Cover
Titel
Reform und Revolte. Politischer und gesellschaftlicher Wandel in der Bundesrepublik Deutschland vor und nach 1968


Herausgeber
Wengst, Udo
Reihe
Zeitgeschichte im Gespräch 12
Erschienen
München 2011: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
126 S.
Preis
€ 16,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Susanne Dengel, Historisches Institut, Universität des Saarlandes

Die Protestgeschichte der 1960er-Jahre stellt ein zentrales und vielfach umstrittenes Thema der zeitgeschichtlichen Forschung dar. Insbesondere um das Jubiläumsjahr 2008 erschienen zahlreiche Werke, die sich mit der Studentenbewegung und der Außerparlamentarischen Opposition (APO) auseinandersetzten.1 Abschließende Antworten auf die Frage nach dem Zäsurcharakter von „1968“ konnten diese Studien aber nicht geben. Der Sammelband „Reform und Revolte“ ist vor diesem Forschungshintergrund zu lesen. Er präsentiert in knapper Form die Ergebnisse des gleichnamigen Forschungsprojektes, angesiedelt am Münchener Institut für Zeitgeschichte. Wie der stellvertretende Direktor des Institutes und Herausgeber des Bandes Udo Wengst in der Einleitung erläutert, ging es dem Forschungsprojekt darum, zu klären, „ob die Ereignisse um das Jahr 1968 im Wesentlichen schon die Folge eines früher einsetzenden gesellschaftlichen Wandels waren, der dann in manchen Sektoren von Staat und Gesellschaft eine gewisse Beschleunigung erfuhr, oder ob tatsächlich erst die von ‚1968‘ ausgehenden Anstöße einen Reformschub bewirkt haben“ (S. 8). Zur Untersuchung der Fragestellung wurden die Themenfelder Zivildienst (Patrick Bernhard), Entwicklungshilfe (Bastian Hein), Hochschulpolitik in Bayern und Hessen (Anne Rohstock), kommunale Kulturpolitik in Frankfurt am Main (Manfred Kittel) und neue Frauenbewegung in München (Elisabeth Zellmer) ausgewählt. Es handelt sich jeweils um Längsschnittuntersuchungen mit Schwerpunkt auf den 1960er- und 1970er-Jahren. Nach Angaben des Herausgebers sollten durch diese Wahl Themen auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene abgedeckt werden (S. 9). Die gesammelten Beiträge gehen auf Studien zurück, die inzwischen als Monografien erschienen sind.2

Vier der fünf Autoren beantworten die das Forschungsprojekt tragende Leitfrage klar. Drei von ihnen sprechen sich eindeutig gegen das Jahr 1968 als eindeutige Zäsur aus: Bernhard schließt nach der Untersuchung der Motive der Zivildienstverweigerer, dass „die Agitationen der APO […] als Ursache für die vielfältigen Wandlungsphänomene im Zivildienst ausscheiden“ (S. 21). Stattdessen verweist er auf einen bereits Mitte der 1960er-Jahre eingesetzten „Wertewandel“. Hein stützt diese These eines langfristigeren „Wertewandels“ und argumentiert am Beispiel der Entwicklungshilfe, dass weder „1968/69“ noch die „68er“ „alles verändert“ hätten (S. 43). Rohstock folgt der Argumentationsrichtung und schreibt, dass die Revolten an den Universitäten viel geringere Auswirkungen auf die Reform an den Universitäten gehabt hätten als bislang in der Forschung angenommen (S. 45f.). Kittel äußert sich hingegen nur indirekt zur Zäsurthese, indem er von einem Scheitern des „Demokratisierungspostulates“ spricht. Gescheitert sei es, da erstens die Institutionen gegenüber dem Veränderungsanspruch der Protestbewegung weitgehend resistent gewesen seien und zweitens die Umsetzung des Partizipationsanspruchs zu „inhumanen“ Zuständen geführt habe (S. 74). Nur Zellmer kommt zum Ergebnis: „Die neue Frauenbewegung ist ohne ‚1968‘ nicht denkbar, denn die Revolte offerierte viele Chancen, unmittelbar politisch tätig zu werden“ (S. 77). Da der Band nach Angaben von Herausgeber Wengst dazu dienen soll, die Ergebnisse des Forschungsprojektes zusammenzufassend zu diskutieren (S. 9), folgen auf die Einzelstudien Kommentare von Axel Schildt3 und Ingrid Gilcher-Holtey.4

