C. Scholl: Die Judengemeinde der Reichsstadt Ulm im späten Mittelalter

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Titel
Die Judengemeinde der Reichsstadt Ulm im späten Mittelalter. Innerjüdische Verhältnisse und christlich-jüdische Beziehungen in süddeutschen Zusammenhängen


Autor(en)
Scholl, Christian
Reihe
Forschungen zur Geschichte der Juden A 23
Erschienen
Anzahl Seiten
X, 451 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Lang, Kreisarchiv Göppingen

Neben Augsburg und Nürnberg war Ulm die bedeutendste Reichsstadt im deutschen Südwesten. Vor allem durch Textilproduktion und -handel stieg die von Patriziat und Zünften gelenkte Kommune gerade im 14. und 15. Jahrhundert auch zu einem gewichtigen politischen Machtfaktor im königsnahen Schwaben auf und erwarb ein überaus großes Landgebiet. In diesem Prozess spielte auch die Judengemeinde der Stadt eine bedeutende Rolle. Bis zu ihrem Ende durch eine generelle Ausweisung im Jahr 1499 aus dem Stadtgebiet – im Territorium wurden die Juden noch einige Jahrzehnte lang geduldet – zählte auch die jüdische Gemeinde Ulms zu den kulturell und wirtschaftlich führenden in Südwestdeutschland.

Ihre Geschichte, die immer auch einen Teil des gesamtstädtischen Kosmos bildet und nicht ohne diesen betrachtet werden kann, ist Gegenstand der 2011 in Trier angenommenen und von Alfred Haverkamp betreuten Dissertation von Christian Scholl. Zu Recht hält der Autor eingangs die trotz einer herausragenden Quellensituation noch zahlreich vorhandenen Desiderate bei der Erforschung der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Großstadt Ulm fest. Auch die bisherigen Arbeiten zu den Ulmer Juden sind bislang nicht als ausreichend anzusehen. Daher werden in zwei einleitenden Kapiteln (A, B) sowohl der Forschungsstand zum Thema als auch das "Umfeld" der Judengemeinde, die expandierende spätmittelalterliche Großstadt Ulm, komprimiert und anschaulich vorgestellt.

Die Geschichte der Judengemeinde schließt sich in drei chronologisch geteilten Kapiteln (C, D, E) an, von denen das erste von den ersten Erwähnungen von Juden um 1240 bis zum verheerenden Pestpogrom im Januar 1349 handelt, dessen Verlauf und Hintergründe äußerst präzise und durchdacht analysiert werden. Erst etwa fünf Jahre später kam es zu einer Neuansiedlung von Juden, im Mai 1354 wurde der Gemeinde die Synagoge gegen eine jährliche Pacht verliehen. Die günstigere Quellensituation nach der Wiederansiedlung erlaubt nun in Kapitel D eine genauere Untersuchung der innerjüdischen Institutionen Ulms, des Siedlungsgebiets innerhalb der Stadt und demografischer Faktoren wie den Herkunftsorten der Ulmer Juden. Topografisch knüpften die Juden wieder an alte Wohnbereiche an und auch die "neue Judengasse" lag in der Nähe derselben. Synagoge, Tanzhaus, Hospital, Backofen und Mikwe befanden sich mit hoher Wahrscheinlichkeit nahe beieinander im östlichen Bereich des heutigen Judenhofs. Hier kann der Autor durch seine Recherchen den bisherigen Kenntnisstand deutlich und überzeugend erweitern. Zur Größe der Gemeinde vermögen erst die Unterlagen des 15. Jahrhunderts einigermaßen sichere Zahlen vermitteln, man kann mit bis zu 13 jüdischen Haushalten rechnen, was eine jüdische Bevölkerung von etwas über 100 Menschen ergäbe – in einer Stadt mit damals 15.000 bis 20.000 Einwohnern. Zur Mitte des Jahrhunderts gab es eine Phase des Absinkens der jüdischen Bevölkerungszahl, doch bis zur Ausweisung lagen die Haushalte wieder im zweistelligen Bereich, so dass nicht von einem kontinuierlichen Absinken ausgegangen werden kann. Die Zugezogenen stammten dabei vorwiegend aus dem süddeutschen Raum.

In kultureller Hinsicht lassen sich auch zahlreiche Kontakte nach Italien belegen, wohin einige besonders vermögende Ulmer Juden ausgewandert waren und natürlich auch die Reichsstadt selbst viele Beziehungen pflegte – vom Handel bis zur universitären Ausbildung der geistigen und politischen Elite. Besonders bemerkenswert ist dabei die jüdische Schreiberwerkstatt Ulms (S. 165–171), deren Handschriften auch von auswärtigen Juden kopiert wurden. Hinzu kam das Wirken einiger weit über den Ulmer Einflussbereich hinaus angesehener Gelehrter. Mit dem Wegfall vieler Gemeinden des Südwestens im Verlauf des 15. Jahrhunderts durch Vertreibung und dauerhafte Ausweisung stieg die ohnehin schon vorhandene Bedeutung Ulms als innerjüdischer Gerichtsort und auch regionaler Bestattungsort weiter an (S. 180–184).

