T. Reiber u.a. (Hrsg.): Charisma und Herrschaft

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Titel
Charisma und Herrschaft. Führung und Verführung in der Politik


Herausgeber
Reiber, Tatjana; Bliesemann de Guevara, Berit
Erschienen
Frankfurt am Main 2011: Campus Verlag
Anzahl Seiten
250 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Erhard Stölting, Fakultät Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Universität Potsdam

Charisma ist in den letzten zwanzig Jahren zu einem Allerweltsbegriff geworden, der in die Gefahr gerät mit anderen Begriffen wie Charme oder Anziehung zu verschmelzen und damit überflüssig zu werden. Begonnen hatte es anders. Der Kirchenrechtler Rudolph Sohm nutzte diesen Begriff Ende des 19. Jahrhunderts, um die göttliche Berufung in ein geistliches Amt von einem nur rechtlich institutionalisierten Wahl- oder Auswahlverfahren zu unterscheiden. Max Weber übertrug den Begriff Sohms in die politische Sphäre und gab ihm eine soziologische Perspektive. Charisma, die göttliche oder sonst wie überirdische Berufung, bestand danach immer in einer Zuschreibung durch die Anhänger, nicht als persönliche Qualität der erlesenen Person. Dabei ging es beim Charisma stets um „Macht“ als eines „amorphen“ Phänomens – Gott lässt sich nicht einschränken – und nicht um „Herrschaft“, die Weber als durch bestimmte Befugnisse und Zuständigkeiten eingeschränkt definierte.

Die ursprüngliche Orientierung an Jesus führte zu weiteren Unterscheidungen, die in der Literatur zum Tragen kamen: der Kreis der mit dem bloßen Widerschein des Charismas begabten Jünger, die nur über eine von Jesus abgeleitete Macht verfügten; die gläubigen Massen; die noch Ungläubigen und die für die ewige Verdammnis bestimmten arglistigen Feinde. Moralische Qualifikationen sind an Webers Charisma-Begriff dabei nicht erkennbar – die moralische Differenz etwa zwischen Gandhi und Mussolini lässt sich am Begriff des Charismas nicht festmachen.

Realistisch – und für diesen Band implizit – kennzeichnend ist es, den Begriff Charisma heuristisch zu nutzen, ohne der historischen Analyse vorzugreifen. Er setzt Einzelindividuen voraus, die als im Angesicht des Charismatikers zu einer Einheit verschmelzend gesehen werden. Ihre Liebe, Hingabe und Ekstase, ihr Vertrauen sowie ihre Bereitschaft zum Selbstopfer lassen sich als religiöse Phänomene verstehen. Aber sie setzen die Medien voraus: Ohne Lautsprecher, Mikrofone oder das Radio sind die Massen und ihre Führer im 20. Jahrhundert schwer denkbar. Wie die Fortentwicklungen der Medien – etwa die Entstehung des Fernsehens und des Internets – sich hier auswirken und das Konzept künftig möglicherweise obsolet erscheinen lassen, ist in diesem Zusammenhang eine wichtige Frage.