Das Urteil über den Band fällt gemischt aus. Positiv anzumerken ist die Themenauswahl, die dem Leser in knapper (126 Seiten) und gut lesbarer Form einen Einblick in ganz unterschiedliche gesellschaftspolitische Felder auf Lokal-, Landes- und Bundesebene gewährt. Eine internationale Perspektive, die sich in der Forschung zu „1968“ in den letzten Jahren durchgesetzt hat, bietet der Band mit seiner klaren Ausrichtung auf die Bundesrepublik aber nicht. Negativ fällt auf, dass der Herausgeber Udo Wengst in seiner zu knapp geratenen Einleitung von weniger als vier Seiten zu definieren versäumt, wie das Forschungsprojekt „1968“ begrifflich versteht. Dies führt zu einer Vielfalt von Begriffen, die in den fünf Studien nebeneinander herlaufen: So spricht Bernhard etwa von der „Außerparlamentarischen Opposition“ (S. 11f.), Hein von der „Jugendrevolte von ‚68‘“ (S. 31), Rohstock von der „Studentenrevolte“ (S. 45), Kittel von der „‚68er‘-Bewegung“ (S. 61) und Zellmer nennt Akteursgruppen an den Münchener Universitäten (S. 77). Die Einleitung hätte vorab eine Begriffsklärung bieten sollen oder alternativ die Vielfalt der Begriffe, die der Leser ja erst nach und nach entdeckt, vermitteln sollen. Wie soll man über Auswirkungen von „1968“ diskutieren, wenn man keinen klar umrissenen Begriff dieses Phänomens zugrunde legt?

Hilfreich sind vor diesem Hintergrund die Kommentare von Schildt und Gilcher-Holtey, die die Qualität des Bandes deutlich aufwerten. Beide Autoren setzen sich ausführlich mit der Begriffsproblematik und den damit einhergehenden Forschungsproblemen auseinander und kompensieren damit die konzeptionellen Mängel der Einleitung. Während Schildt die Themensetzung des Forschungsprojektes für überzeugend hält (S. 96), übt Gilcher-Holtey daran Kritik. Sie fragt zum Beispiel, warum der Zivildienst ausgewählt wurde, obwohl die Protestbewegung dazu keine Reformideen formulierte (S. 108). Schildt betrachtet zwar grundsätzlich die Einordnung von 1968 in einen „längeren politisch-kulturellen Wandlungsprozess“ für sinnvoll, versteht aber 1968 als „Chiffre für die Hochphase“ dieser Entwicklung (S. 94) und spricht sich gegen eine systematische Minimierung (S. 95) aus. Besonders hart, aber treffend, kritisiert er den Beitrag von Kittel zur kommunalen Kulturpolitik. Kittel sei nicht unparteilich, da er auf typische Argumente von Demokratisierungsgegnern zurückgreife, indem er wiederholt auf die Zeitintensivität von Mitbestimmungsmodellen verweise (S. 98). Gilcher-Holtey würdigt zunächst kurz die Leistungen des Münchener Forschungsprojektes. Diese sieht sie darin, dass die Fallstudien „Machtkämpfe“ in Institutionen, die Veränderung aber auch den Widerstand von Institutionen gegenüber Reformen aufzeigen (S. 111). Mehrheitlich folgt dann aber Grundsatzkritik: Gilcher-Holtey plädiert für eine Einordnung der Studien in die soziale Bewegungsforschung, denn die Autoren der Fallstudien hätten mehrheitlich nicht reflektiert, wie die Wirkungskraft der „68er“-Bewegung überhaupt zu untersuchen sei (S. 115).

