geschichte, die – wie Einaudi im Stile der amerikanischen Gründerväter argumentiert – gezeigt habe, dass lose Konföderationen von Staaten wirtschaftlich und politisch kaum Erfolge zeitigten.

Ein weiteres Problem des Sammelbandes liegt darin, dass oftmals recht unbestimmt bleibt, was eigentlich genau unter einer „europäischen Idee“ zu verstehen ist und wodurch sich bestimmte Konzepte als „europäisch“ qualifizieren. Beispielsweise geht aus Ionut Unteas Beitrag über das Großraumdenken Carl Schmitts, in dem er eine deutliche Anlehnung an die mittelalterliche Reichstheorie auszumachen glaubt, nicht hervor, wo dessen spezifische Europäizität gelegen haben soll. Deutlich stärker gelingt dies Vittorio Cotesta, der im Rahmen eines Vergleichs der Überlegungen von Schmitt mit den „Studien zur weltgeschichtlichen Raumlehre“ des deutsch-jüdischen Historikers Franz Rosenzweig nachzeichnet, wie beide Autoren die Geschichte Europas primär als Geschichte seiner räumlichen Ordnung auszudeuten suchen.

Zudem erscheinen die in den Blick genommenen Europäisten infolge der Fokussierung auf Krisenmomente mitunter als zu homogene Gruppe. Wenn etwa Dina Gusejnova das Europadenken deutschsprachiger Adliger in der Zwischenkriegszeit untersucht und dabei so gegensätzliche Figuren wie Coudenhove-Kalergi, den deutschbaltischen Philosophen Hermann Graf Keyserling und Karl Anton Rohan, den Gründer des zwischen einer katholisch-abendländischen und faschistoiden Ausrichtung changierenden „Europäischen Kulturbundes“, in einem Atemzug nennt, stellt sich die Frage, ob sich deren Perspektiven auf Europa tatsächlich durch den gemeinsamen Ausgangspunkt einer diagnostizierten europäischen Wertekrise adäquat erfassen lassen, oder nicht doch die inhaltlichen Unterschiede stärker in den Vordergrund gestellt werden müssten. Angesichts der auch persönlichen Animositäten zwischen Coudenhove-Kalergi und Rohan, die eindeutig Konkurrenten im Ringen um Deutungshoheit und die Führungsrolle innerhalb der europäischen Bewegung waren3, ist durchaus zweifelhaft, dass sich deren Wege erst Ende der 1930er-Jahre getrennt haben sollen (S. 112).

Unklar bleibt ferner, wie die in dem Band thematisierten Intellektuellen, deren elitäre und infolgedessen häufig marginalisierte Stellung im zeitgenössischen Diskurs – wie Jan Vermeiren am Beispiel des deutschen Schriftstellers Rudolf Pannwitz verdeutlicht – kaum zu übersehen ist, mit ihren Ideen und Europakonzeptionen direkt oder indirekt Einfluss auf die Gestaltung der europäischen Gemeinschaften nach dem Zweiten Weltkrieg gehabt haben sollen. Die von Pannwitz in den Zwischenkriegsjahren artikulierte Idee einer Auflösung des deutschen Nationalstaates und der Errichtung eines „Imperium Europaeum“, welches Abhilfe gegen die wahrgenommene Dekadenz der Zeit schaffen sollte, entfaltete schon zeitgenössisch keinerlei Massenwirkung und geriet nach 1945, als die für gewöhnlich stärker kulturelle Dimension intellektueller Europavorstellungen im Angesicht der institutionellen, realpolitischen Integrationspragmatik ohnehin kaum noch Zugkraft gewinnen konnte, fraglos rasch in Vergessenheit.

Auch was eines der Hauptanliegen des Sammelbandes, die Suche nach Kontinuitäten im Europabewusstsein, angeht, sind Defizite in der empirischen Umsetzung festzustellen. So fokussiert das Gros der Fallstudien die Zeit vor 1945, weshalb die Persistenz eines europäischen Krisendiskurses in intellektuellen Kreisen über den Zweiten Weltkrieg hinaus nur bedingt nachgewiesen werden kann. Eine Ausnahme hiervon bildet der Beitrag von Michael Wintle, der fundiert belegt, dass Visualisierungen von Europa in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erstaunlich häufig von Optimismus und Selbstbewusstsein geprägt waren.4 Tatsächlich zeigen viele der Aufsätze, dass Intellektuelle bei ihren Europaentwürfen zwar oftmals von einer Krisendiagnose ausgingen, aber keinesfalls pauschal einen „Untergang des Abendlandes“ im Sinne des bezeichnenderweise innerhalb des Bandes nicht mit einem eigenen Beitrag bedachten Oswald Spenglers erwarteten. So weist Annamaria Ducci am Beispiel des innerhalb des Völkerbundes für grenzüberschreitende intellektuelle Kooperation zuständigen „Institut International de Coopération Intellectuelle“ (IICI) nach, wie nicht nur der Völkerbund sich gerade im kulturellen Sektor ungeachtet seines globalen Anspruchs als eine genuin europäische Organisation profilierte, sondern zugleich die durch das IICI geschaffene „society of spirits“ (S. 230) in den Zwischenkriegsjahren letztlich auch zur Erhaltung des Mythos der Überlegenheit der europäischen Kultur beitrug.

Insgesamt liefert der erfreulicherweise um ein Namensregister ergänzte Sammelband ein breites Panorama der ideengeschichtlichen Europa-Forschung. Er spricht damit nicht nur Historiker/innen an, die sich mit der Geschichte von Europabildern speziell in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts befassen, sondern auch all diejenigen, die Interesse an den Ansätzen und Methoden der anglo-amerikanischen intellectual history haben. Ob jedoch der einseitige Fokus auf Krisenwahrnehmungen ausreicht, um die Genese sowie Beschaffenheit von Europavorstellungen in den vier Dekaden zwischen 1917 und 1957 zu erklären, erscheint mehr als ungewiss. Dies wird nicht zuletzt in den Beiträgen des Bandes selbst infrage gestellt.

Anmerkungen:
1 Hartmut Kaelble, Europäer über Europa. Die Entstehung des modernen europäischen Selbstverständnisses im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2001, bes. S. 31–35 und S. 215–218.
2 Katiana Orluc, A Wilhelmine Legacy? Coudenhove-Kalergi’s Pan-Europe and the Crisis of European Modernity, 1922–1932, in: Geoff Eley / James Retallack (Hrsg.), Wilhelminism and Its Legacies. German Modernities and the Meanings of Reform, 1880–1930, New York 2004, S. 219–234.
3 Vgl. Matthias Schulz, Der Europäische Kulturbund, in: Europäische Geschichte Online, 03.12.2010, <http://www.ieg-ego.eu/schulzm-2010c-de> (18.02.2013) und Anita Ziegerhofer-Prettenthaler, Botschafter Europas. Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi und die Paneuropa-Bewegung in den zwanziger und dreißiger Jahren, Wien 2004, S. 171f.
4 Unverständlich ist, wieso Wintle den 1915 von Friedrich Naumann formulierten Mitteleuropa-Plan und die von Tomáš Masaryk unter dem Titel „The New Europe“ kurz nach Ende des Ersten Weltkriegs publizierten Ideen für den kontinentalen Wiederaufbau irrtümlich im Kontext des Wiederauflebens des Europabewusstseins in den „Roaring Twenties“ zu verorten sucht (S. 211).

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