Der Kontext dieses Bandes ist also vielfältig. Berit Bliesemann de Guevara und Tatjana Reiber setzen den konzeptionellen Rahmen entsprechend breit an. Sie nehmen so das Feld der neueren Beschäftigungen mit dem Begriff, aber auch seine Überdehnungen in den Blick. Der einleitende Artikel „Popstars der Macht“ (S. 15–52) weist über die orientierenden Informationen auch den Weg vom Charisma-Begriff weg. Er unterscheidet nämlich zwischen außeralltäglichem, sich veralltäglichtem und Alltagscharisma. Das „außeralltägliche“ Charisma entspricht dem Begriff Webers. In seinem Kontext erscheint der hier bemühte Begriff des „Ideencharismas“(S. 18 f., 25) allerdings nicht ganz überzeugend. Es verweist auf die begrifflichen Lücken, die das Verschwinden der Beschäftigung mit Georges Sorel gelassen hat: Wenn „Freiheit“, „Würde“, „Reinheit“, „Stärke“, „Gemeinschaft“, „Emanzipation“ usw. als mobilisierende Symbole verstanden werden, die sich mit einer Person identifizieren lassen, aber nicht müssen, könnte das dem Beobachter helfen, die intellektuellen Erwartungen, die sich mit dem Wort „Idee“ verbinden, zu dämpfen. Dafür ist der Verweis der Autorinnen auf Wolfgang Lipps Devianzthese an dieser Stelle umso wichtiger: Demnach sind es meist irre oder jedenfalls schräge Existenzen, die zu charismatischen Führern aufsteigen. Auszuarbeiten wäre der angesprochene Aspekt des „Heldischen“ (S. 44–45), das ja nie mehr als eine Metapher war, aber bis heute die politische Sprache durchdringt. – Ausdrücke wie „Kampf“, „Mut“, „Entschlossenheit“, „Ringen um“ passen eigentlich eher zu Achilles und Siegfried, sie werden aber auch bei Aufsichtsratsvorsitzenden und Vereinspräsidenten angewandt.

Das „veralltäglichte Charisma“ wird hier nicht als „Veralltäglichung“ – also als Verschwinden des Charismas in Institutionalisierungen – beschrieben, sondern als eine Form alltäglicher Beziehungen, für die der Begriff des „Charisma“ umgangssprachlich häufig verwendet wird, die aber keine deskriptive Qualität mehr besitzt. Bei Weber hingegen ging es gerade um die Unmöglichkeit, persönlich zugeschriebenes Charisma auf Dauer zu stellen und daher um seine Institutionalisierung. Das lässt sich zur Thematik der heiligen Institution selbst fortführen, aber auch zu der des „Erbcharismas“ und der des „Amtscharismas“ bzw. der Repräsentanz. Wenig sinnvoll erscheint der Begriff „Alltagscharisma“: „Charisma“ geht hier in die politische Alltagssprache über und verliert jede Kontur. Leider wird er in einem großen Teil der Artikel aufgegriffen, die für sich informativ und lesenswert sind, die aber begrifflich undifferenziert bleiben. So ist der Artikel von Christoph von Marschall zum „schwarzen Kennedy“ Obama, der sich an sein entsprechendes Buch anlehnt, sehr informativ und vorzüglich geschrieben (S. 53–76). Reiber und Bliesemann selbst thematisieren Willy Brandt und Helmut Schmidt (S. 102–133). Aber was an Schmidt, der sich als Elder Statesman präsentieren lässt, charismatisch sein soll, ist unerfindlich; er wird von großen Teilen des Publikums wegen seiner ihm zugeschriebenen rationalen Nüchternheit und scharfen Analysen geschätzt. Zum Berliner Bürgermeister Willy Brandt passten vielleicht charismatische Zuschreibungen, sie waren in seiner Zeit als Kanzler aber rasch aufgezehrt; danach wurde er von vielen geachtet. Bei beiden Politikern hätte die Unterscheidung von Hochachtung und Charisma einen genaueren Blick auf moderne Spezifika öffnen können.

Für Johannes Steyrer, der den österreichischen Rechtspopulisten bzw. „Feschisten“ Jörg Haider thematisiert, tritt die Frage der Zuschreibung hinter jener psychologischen Frage zurück, wie Haider wirklich war – obwohl auch Steyrer dafür auf mediale Darstellungen zurückgreifen muss. Sein Text markiert darüber hinaus ein weiteres Problem des „Alltagscharismas“: den Übergang in die Welt der Business Administration und der gegelten, entschlossen blickenden und disziplinierten Leader, die ihre Mitarbeiter zu Höchstleistungen motivieren können.