Um zusammenzufassen: Der Sammelband präsentiert einen pointierten Überblick über die Ergebnisse des Forschungsprojektes „Reform und Revolte“. Die Themensetzung der Fallstudien überzeugt – eine internationale Perspektive auf das Forschungsfeld eröffnet sie aber noch nicht. Für den Leser liegt der Ertrag des Sammelbandes nicht unbedingt darin, dass der Zusammenhang von Revolte und Reform eindeutig geklärt wird. Vielmehr bietet die Kombination von Fallstudien und Kommentaren einen interessanten Einblick in begriffliche und methodische Fragen. An dieser Stelle sollten zukünftige Forschungen anknüpfen. Damit hält der Band letztlich doch, was er verspricht – Zeitgeschichte im Gespräch!

Anmerkungen:
1 Philipp Gassert: Das kurze „1968“ zwischen Geschichtswissenschaft und Erinnerungskultur: Neuere Forschungen zur Protestgeschichte der 1960er-Jahre, in: H-Soz-u-Kult, 30.04.2010, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/2010-04-001> (03.12.2012).
2 Vgl. Patrick Bernhard, Zivildienst zwischen Reform und Revolte. Eine bundesdeutsche Institution im gesellschaftlichen Wandel 1961–1982, München 2005; vgl. Thomas Widera: Rezension zu: Bernhard, Patrick: Zivildienst zwischen Reform und Revolte. Eine bundesdeutsche Institution im gesellschaftlichen Wandel 1961-1982. München 2005, in: H-Soz-u-Kult, 13.12.2005, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2005-4-159> (03.12.2012); Bastian Hein, Die Westdeutschen und die Dritte Welt. Entwicklungspolitik und Entwicklungsdienste zwischen Reform und Revolte 1959–1974, München 2006; vgl. Corinna R. Unger: Rezension zu: Hein, Bastian: Die Westdeutschen und die Dritte Welt. Entwicklungspolitik und Entwicklungsdienste zwischen Reform und Revolte 1959-1974. München 2005, in: H-Soz-u-Kult, 25.07.2006, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2006-3-058> (03.12.2012); Anne Rohstock, Von der „Ordinarienuniversität“ zur „Revolutionszentrale“? Hochschulreform und Hochschulrevolte in Bayern und Hessen 1957–1976, München 2010; vgl. Moritz Mälzer: Rezension zu: Rohstock, Anne: Von der „Ordinarienuniversität“ zur „Revolutionszentrale“? Hochschulreform und Hochschulrevolte in Bayern und Hessen 1957-1976. München 2010, in: H-Soz-u-Kult, 11.11.2010, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2010-4-105> (03.12.2012); Manfred Kittel, Marsch durch die Institutionen? Politik und Kultur in Frankfurt nach 1968, München 2011; vgl. Cordula Obergassel: Rezension zu: Kittel, Manfred: Marsch durch die Institutionen? Politik und Kultur in Frankfurt am Main nach 1968. München 2011, in: H-Soz-u-Kult, 06.04.2012, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2012-2-018> (03.12.2012); Elisabeth Zellmer, Töchter der Revolte? Frauenbewegung und Feminismus der 1970er Jahre in München, München 2011.
3 Vgl. Axel Schildt, Rebellion und Reform. Die Bundesrepublik der Sechzigerjahre, Bonn 2005; Ders. / Detlef Siegfried / Karl Christian Lammers (Hrsg.), Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, 2. Auflage Hamburg 2003.
4 Vgl. Ingrid Gilcher-Holtey, Die 68er Bewegung. Deutschland, Westeuropa, USA, München 2008; Dies., „Die Phantasie an die Macht“. Mai 68 in Frankreich, Frankfurt am Main 1995; Dies. (Hrsg.), 1968 – vom Ereignis zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft, Göttingen 2001.

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