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Titel
Siegelkunde. Beiträge zu ihrer Vertiefung und Weiterführung


Autor(en)
Diederich, Toni
Erschienen
Köln 2012: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
X, 257 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Hynek, Historisches Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Nachdem zuletzt 2004 ein Buch mit dem Titel „Siegelkunde“ von Andrea Stieldorf erschienen ist1, das ausdrücklich als Einführung in die Thematik konzipiert wurde, legt Toni Diederich nun mit seinem Band den Fokus auf weiterführende und vertiefende Beiträge zur Sphragistik. Dass Diederich wie kaum ein anderer in der deutschen Geschichtsforschung geeignet ist, diese Aufgabe zu meistern, liegt an seiner ausgesprochenen Expertise, die sich in seinen zahlreichen Publikationen zur Siegelkunde zeigt. Anlass zu seiner neuesten Arbeit ist der Umstand, dass die von Diederich schon vor dreißig(!) Jahren angeregten neuen Ansätze zur Typologisierung2 und zum Erkenntniswert3 der Siegel bei der Beschäftigung mit ihnen oftmals zwar wahrgenommen, aber kaum umgesetzt worden sind. Das bisher letzte Beispiel dafür bietet die Arbeit von Marnetté-Kühl, die sich bei der Erschließung der Siegel der Urkundenfonds von Marienberg und Mariental intensiv mit Diederichs Typologie auseinandersetzt, sie dann aber entgegen ihrer eigentlichen Funktion, die vom Siegelführer intendierte Aussage prägnant zu erfassen, zur Gliederung des Gesamtbestandes einsetzt.4

Umso einleuchtender erscheint es daher, dass sich Diederich mit dem Erkenntniswert und der Typologisierung der Siegel in den ersten fünf seiner insgesamt zehn Kapitel unter verschiedenen Gesichtspunkten auseinandersetzt. Daran schließen sich mit Ausführungen zur Bedeutung der Siegelgröße, zur Siegelpraxis, zu lateinischen Versen in Siegelumschriften, zu Gemeinsamkeiten von Grabmal- und Siegelkunst sowie zu gefälschten Siegelstempeln Themen an, die in der Sphragistik bisher ebenfalls nur geringe Beachtung erfahren haben.

Diederichs Zielstellung ist es, für künftige Forschungen Impulse zu geben. Er verzichtet daher auf eine eingehende Rekapitulation des Forschungsstandes der Sphragistik und beschränkt sich auf die Diskussion der Desiderate, für die er im Ansatz Lösungen zu präsentieren in der Lage ist. Zunächst geht er dafür auf das Siegel als Geschichtsquelle ein. Siegel können neben ihrer Funktion als Beglaubigungsmittel auch Aussagen des Siegelführers vermitteln (Kapitel I) oder als Belege für Patrozinien dienen (Kapitel II), was Diederich anhand einiger repräsentativer Beispiele zu zeigen vermag. Im Anschluss geht er auf seine überarbeitete Siegeltypologie von 1983 ein (Kapitel III), die er – völlig zu Recht – immer noch als weitgehend missverstanden ansieht und daher beinahe selbstironisch durchgehend als „neu“ bezeichnet. Bei der Einordnung der verschiedenen Siegeltypen geht es Diederich eben nicht um die Klassifizierung von Siegelbildern, wie sie für die Kunstgeschichte von Interesse ist, die sich mit der Entwicklung der Motive beschäftigt, sondern um die Klassifizierung von Aussagen der Siegelführer. Ornament- (Kapitel IV) und Mischsiegel (Kapitel V), deren Aussage sich nur schwer erschließen, behandelt Diederich dann auch etwas ausführlicher, um sie für zukünftige Forschungen zugänglicher zu machen.

In den beiden folgenden Kapiteln beschäftigt sich Diederich zum einen mit der Größe, dem Bedeutungsmaßstab innerhalb des Bildprogramms und dem nicht standesgemäßen Führen der Siegel, das er „Usurpation“ nennt (Kapitel VI), zum anderen mit der Siegelpraxis im Früh- und Hochmittelalter (Kapitel VII). An dieser Stelle wäre es wünschenswert gewesen, wenn Diederich die Eigenschaften der Siegelabdrücke unter dem Stichwort der „Materialität“ nach Anbringung, Material und Größe diskutiert hätte. Das von ihm herausgearbeitete Phänomen der „Usurpation“ wäre dann sicher nicht nur durch Anmaßung eines übergroßen Siegels, sondern auch durch andere Eigenschaften des Siegels deutlich und nachvollziehbar geworden.

Zu äußerst interessanten interdisziplinären Ansätzen kommt Diederich bei der Beschäftigung mit der Verskunst in Siegelumschriften (Kapitel VIII) und den Parallelen zwischen Siegel- und Grabmalkunst (Kapitel IX). So eignet sich erstere dazu, durch die Bearbeitung mit philologischen Methoden Verbindungen zu Topoi antiker und mittelalterlicher Literatur herzustellen und damit eine deutlich tiefere Ebene der Siegelaussage zu erfassen, als es allein über das Bild möglich ist. Damit ist auch schon eine Gemeinsamkeit zwischen Grabmälern und Siegeln angesprochen: Neben der Umschrift, die auch auf Grabmälern den eben erläuterten Bezug herstellen kann, ist es die bildliche Darstellung, die vor allem mit den Bildnissiegeln Parallelen aufweist. Bei allen Unterschieden zwischen Siegeln und Grabmälern kann Diederich aber deutlich machen, dass die Funktionen der genannten Elemente zu vergleichbaren Aussagen führen können. Das Buch schließt mit Anmerkungen und einem Kriterienkatalog zur Bestimmung von Siegelfälschungen (Kapitel X).

Diederichs Buch ist für alle Historiker und Kunsthistoriker, die sich mit Siegeln beschäftigen, eine wichtige Anregung, die von ihm herausgearbeiteten Desiderate bei ihrer Arbeit zu berücksichtigen. Allerdings führt nur eine intensive Auseinandersetzung mit dem gesamten Buch zum gewünschten Erkenntnisgewinn, da Diederich am Ende weder eine Zusammenfassung noch ein Register und lediglich eine Auswahlbibliographie gibt.

Anmerkungen:
1 Andrea Stieldorf, Siegelkunde. Basiswissen, Hannover 2004.
2 Toni Diederich, Prolegomena zu einer neuen Siegel-Typologie, in: Archiv für Diplomatik, Schriftgeschichte, Siegel- und Wappenkunde 29 (1983), S. 242–284.
3 Toni Diederich, Zum Quellenwert und Bedeutungsgehalt mittelalterlicher Städtesiegel, in: Archiv für Diplomatik, Schriftgeschichte, Siegel- und Wappenkunde 23 (1977), S. 269–285.
4 Beatrice Marnetté-Kühl, Mittelalterliche Siegel der Urkundenfonds Marienberg und Mariental, Braunschweig 2006.