Noch weiter in die betriebswirtschaftliche Richtung geht Jürg Häusermann mit dem Artikel „Wie inszeniert man Charisma?“ (S. 134–150). Er verweist bereits auf die künftige Schulung von Führungspersonen und ihre Schlüsselqualifikationen. Dass sich „Charisma“ nun nicht mehr von „Ausstrahlung“ unterscheidet, ist für die moderne politische Welt und ihre Sprache tatsächlich wichtig. Die Thesen Häusermanns lassen sich nämlich auch soziologisch lesen. Deren erste verlangt „Authentizität“ vorzuführen; was immer das sein mag. Bei Erving Goffman lässt sich einsehen, dass es auf die Technik des Vorführens ankommt. Zweitens geht es um Medienkompetenz: Man muss in Talkshows und in anderen scheinbar privaten Interaktionen gut „rüberkommen“. Natürlich bedarf es drittens einer unverwechselbaren Individualität, für sie wäre ein „Personality Branding“ zuständig. Überwölbt wird die Darstellung viertens vom „Storytelling“. Die verschiedenen Aspekte der öffentlichen Präsentation dürfen einander nicht widersprechen, sonst zerbricht die Ausstrahlung und aus der öffentlich strahlenden Persönlichkeit wird ein Silvio Berlusconi oder ein Thomas Middelhoff. Vom Charisma ist die politische Welt damit heute offenbar weit entfernt und dieser Artikel könnte die Konstruktion eines anderen neuen Idealtypus anregen, den Bliesemann und Reiber ja auch suchen.

Inszenierung ist auch das Thema des Artikels zu sozialistischen Personenkulten von Daniel Ursprung, der allerdings zwischen echtem und unechtem Charisma unterscheidet (S. 151–176). Erfreulicherweise konzentriert er sich auf das Unechte. Der Artikel ist sehr informativ, nicht zuletzt aufgrund seiner Verweise auf ein inzwischen großes Publikationsfeld. Dass charismatische Machtverhältnisse instabil sind, unterscheidet allerdings echte und unechte Charismen bzw. Personenkulte nicht.

Henner Fürtig beschäftigt sich kenntnisreich mit dem Übergang und dem Unterschied zwischen dem charismatischen Ruhollah Chomeini und dem „herrschenden Rechtsgelehrten“ Ali Chamenei im Iran (S. 177–200). Dieser Artikel ist ein exemplarisches Kabinettstück für die Beschreibung der Instabilität und des Weiterwirkens von Charisma. Das Gleiche gilt für den Text von Susanne Gratius zum absehbaren Ende des Charismas von Fidel Castro (S. 201–228).Dagmar Hellmann-Rajanayagam schließlich thematisiert anhand der indischen Politikerdynastie Nehru-Gandhi und vor allem Sonia Gandhis die Probleme eines familialen Erbcharismas und die Besonderheit weiblicher Führungsgestalten in einer patriarchalen Gesellschaft. Damit kann sich der Blick auf dynastische Zusammenhänge weiten, die im Westen existieren, etwa in Gestalt der Familien Kennedy oder Bush.

Lesenswert ist der Sammelband allemal, nicht zuletzt, weil er auch auf Desiderata der begrifflichen Differenzierung aufmerksam macht. Dazu gehören die Begrenzungen des Begriffs Charisma selbst – also die genauere Bestimmung dessen, was nicht Charisma ist. Weiter zu untersuchen wäre der Rückgang des Charismas in der westlichen politischen Welt und das Fortbestehen von Personenkulten, das Verhältnis von Charisma und Terror. Schließlich steht auch die Untersuchung des Genderaspekts aus. Der Charisma-Begriff ist offenkundig männlich konnotiert; noch fehlen bessere komplexere Begriffe für Frauen in Machtpositionen. Besonders dringlich wäre eine umfassendere Behandlung der Popkultur und ihres Verhältnisses zur politischen Sphäre, auf die Reiber und Bliesemann nicht nur im Titel verwiesen haben (S. 32–35).

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