H. Dienel u.a. (Hrsg.): Die moderne Straße

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Titel
Die moderne Straße. Planung, Bau und Verkehr vom 18. bis zum 20. Jahrhundert


Herausgeber
Dienel, Hans-Liudger; Schiedt, Hans-Ulrich
Reihe
Beiträge zur Historischen Verkehrsforschung des Deutschen Museums 11
Erschienen
Frankfurt am Main 2010: Campus Verlag
Anzahl Seiten
386 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ralf Roth, Historisches Seminar, Goethe-Universität Frankfurt am Main

Im Gegensatz zur Eisenbahngeschichte, die von Anfang an den Fahrweg als Grundvoraussetzung für den Aufstieg des einstmals revolutionären Transportmediums mit Lokomotiven und angehängten Wagenkolonnen erkannte, verlief die Historiographie des Automobils über weite Strecken fast vollkommen getrennt von der Geschichte seines Fahrwegs – der Straße. Maxwell G. Lays grundsätzliches Werk, das diese merkwürdige Beschränktheit deutlich machte, erschien erst vor zwei Jahrzehnten. Im Zentrum stand dabei der Blick auf die amerikanische Entwicklung.1 Umso verdienstvoller ist der vorliegende Sammelband, der ungleich stärker die deutschen und europäischen Charaktermerkmale der Entwicklung hervorhebt. Die Aufsatzsammlung ging aus verschiedenen Tagungen des Arbeitskreises "Verkehrsgeschichte" der Gesellschaft für Unternehmensgeschichte hervor, der heute unter dem Dach der Gesellschaft für Technikgeschichte angesiedelt ist. In dem Band finden sich durchweg interessante und fruchtbare Beiträge, die das Feld einer Geschichte der Straße als Grundlage des nicht schienengebundenen Landverkehrs neu vermessen und den Rahmen für weitere Forschung abstecken.

Das beginnt mit der verdienstvollen Einleitung der Herausgeber, in der der aktuelle Forschungsstand vorgestellt und die Zielsetzung des Bandes umrissen wird, nämlich auf Forschungsdefizite zu verweisen und einen Überblick über die zur Straßengeschichte gehörenden Themenbereiche zu liefern. Deutlich wird dies gleich mit dem ersten Beitrag von Nicole K. Longen über Fronarbeiten zur Finanzierung von Infrastruktur. Die Autorin schildert hier die bisher stiefmütterlich behandelte konkrete Durchführung des Straßenbaus und der Bewältigung seiner immensen Kosten in der Frühen Neuzeit bis zur Übergangsphase in die Moderne. In diesem Kontext arbeitet sie das immer dringlicher werdende Problem der raschen Zerstörung der Straßen durch die stark zunehmende Zahl der Lastfuhrwerke heraus, was überhaupt der wesentliche Grund dafür war, über eiserne Bahnen nachzudenken.

Dieses Thema setzt Uwe Müller mit seinem Beitrag zum Chausseebau fort. Bildet bei Longen Kurtrier und das Stift Koblenz die Referenzfolie, so für Müller das nach den Befreiungskriegen reformierte Preußen. Er greift die Diskussion um einen Gesamtpreußischen Chausseeplan auf, widmet sich ausführlich dessen Kostenproblemen und erläutert, wie die Planung mit der kurze Zeit später einsetzenden Diskussion um den Bau von Eisenbahnen und ihre Finanzierung kollidierte. War der gleichzeitige Bau aufwendiger Chausseen ein wesentlicher Grund für die anfängliche Zurückhaltung der preußischen Administration beim Eisenbahnbau, die Zögerlichkeit bei der Vergabe von Konzessionen und die Hinhaltetaktik, die das investitionsfreudige Bürgertum in der Westprovinz zur Verzweiflung und in die politische Opposition trieb, so wuchsen dem Staat selbst die Kosten für den Straßenbau über den Kopf. Er begann sich – kaum hatten die Eisenbahnen den Fernverkehr zu immer größeren Teilen übernommen – aus der Finanzierung des Wegebaus zurückzuziehen und diesen den Provinzen, Kreisen und Kommunen zu überlassen. Dies half obendrein, "die wirtschaftliche Eigenständigkeit kommunaler Selbstverwaltungskörperschaften" zu befördern (S. 74).

Leider wird dieser Strang der Diskussion über die Rolle der Straße in den Jahrzehnten eines voll entwickelten Eisenbahnverkehrs nicht mit einem weiteren Beitrag fortgesetzt, sondern sozusagen in einem Sprung die weitere Entwicklung ausgespart. Stattdessen wird mit Gijs Moms Beitrag "Decentering highways" ein neues Kapitel aufgeschlagen. Thematisch behandelt der Beitrag eine Zeit, in der der Aufstieg des Automobilverkehrs bereits in vollem Gang war. Auch wird der Blick nun von deutschen Teilstaaten auf eine transnationale Perspektive verschoben. In Moms Ausführungen, die vom holländischen Fallbeispiel des Autobahnbaus ausgehen und dann im Vergleich mit anderen Ländern überzeugend einen europäischen beziehungsweise transatlantischen Entwicklungspfad herausarbeiten, fügen sich auch die kenntnisreichen Folgebeiträge von Reiner Ruppmann über den Beginn des deutschen Autobahnbaus, von Michael Hascher über die Maut als Mittel der Straßenfinanzierung, von Bernd Kreuzer über die Vor- und Frühgeschichte der österreichischen Autobahnen sowie Jan Olivas Ausführungen zum tschechoslowakischen Straßennetz in der Zwischenkriegszeit gut ein.

