Cover
Titel
Archivkörper. Eine Geschichte historischer Einbildungskraft


Autor(en)
Wimmer, Mario
Erschienen
Anzahl Seiten
335 S., 15 SW-Abb.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Achim Landwehr, Institut für Geschichtswissenschaften, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Den Schluss dieses Buchs, einer an der Universität Bielefeld abgeschlossenen Dissertation, sollte man wohl zuerst lesen. Denn dort, ab Seite 291, erhält man eine Orientierung über die Inhalte und die Struktur der Darstellung, die bis dahin immer etwas im Ungefähren bleiben. Allein schon die Frage: Worum geht es?, ist mit Blick auf dieses Buch nicht einfach zu beantworten. Die Nebelschleier lichten sich zum Teil erst nach Dutzenden von Seiten, um sich dann in einem neuen Argumentationsschritt mitunter wieder herabzusenken. Das Buch macht es dem Leser nicht gerade einfach.

Die dreigeteilte Gliederung bietet noch den besten Ansatzpunkt zur Orientierung; zudem kann man sich auch an den beiden zentralen Figuren festhalten: dem Archivar und Archivwissenschaftler Heinrich Otto Meisner sowie dem Privatgelehrten Karl Hauck. Aber dies sind Orientierungsmarken, die erst im Verlauf der Lektüre als solche deutlich werden. Der erste Teil widmet sich den Praktiken der Archivverwaltung, wobei vor allem die Etablierung des Provenienzprinzips und die Versuche zur Normierung einer Archivberufssprache im Mittelpunkt stehen. In diesem Kontext spielt Meisner die Hauptrolle. Der zweite Teil setzt ganz neu an: Es geht um die Archivaliendiebstähle, die Karl Hauck in verschiedenen deutschen und österreichischen Archiven bis 1924 in großem Stil verübte. Auch hier taucht Meisner wieder auf, allerdings eher in einer Nebenrolle. Die Versuche, Hauck des Diebstahls zu überführen, werden mitsamt den polizeilichen Ermittlungen, den psychologischen Einschätzungen und dem Gerichtsverfahren sehr detailliert geschildert. Der dritte Teil schlägt erneut einen Haken: Nun werden die geschichtstheoretischen Konsequenzen aus den ersten beiden Teilen gezogen, und die Bedeutung des Archivs für die historiographische Praxis wird diskutiert. Ins Zentrum rückt dabei einerseits Magnus Hirschfeld, der bei seinen Untersuchungen zur Sexualpathologie auch den Archivaliendieb Hauck als Fallbeispiel heranzog. Andererseits richtet sich der Blick auf die Klassiker Ranke und Michelet und ihre Umgangsweisen mit dem Archiv.

Der Begriff „Archivkörper“ gibt dem Buch nicht nur den Titel, sondern bringt auch die inhaltliche Hauptaussage auf den Punkt, nämlich ein „Gefüge aus Worten, Dingen und Einbildungskraft“ zu bezeichnen, in dem sich „das Denken deutscher Archivare“ für einen bestimmten Zeitraum gebündelt habe. Zugleich zeige sich in diesem Begriff „etwas vom Denken der Geschichte und der historischen Einbildungskraft des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts“ (S. 17). Aber ganz gleich, von welcher Seite man dieses Buch zu packen versucht – vom Aufbau oder von zentralen Begrifflichkeiten her –, es scheint einem immer wieder zu entgleiten. So wirkt der Terminus „Archivkörper“ als organisierendes Signalwort nicht ganz passend, weil sein Gehalt immer wieder mit umschreibenden Formulierungen angedeutet wird und er im Buch auch wiederholt zum Einsatz kommt, ohne dass daraus jedoch die analytischen Gewinne deutlich werden.

Trotz mancher interessanter Einsichten und Ergebnisse im Detail lässt einen die Studie daher unzufrieden zurück. Die Grundprobleme liegen zum einen in den sehr locker geknüpften Verbindungen zwischen den einzelnen Teilen, zum anderen in der mangelnden Einbettung der Untersuchungsschritte und Ergebnisse. So wird man den Eindruck nicht los, dass es sich eher um drei unabhängig voneinander entstandene Studien handelt, die zwar alle das gleiche Themengebiet umkreisen, dies aber auf recht unterschiedliche Art und Weise tun. Das lässt sich bereits auf einer stilistischen Ebene feststellen. Den ersten Teil würde ich einer diskurstheoretischen oder poststrukturalistischen Variante der Geschichtsschreibung zuordnen wollen, insofern die konkreten Archivpraktiken eng mit theoretischen Erwägungen verbunden werden. Hier kommen auch die meisten Abbildungen zum Einsatz. Der zweite Teil überrascht dann geradezu mit einer sehr peniblen, um nicht zu sagen: phasenweise langatmigen und vornehmlich deskriptiven Darstellung des Skandals um den Archivdieb Karl Hauck. Der dritte Teil ändert wieder die Tonlage – nun in Richtung Geschichtstheorie.

Die größten Probleme resultieren jedoch aus der mangelnden Kontextualisierung. Mit vielen Fragen wird die Leserschaft nicht nur allein gelassen, sie werden noch nicht einmal wirklich erörtert, vielmehr (vermeintlich) umstandslos vorausgesetzt: Warum konzentriert sich Wimmer auf den Zeitraum 1880 bis 1945 (der erst auf S. 291 als solcher genannt wird), vor allem dann auf die Weimarer Republik? Was macht Heinrich Otto Meisner und Karl Hauck so bedeutsam, dass sie zu den zentralen Figuren der Darstellung aufsteigen? Und wenn Meisner so wichtig ist, warum wird seine Biographie dann in einer Fußnote nahezu versteckt (S. 19)? Inwiefern sind sie repräsentativ – und für was? Hätte man nicht auch andere Vertreter der Archivwissenschaft und andere Diebe von Archivgut heranziehen können? Implizit lassen sich diese Fragen aus der Darstellung durchaus (ungefähr) beantworten, nur hätte man es gern vom Autor selbst expliziert bekommen. Entsprechende Hilfen sucht man indes vergeblich. Dadurch schwächt sich die Argumentation des Buchs selbst, denn die unzureichende Kontextualisierung lässt die gewählten Fallbeispiele fast beliebig erscheinen.

Ein weiterer Grund für die Verwirrung, die beim Lesen aufkommen kann, ist die häufige Verwendung unbestimmter Artikel oder der Einsatz von Abstrakta, die vor allem die handelnden Personen eher verschleiern als verdeutlichen. Da ist häufig von „einem Archivar“ oder „einem Historiker“ die Rede, anstatt deutlich zu machen, mit wem wir es zu tun haben. Besonders unangenehm fällt dies im zweiten Teil über den Archivaliendieb Hauck auf. Wimmer schreibt immer wieder recht geheimnisumwittert von „dem Dieb“, „dem Historiker“, „dem Spezialisten“, bevor er nach 15 Seiten Text endlich mit dem Namen herausrückt. Soll dadurch tatsächlich so etwas wie Spannung erzeugt werden? Die geschichtswissenschaftliche Dissertation als Krimi? Sollte das die Intention gewesen sein, ist der Plan nicht gelungen.

Ein anderes Manko ist der Einsatz von Abbildungen. Insbesondere im ersten Teil übernehmen sie eine gewichtige Rolle, werden aber teilweise unmotiviert eingebaut. Sie haben zwar einen Bezug zum Text, werden indes nicht erläutert und unterstreichen die Argumentation auch nicht. Es soll wohl lediglich illustriert werden, wie ein Archiv oder wie Archivare ‚so aussehen‘. (Dies trifft insbesondere auf die Abbildungen 1, 4, 5, 7, 8, 9, 14 und 15 zu.) Man kann ganz leicht die Gegenprobe machen: Würden diese Abbildungen fehlen, hätte man keinerlei Information verloren.

Erläuterungen zum Gesamtvorhaben werden wie gesagt erst am Schluss des Buchs gegeben – wo es eigentlich schon zu spät ist. Das ist schade, weil das Buch damit nicht nur die Möglichkeiten eines Themas verschenkt, das zahlreiche Erkenntnisse verspricht (als ähnlich angelegtes, aber ungleich gelungeneres Buch ist die brillante Studie „Akten“ von Cornelia Vismann zu nennen1), sondern weil es mehr als genug Ansätze gibt, die dieses Buch zu einem überzeugenden hätten machen können: Ausführungen zur Provenienz, zur Archivsprache, zum Fetischcharakter von Akten und einige andere mehr lassen wichtige Einsichten aufblitzen – die ohne ausreichende Rahmung aber an Bedeutungskraft verlieren.

Anmerkung:
1 Cornelia Vismann, Akten. Medientechnik und Recht, Frankfurt am Main 2000 (vgl. Robert Meier: Rezension zu: Vismann, Cornelia: Akten. Medientechnik und Recht. Frankfurt a.M. 2000, in: H-Soz-u-Kult, 21.04.2001, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=1088> [12.12.2012]).