O. Schulz: Ein Sieg der zivilisierten Welt

Titel
Ein Sieg der zivilisierten Welt?. Die Intervention der europäischen Großmächte im griechischen Unabhängigkeitskrieg (1826–1832)


Autor(en)
Schulz, Oliver
Erschienen
Münster 2011: LIT Verlag
Anzahl Seiten
592 S.
Preis
€ 59,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Korinna Schönhärl, Fachbereich Geisteswissenschaften, Universität Duisburg-Essen

Wie genau funktionierte eigentlich das „Europäische Konzert“ der Großmächte, das Kerneuropa seit dem Wiener Kongress 1815 bis zum Krimkrieg eine Phase des relativen Friedens bescherte? Etablierten sich hier in der Tat Institutionen und Normen, die fast im Sinne eines „Sicherheitsrates“ die Stabilität und das Gleichgewicht der Europäischen Politik sicherten?1 Diese Fragen untersucht Oliver Schulz am Beispiel eines Konfliktes an der europäischen Peripherie: dem griechischen Unabhängigkeitskrieges 1821–1832. Warum kam es in der Phase der Restauration überhaupt zu einer Intervention einiger Großmächte zugunsten der revoltierenden Griechen? Schulz analysiert die Strategien und Ziele der Entscheidungsträger in der französischen, britischen und russischen Außenpolitik bei ihrer kooperativen Intervention in den Aufstand. Dieser Ansatz versteht sich allerdings keineswegs als altbackene Frage nach den Motiven der „großen Männer“, sondern ist vielmehr im Sinne der Neuen Politischen Geschichte kulturgeschichtlich geschärft um Aspekte der Generationen-, Mentalitäts- und Religionsgeschichte.

Mit seinem international vergleichenden Zugriff deckt Schulz schonungslos die extreme Perspektivgebundenheit der nationalen Geschichtsschreibungen zur griechischen Unabhängigkeit auf. Er spürt Widersprüche zwischen den Werken einer beeindruckend langen viersprachigen Literaturliste auf und macht den wertenden Zugriff der Historiker deutlich. Obwohl er die griechischsprachige Forschung nicht rezipiert, gelingt es ihm, über fremdsprachige Werke griechischer Historiker auch diese Perspektive mit ins Bild zu nehmen. Dies ist aber nur der Anfang: Zudem leistet Schulz vorbildliche Quellenerschließung: Er hat eine Vielzahl zum Teil an entlegener Stelle gedruckter Quellen aufgespürt und akribische Studien in den Archivbeständen zur politischen Geschichte in Frankreich, England, Russland und auch in Bayern betrieben, woher der schließlich von den Großmächten gekürte erste griechische König kam.

Bereits im Rahmen einer fundierten Einführung in die Forschungen über das „Europäische Konzert“ beleuchtet Schulz die soziokulturelle Prägung jener Generation von Diplomaten, die ihre Sozialisation während der Französischen Revolution und der Napoleonischen Kriege erfuhr und durch die Angst vor dem revolutionären Umsturz geprägt war. So sind die Akteure der „Orientalischen Frage“ eingeführt, die Schulz anschließend fachkundig skizziert. Es folgt eine chronologische Darstellung des Gangs der Verhandlungen zu Beginn des griechischen Aufstandes, während der kriegerischen Intervention und der griechischen Staatsbildung, wobei Schulz in jeder Phase die Ziele, Strategien und Handlungsoptionen aller drei beteiligten Mächte umsichtig analysiert. Eine Karte von 1826 bietet dabei einen Überblick über den Handlungsraum in französischer Perspektive. Die Ergebnisse sind überraschend. So lehnten zu Beginn des Aufstandes zunächst alle europäischen Mächte, also auch Österreich und Preußen, im Sinne der Ideologie der „Heiligen Allianz“ den Aufstand der Griechen gegen ihren legitimen Herrn, das Osmanische Reich, ab und blieben passiv. Während Preußen und Österreich diesem antirevolutionären Konsens auch nach 1825 treu blieben, waren es handfeste realpolitische Interessen, die die drei anderen Mächte zum Handeln bewegten: Allen voran sahen sich die Diplomaten Frankreichs und Englands in Zugzwang, weil die Piraterie der griechischen Aufständischen den Handel im östlichen Mittelmeer zunehmend erschwerte. Hinzu kam das Kultusprotektorat Frankreichs über die katholischen Griechen auf einigen Inseln, wo man sich Stabilität wünschte. Für Russland dagegen ließ sich der griechische Aufstand hervorragend instrumentalisieren, um den Druck auf das Osmanische Reich, hinsichtlich der Meerengenfrage und der Einhaltung älterer Verträge, zu erhöhen. Dies wiederum zwang die Briten zum Handeln, wollten sie doch die Existenz des Osmanischen Reiches um jeden Preis sichern und Russland durch die Zusammenarbeit Zügel anlegen. Die Gräueltaten der Osmanen an den Griechen, die die europäische Öffentlichkeit zur gleichen Zeit erschütterten, dienten allen drei Mächten lediglich zur Legitimation einer kühl kalkulierenden Außenpolitik. Und auch die Tatsache, dass die liberale Opposition in Frankreich und England, die sich den Philhellenismus auf die Fahnen geschrieben hatte, durch eine Intervention im Sinne der Griechen beschwichtigt werden konnte, war nicht mehr als ein angenehmer Nebeneffekt.