Die von Mom vertretene These von einem transatlantischen Modell der Entwicklung von Highways und Autobahnen unter der Planungshoheit eigener Verkehrsministerien ist sicher fruchtbar, doch hätte man gern mehr zum amerikanischen Beispiel gelesen. Hier geben der Aufsatz von Michael Wagner über den Aufbau des mexikanischen Fernstraßennetzes und Thomas Zellers Vergleich über die "Alpenstraßen und die Herstellung von Landschaft in Deutschland und den USA" bei aller Qualität ihres eigentlichen Themas wenig her. Für den Fall Mexikos liefert Wagner eine umfassende Gesamtschau auf die Rolle der Straßen in einer zu erschließenden Region und gewährt Einblicke in die Zielsetzung, die Finanzierung und die Ergebnisse sowie die zahlreichen Probleme des mexikanischen Straßenbaus in den beiden Jahrzehnten vor dem Zweiten Weltkrieg. Auch hier wäre ein Vergleich mit den USA von Interesse gewesen, die mit dem Bau des Pan America Highways massiv in den lateinamerikanischen Straßenbau eingegriffen hatten.2

An die Grenzen der Automobilität und der Ausbaueuphorie führt der Beitrag von Alexander Gall über die Fernstraßenplanung zwischen Bund und Ländern in der BRD der späten 1960er-und frühen 1970er-Jahre. Das Ziel einer erheblichen Ausweitung des Autobahnnetzes und einer "totalen Abdeckung" (S. 253) erwies sich als nicht erreichbar. Die Durchführung scheiterte an den immensen Kosten, woran auch der Glaube an eine Verwissenschaftlichung der politischen Entscheidung nichts zu ändern vermochte.

Weitausgreifende Ideen für einen weiten Blick auf die Straßengeschichte erörtert Benjamin Steininger mit seinen medienwissenschaftlichen "Überlegungen zur Materialität der Straße". Ausgehend von einem Hinweis Marshall McLuhans, der die Straße als ein Medium ansah, und mit Verweis auf die grundsätzlichen Überlegungen von Franz Releaux und Oswald Spengler zur Straße als Verkehrsmaschine sowie einer kühnen These von der Straße als Membran zwischen Mensch und Landschaft endet Steininger bei der Materialität der Straße. Das ist sicher für den Bau einer Straße und ihrem Funktionszweck nicht unwichtig, wie der Beitrag von Jan Ludwig über die Rheinische Basaltindustrie und den Straßenbau in Deutschland belegt. Aber es wird nicht ganz klar, was die Materialität der Straße mit McLuhans These vom Mediencharakter des Fahrwegs zu tun hat.

Näher an der Funktion der Straße als Medium liegt da schon der Beitrag von Richard Vahrenkamp über das Entwicklungspotential des Lastkraftwagenverkehrs. Vahrenkamp wendet sich hier den neuen logistischen Möglichkeiten zu, die sich im Kontext des Aufstiegs des Automobils, insbesondere des Lastkraftwagens, ergaben und stellt grundsätzliche Überlegungen zum Güterverkehr auf schienengebundenen und nicht schienengebundenen Transportsystemen an. Insbesondere der Stückgutverkehr litt strukturbedingt an mangelnder Rentabilität, was Vahrenkamp plastisch an den "11583 Güterabfertigungsstellen" der Reichsbahn und ihren "134 Millionen Transportrelationen" (S. 318f.) erläutert. Fast jede davon war von arbeitsintensiven Umladeprozessen begleitet, die die Transportzeiten erheblich erhöhten. Gerade für diesen Bereich erwiesen sich deshalb die mit der Verbreitung des LKW nach dem Ersten Weltkrieg möglichen Direktverbindungen als großer Vorteil. Die Überlegung des Autors erhellt den strukturellen Hintergrund des in dieser Zeit aufbrechenden Konflikts zwischen Straße und Schiene. Markus Hesses Beitrag über den technisch-organisatorischen Wandel der Logistik und seine Bedeutung für die Städte sowie Paul Erkers Aufsatz zu den Familienunternehmen in der deutschen Logistikbranche schließen thematisch an den Grundsatzbeitrag von Vahrenkamp an und unterstreichen jeder auf seine Art die Bedeutung des LKW-Verkehrs für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg.

Insgesamt liefert der Band über die Rolle der Straße als zentrales Transportmedium des Binnenverkehrs einen wichtigen Beitrag zur Forschungsdiskussion. Die Straße wird von ihrer technischen, finanziellen, logistischen, politischen und kulturellen Seite ausgeleuchtet. Dabei gelingt der Blick über den deutschen Tellerrand hinaus auf die Nachbarländer und in Einzelbeiträgen auch darüber hinaus. Es bleibt zu wünschen, dass sich die zahlreichen Anregungen in einer fruchtbaren Forschungspraxis niederschlagen.

Anmerkungen:
1 Maxwell G. Lay, Die Geschichte der Straße. Vom Trampelpfad zur Autobahn. Frankfurt am Main 1994.
2 Zuletzt Bruce E. Seely, Der Pan American Highway – eine Straße zwischen zwei Kontinenten, in: Zeitschrift für Weltgeschichte 12 (2011), S. 141–173.

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