Weitaus umfangreicher als die innerjüdischen Belange lässt sich anhand der vor allem städtischen Überlieferung die Existenz der Juden innerhalb der christlichen Stadt- und Herrschaftsgemeinschaft rekonstruieren (E). Trotz religiöser Unterschiede konnten Juden auch in das Ulmer Bürgerrecht aufgenommen werden. Von herausragenden jüdischen Bankiers wie Jäcklin (S. 207–228), dem „reichsten Ulmer Juden des Mittelalters“, profitierten nicht nur individuelle Kreditnehmer, sondern genauso die Politiker der Reichsstadt, die nicht zuletzt mit seiner Hilfe territoriale Expansionen Ulms sowie die militärische Selbstbehauptung gegenüber Karl IV. und Württemberg stemmen konnten. Und auch führende Adelshäuser des Reichs zählten zu den regelmäßigen Kunden der jüdischen Kreditgeber Ulms. In der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts konnte der Jude Seligmann, der auch im geistigen Leben der Gemeinde eine dominante Rolle spielte und sich auf ausgedehnte Netzwerke stützen konnte, zumindest noch teilweise an Jäcklins Bedeutung heranreichen. Konflikte mit städtischen Schuldnern wurden stets vor dem Ulmer Gericht ausgetragen, bei Auswärtigen bemühten die Juden auch die königlichen Hof- und Kammergerichte.

Jenseits des Geldgeschäfts lassen sich aber vielfältige weitere Berufe von Juden nachweisen, von Gemeindeangestellten, Schächtern, Ärzten bis hin zu einem Brunnenbaumeister (S. 255–264). Detailliert beleuchtet Scholl auch die Steuerabgaben der Juden an Stadt und Reich. Zwar hatte der Ulmer Rat die reguläre Judensteuer vergleichsweise moderat gestaltet, verlangte allerdings sehr hohe Pachtabgaben für die Synagoge und den Friedhof.

Die ökonomisch verheerenden „Schuldentilgungen“ unter König Wenzel von 1385 und 1390 trafen die Ulmer Juden äußerst schwer. Diese Vorgänge, hier treffender als „Ausplünderungsaktion“ beschrieben, integriert der Autor bereits in das Kapitel „F“, das sich den Ausprägungen von Judenfeindschaft in Ulm nach den Pestpogromen zuwendet. Neben den wirtschaftlichen Verlusten verursachten die Tilgungen ein wachsendes Gefühl der Rechtlosigkeit, speziell auch gegenüber den Zugriffen durch das jeweilige Reichsoberhaupt (S. 314f.). Religiös begründete Judenfeindschaft findet sich zusätzlich auf mehreren Ebenen: in bestimmten restriktiven Reglementierungen durch den Rat, in durch die Schriften des Dominikaners Felix Fabri dokumentierten Stereotypen besonders der Bettelorden, in Werken der Ulmer Sakralkunst, oder in der Rezeption und Verbreitung antijüdischer Themen wie beispielsweise dem Trienter Ritualmord von 1475 (S. 331–339). Immerhin beteiligte sich Ulm nicht an der 1429/30 von Ravensburg ausgehenden Ritualmordverfolgung, die neben Ravensburg auch die Gemeinden von Lindau und Überlingen auslöschte, sondern wies die Verfolgungswünsche der oberschwäbischen Reichsstädte zurück.

Die Hintergründe der finalen Ausweisung der Juden 1499, die im Zusammenhang mit dem offensichtlichen Verzicht Maximilians I. auf regelmäßige Einnahmen von Judensteuern zugunsten einmaliger Abschlagszahlungen auch bei anderen Reichsstädten stehen, wirken hingegen nicht dezidiert religiös motiviert. Man orientierte sich auch hinsichtlich des Ablaufs am direkten Vorbild Nürnbergs (S. 344–358) und übernahm dessen Urkundentexte fast wörtlich. Den Entschluss zur Vertreibung hatte man allerdings bereits 1493/94 gefasst, wobei vermutlich eine städtische Versorgungskrise, der Tod des „judenfreundlichen“ Friedrichs III. und allgemeine Stereotype zusammenspielten.

Abschließend richtet der Autor den Blick auf die durchaus ambivalente Judenpolitik Ulms in den folgenden Jahrzehnten, die von der temporären Aufnahme von Juden im Landgebiet, Aufenthalten besonders privilegierter Juden wie Simon Günzburg bis hin zu einer antijüdischen Agitation auf den Ebenen der Reichstage und des Schwäbischen Reichskreises im weiteren Verlauf des 16. Jahrhunderts reicht, deren Ursachen zum Großteil auf den zahlreichen Klagen von Juden der Nachbargebiete gegen Ulmer Untertanen vor dem Hofgericht Rottweil beruhten.1 Ein kompaktes Fazit, ein umfangreicher Anhang mit statistischen Daten, ein Quellen- und Literaturverzeichnis, einige Karten und Abbildungen sowie ein Orts- und Personenverzeichnis runden den 451 Seiten starken Band ab.

Durch seine intensiven Quellenrecherchen ist es Christian Scholl gelungen, nicht allein die Geschichte der Ulmer Juden im Mittelalter grundlegend aufzuarbeiten, sondern auch darüber hinaus die Verbindungen der Judengemeinden in Süddeutschland und Oberitalien hervorzuheben. Dabei ist weit mehr als ein Überblick auf aktuellstem Forschungsstand gelungen, auch in der Ulmer Stadtgeschichtsforschung vieldiskutierte Fragen wie beispielsweise die Topografie von jüdischen Institutionen und Wohngebieten können nun deutlich präziser beantwortet werden. Trotz der gelegentlichen Detailfülle bleibt die Arbeit jederzeit sehr gut lesbar und ist durch ihre kluge Gliederung leicht auch für vergleichende Untersuchungen benutzbar. Insgesamt kann man die inzwischen mit zwei Forschungspreisen prämierte Untersuchung in jeder Hinsicht als vorbildlich bezeichnen. Andere Monografien zu mittelalterlichen Judengemeinden werden sich an diesem Werk messen lassen müssen.

Anmerkung:
1 Vgl. dazu auch: Stefan Lang, Ausgrenzung und Koexistenz. Judenpolitik und jüdisches Leben in Württemberg und im „Land zu Schwaben“ (1492–1650), Ostfildern 2008, S. 193–220.