Der Leser kann mit angehaltenem Atem verfolgen, wie die Diplomaten von diesem Ausgangspunkt aus Schritt für Schritt von ihren Interessen und ihrer gegenseitigen Konkurrenz immer weiter getrieben wurden zu Aktionen, die eigentlich ihrer antirevolutionären Überzeugung diametral entgegengesetzt waren, bis sie in der Schlacht von Navarino 1827 schließlich die Osmanische Flotte vernichten ließen und den Griechen so zum Sieg verhalfen. Vor allem die Briten wurden durch einmal getroffene Entscheidungen in ihren Handlungsspielräumen derart eingeengt, dass sie keinen Raum mehr zum Manövrieren hatten und zur Intervention gezwungen waren, wenn sie nicht ihr Gesicht verlieren oder in die völlige Passivität gedrängt werden wollten. Von besonderem Interesse sind die Schilderungen der Verhandlungen der europäischen Diplomaten mit der „Hohen Pforte“, bei denen es zu massiven interkulturellen Missverständnissen kam, die die Europäer stets im Sinne eines Zivilisationsgefälles zu den Osmanen deuteten. Gegen diese „Barbaren“ Gewalt anzuwenden, war leicht zu legitimieren, da sie offensichtlich ausschließlich auf militärischen Druck reagierten und ohnehin nicht wussten, was gut für sie war – zumindest in diesem Punkt den aufständischen Griechen ähnlich. Es brauchte dementsprechend noch den russisch-osmanischen Krieg von 1827–29, bis dem Sultan schließlich eine Lösung der griechischen Frage aufgezwungen werden konnte. Im Westen war dieser Friede von Adrianopel wiederum von massiven Ängsten vor einem russischen Übergewicht begleitet, das Frankreich und England durch ein stärkeres Griechenland auszubalancieren versuchten. Durch ihre Interessen getrieben mussten die Mächte so immer weitreichendere Interventionen und Zugeständnisse zum Nutzen des entstehenden griechischen Nationalstaates vornehmen, um den angerichteten Schaden zumindest zu begrenzen.

Selbst stark wertend wird Schulz schließlich, wenn er die Fehler der griechischen Staatsbildung und die permanente Einmischung der drei Mächte in die Innenpolitik des jungen Staates kritisiert: Nicht nur oktroyierten sie Griechenland eine Monarchie und einen bayerischen König, der mit seinem im Geiste Montgelas’ geschulten Beamtenstab und westlichen Institutionen einfach nicht zu der jahrhundertelang osmanisch geprägten Gesellschaft passte. Über die Garantie einer Anleihe hielten sie Griechenland zudem in finanzieller Abhängigkeit.2 Und sie bauten Angehörige der griechischen Elite als Träger der eigenen Interessen auf, was zum Phänomen der „Auslandsparteien“ führte und die Zersplitterung der griechischen Gesellschaft weiter vertiefte. Dass diese dauernde Fremdbestimmung in Griechenland nationalistische und irredentische Strömungen verstärkte, verwundert nicht.

Schulz kommt zu dem Schluss, dass das Handeln der Entscheidungsträger weniger bestimmten Regeln oder Normen eines „europäischen Konzerts“ geschuldet war, auch wenn man Formen wie zum Beispiel die Botschafterkonferenz durchaus praktizierte. Vielmehr stellt er fest, dass die Akteure in frühimperialistischer Manier ihre eigenen Interessen zum Leitfaden ihres Handelns machten und diese rücksichtslos verfolgten. An der Peripherie Kerneuropas ging es um die Wahrung eines fragilen Gleichgewichts zwischen Akteuren, die um die Durchsetzung ihrer (oft ökonomischen) Interessen kämpften und die entsprechenden Bevölkerungen als „Verfügungsmasse“ (S. 478) behandelten. Daran habe sich, so schließt Schulz, bis heute wenig geändert, weswegen die europäischen Mächte auf dem Balkan einer langfristigen Lösung der Probleme immer noch nicht näher gekommen seien.
Schulz zeigt in der Arbeit, wie man ein „peripheres“ Thema der europäischen Geschichte auf der Basis solidester historischer Quellenkenntnis durch eine konsequent internationale Betrachtungsweise und breitgefächerte Methodik zu einer einsichtsreichen Fallstudie von hoher Relevanz machen kann. Der Platz, noch intensiver die Lebenswelt der Akteure zu durchleuchten, um auch unter diesem Aspekt deren Entscheidungsfindung verständlich zu machen, wäre in der dichten und spannenden Studie wirklich nicht mehr unterzubringen gewesen.

Anmerkungen:
1 So die These von Paul W. Schroeder, The transformation of European politics, 1763–1848, Oxford 1994.
2 Das jahrzehntelange Feilschen um die Auszahlung der Anleihe-Tranchen zeichnet akribisch nach: Sylvia Krauss, Die politischen Beziehungen zwischen Bayern und Frankreich 1814/15–1840, München 1987, S. 278–328. Man könnte diese Passagen fast als Fortsetzung von Schulz lesen, wenn auch nur aus bayerischen und französischen Archiven gearbeitet.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch